Demokratie im Umbruch
Woran liegt es, dass die Parteien-Politik oft in Sachfragen versagt, die für alle Menschen relevant sind? Was braucht es, damit Politik ihrer Verantwortung gerecht werden, und ihre Aufgaben mit guten Ergebnissen für die Bevölkerung und ihre Mitwelt wahrnehmen kann?
Wenn Altes zu Ende geht, entfaltet das Leben seine unbändige Kraft zur Erneuerung. Foto: Rasa Kaspariciene
Wenn Altes zu Ende geht, entfaltet das Leben seine unbändige Kraft zur Erneuerung. Foto: Rasa Kaspariciene

Die Welt scheint im Grossen wie im Kleinen immer deutlicher aus den Fugen zu geraten. Was und wie es war, ist nicht mehr. Was und wie es sein wird, noch nicht klar. Wandel ... und dies nicht nur beim Handel.

Die «gute alte Zeit» (die es ohnehin nie gab) gibt es nicht mehr. Und «die schönere Welt von morgen» lässt auf sich warten. Wir leben in einem Zwischenraum – in einem scheinbaren Niemandsland – in dem vertraute Sicherheiten schwinden und oft die Vorstellung fehlt, dass und wie es gut für alle und für alles weitergehen kann. Der Wandel ist im Kleinen wie im Grossen mit Herausforderungen, jedoch auch mit Chancen verbunden.

Im Rahmen der parlamentarischen Parteiendemokratie sind politische Auseinandersetzungen vom Muster von Kampf und Krieg geprägt. Und dies auch ohne Waffen. Ob und wie es wohl gelingen mag, den Übergang von einer Politik, die im Prinzip nach diesem Muster organisiert ist, zu einer friedvollen Demokratie zu schaffen? Was können und mögen wir im Hier und Jetzt – gemeinsam und für alle lebensfreundlich verbunden – konkret wirksam dafür tun?

Nachdem ich selber 12 Jahre als Politiker nach besten Kräften, aber grundsätzlich wirkungslos, versucht habe, das System von innen zu verändern, scheint es mir auch von aussen als hoffnungslos und nicht mehr ernst zu nehmen. Die Situation nehme ich oft in etwa so wahr, wie sie Friedrich Nietzsche bereits 1882 im dritten Buch seiner fröhlichen Wissenschaft wie folgt beschrieben hat:

Abseits. – Der Parlamentarismus, das heisst die öffentliche Erlaubnis, zwischen fünf politischen Grundmeinungen wählen zu dürfen, schmeichelt sich bei jenen vielen ein, welche gern selbständig und individuell scheinen und für ihre Meinungen kämpfen möchten. Zuletzt aber ist es gleichgültig, ob der Herde eine Meinung befohlen oder fünf Meinungen gestattet sind. – Wer von den fünf öffentlichen Meinungen abweicht und beiseite tritt, hat immer die ganze Herde gegen sich.

Das Ende der Demokratie?

Unfreundliche Tendenzen gegenüber der Verfassung demokratischer Staaten haben das Vertrauen in die noch immer als modern gedachte Regierungsform Demokratie erschüttert. Durch die gewaltige Macht der Wirtschaft und das Aufkommen von autokratischen Staaten verschwindet das Element der Demokratie heute weltweit immer mehr. Steuern wir auf eine postdemokratische Ära zu? Oder ist es möglich, dass diese Staatsform neu gedacht und mit neuen Impulsen durchdrungen werden kann und sollte?

Ob offen und mit brutaler Gewalt, oder ob versteckt und mit struktureller Gewalt: Die Welt ist voller Chaos, Krisen und Kriege. Insbesondere inszeniert vom alten Herrschaftsdenken sowie bewirtschaftet von gigantisch Mächtigen und von schwer Reichen. Das ist und macht krank. Ohne Rücksicht auf Verluste wird mit Kollapsen oder gar Kriegen versucht, Probleme zu lösen. Sie werden aber in der Regel nur noch grösser.

Viel Lärm von Medien, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft gehört zum Sound der Angst in den Köpfen von immer mehr Menschen. Wenn sie deshalb Herrschaft akzeptieren oder ihr gar glauben und vertrauen, werden Menschen ein Teil davon. Ihr Gott ist die Mehrheit. Sie hat immer Recht. Und das auch dann, wenn es nicht für alle und für alles das Richtige ist.

Die Mehrheit als Damoklesschwert?

Um den Mehrheitskult rein zu halten, werden unliebsame Meinungen und unerwünschte Informationen mit sogenannten Faktenchecks zu «Fake News» oder «Verschwörungstheorien» gestempelt. Weil und wenn sie die Wahrheit der Herrschaft oder der Mehrheit in Frage stellen, werden Realitäten nicht als solche anerkannt. Kognitive Dissonanzen werden vermieden, weil und wenn sie ein anderes Handeln bedingen würden.

Um Ängste zu verdrängen, werden toxische Hoffnungen geschürt. Hoffnungen, die vielen Menschen wie eine Droge dazu dienen sollen, im Schneckenhaus und faul bleiben zu können, sich nicht mit der Realität auseinandersetzen und nichts Mutiges tun zu müssen. Hopium: Hope is Dope!

Die parlamentarische Parteiendemokratie ist mit ihrem Kampfmodus «Gewinner oder Verlierer» ein Teil des Problems. Mit ihrem aufwändigen und mediengeilen «Links-Rechts-Macht-Schach» kann sie kaum zu Entscheidungen finden, die zu qualifizierten und nachhaltig zukunftsfähigen Lösungen führen, die alle und alles umfassen. Dafür braucht es eine neue Politik.

Man muss das Wahre immer wiederholen, weil auch der Irrtum um uns her immer wieder gepredigt wird, und zwar nicht von einzelnen, sondern von der Masse. In Zeitungen und Enzyklopädien, auf Schulen und Universitäten, überall ist der Irrtum oben auf, und es ist ihm wohl und behaglich, im Gefühl der Majorität, die auf seiner Seite ist. 
(Johann Wolfgang von Goethe)

Mit ihren (un)heimlichen Helfershelfern, den Macht-Schach-Parteien, wirtschaften Oligarchen aller Welt die Demokratie kaputt. Wo befiehlt, wer bezahlt. Ein System, das unter anderem auch in der Schweiz mitunter Mehrheiten generieren kann, die nicht das Gelbe vom Ei sind.

Chaos als Herrschaftsform?

Ob MAGA (Make Amerika Great Again) oder MEGA (Make Europe Great Again): Alles nur noch Make-up für eine Demokratie, die eigentlich keine (mehr) ist. Wo toxischer Positivismus herrscht, wenn schön geredet wird, was eigentlich Gift und scheusslich ist.

Europa ist in vielerlei Hinsicht ganz und gar nicht mehr up to date. Und jetzt kommt dieser chaotisch wirkende, herrschsüchtige USA-Präsident Donald Trump und bringt dies durch seinen Vize J.D. Vance krass zum Ausdruck. Ihm ist es mit dem Vorwurf mangelnder Meinungsfreiheit in Europa an der sogenannten Sicherheitskonferenz in München gelungen, das Terrain zu beherrschen.

Wie geht Europa mit dem wachsenden Druck um, der nicht nur von aussen, sondern auch von innen kommt: ökonomisch, sozial, politisch … je für die ganze EU, aber auch mehr oder weniger einzeln für jeden Staat, inklusive die Schweiz? Ein Druck, der unter anderem auch entsteht, weil Europa, einzelne Staaten und auch die Schweiz an Bisherigem festhalten – und zugleich spüren, dass es so nicht weitergehen kann.

Wird das Leben beben oder das Beben leben?

Wenn erstarrte Systeme aufbrechen, entsteht Angst, aber es kann auch kreativ nutzbarer Raum und neue Lebendigkeit frei werden. Wenn Altes zu Ende geht, entfaltet das Leben seine unbändige Kraft zur Erneuerung. Es bestehen Herausforderungen, die es zu meistern, aber auch Chancen, die es zu nutzen gilt. Auch für die Schweiz!

Deutschland hat von aussen gesehen vor kurzem bei den Bundestagswahlen bürokratisch-technisch betrachtet ein nahezu perfektes Parteien-Macht-Schach gespielt: bis auf mindestens drei Stellen hinter dem Komma. Von innen betrachtet dürften diese Wahlen erneut zu einer Politik führen, die wahrscheinlich kaum für alle substanziell wertvolle Entscheidungen zustande bringen wird: weil und wenn ein gemeinschaftliches Commitment fehlt, das es dafür von Links über die Mitte bis nach Rechts braucht.

Das Geheimnis des Wandels liegt darin, nicht das Vergangene zu bekämpfen, sondern alle Energie darauf zu richten, das Neue aufzubauen. (Sokrates)

Der Arzt und Autor Martin Grassberger beschreibt in seinem Buch «Regenerativ» (1) den Übergang vom blossen Erhalten des Bisherigen in eine Chaosphase als hochproduktiv. Ja, Chaos kann auch zerstören und Leiden verursachen. Doch je länger versucht wird, starr das Alte zu erhalten, desto grösser ist die Gefahr, dass nur ein kleiner Schock das ganze System zum Kippen bringt – ein Dominoeffekt mit ungewissem Ausgang – und mit noch mehr Leiden.

Entscheidend ist also, dass wir Chaos als Teil der grösseren Zyklen des Lebens begreifen. Als eine Einladung, sich auf das wirklich Wesentliche zu besinnen. Und den Mut zu entwickeln, Chaos in Experimentierräumen zu nutzen, damit Unbekanntes kokreativ erprobt und Neues wachsen kann.

Im Chaos regenerativ werden

«Die Menschheit weiss so viel wie noch nie zuvor. Doch hilft ihr das gegenwärtig nur wenig bei der Bewältigung der vielen miteinander verzahnten, ökologischen, gesundheitlichen, gesellschaftlichen, geopolitischen oder ökonomischen Krisen,» meint Grassberger. Denn Wissen sei gut. Aber Weisheit wäre besser. Und Klugheit. Der beiden letzteren Kompetenzen bedürfe es nämlich in unserer immer komplexer werdenden Welt, um die vielen Fakten und Zahlen, die die Wissenschaften liefern, richtig interpretieren und sinnvoll nutzen zu können: «Unser Gehirn klammert sich verzweifelt an Zahlen, und wir sind zunehmend blind für andere Phänomene in Ökologie und Gesellschaft. Von Zahlen geblendet, können wir die Vielfalt von Natur, Kultur und deren Verbindungen nicht mehr sehen.»

Grassberger will sein Buch in erster Linie als Einladung verstanden wissen, gewohnte und oft nur wenig hinterfragte Sichtweisen auf unser Dasein loszulassen und sich neuen, zum Teil aber auch alten und vergessenen Ansichten über unsere Existenz auf diesem Planeten zu öffnen: «Der gegenwärtige Zustand des Anthropozäns erfordert, dass wir über unser bisheriges Denken hinausgehen und uns komplexem Systemdenken und ganzheitlichen Sichtweisen auf das Leben zuwenden. Dazu gehört auch die Akzeptanz, dass die Lösungen nicht immer in technischem Fortschritt und wirtschaftlichem Wachstum zu suchen sind.» Das neue Paradigma laute daher: «regenerativ». Denn die natürlichste Lösung könnte in der Natur selbst zu finden sein. «Die von der Natur gesetzten Rahmenbedingungen sind das Mass aller Dinge und damit auch der Massstab, nach dem wir uns stets richten sollten», ist er überzeugt.

Grassberger führt in seinen Überlegungen aus, wie dieser fundamentale Wertewandel seiner Ansicht nach die menschliche Gesundheit, Gesellschaft und Wirtschaft regenerieren und ein nachhaltiges Gedeihen ermöglichen kann: «Wenn wir die Art und Weise ändern, wie wir die Dinge betrachten, ändern sich auch die Dinge, die wir betrachten.» Es gehe um nichts weniger als die Annäherung an ein neues ökologisches Zeitalter: um den schrittweisen Übergang vom Anthropozän zum Ökozän.

«Wir wachsen in direktem Verhältnis zu dem Mass an Chaos, das wir aushalten und auflösen können.» (Ilya Prigogine, 1917-2003). Er sah im dissidenten Chaos eine Schlüsselrolle, « … [es] ist nämlich ein Mittelding zwischen dem reinen Zufall und der redundanten Ordnung», und damit die Bedingung zur Entstehung von Information in biologischen Systemen.

«Der erste Schritt, um uns dem Untergang zu entziehen, besteht darin, nicht mehr an ihn, sondern daran zu glauben, dass wir uns verbessern können, dass wir eine Zukunft haben. Das bedeutet auch, aktiv am Fortbestand dieser Gesellschaft und ihrer Kultur zu arbeiten.» (Hauke Ritz im Interview mit Transition News) (2)

Wo die Welt auf Gemeinschaft eingestellt ist, wird zusammengearbeitet: Und es soll nur Gewinner geben. Zu meiner grossen Freude begegnen mir immer mehr Projekte, die gemeinwohlorientiert auf einem friedvollen Weg unterwegs sind.

Vom Übergang zum Wir

Wirkliches Zuhören, sagt Bernhard Pörksen, sei Anerkennung und Akzeptanz von Verschiedenheit, Suche nach dem Verbindenden und Klärung des Trennenden, kurz: die gemeinschaftliche Erfindung einer Welt, die überhaupt erst im Miteinander-Reden und Einander-Zuhören entsteht. (3)

In einer Welt, die auf Kampf eingestellt ist, wird gekämpft. Und es gibt Gewinner und Verlierer. Eine Mehrheit der Bevölkerung und der von ihr gewählten Politikerinnen und Politiker sind nach wie vor auf einem solchen Kampf- und Kriegspfad. Das ist mir bewusst.

Vieles, was mir in unserer Welt als schwierig oder gar grauenvoll erscheint, sehe ich zumindest zum Teil durch eine Situation begründet, in der sich Menschen als traumatisiert und als verunsichert erleben. Bei einem online Kurs «Die Sprache des Nervensystems - 11 Tage für mehr Balance und Lebensfreude» mit Verena König waren wir vor kurzem gegen 5’000 (!) Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Vorab Menschen, die sich bewusst als traumatisiert wahrnehmen und aktiv eine Aufarbeitung und ihre Heilung anstreben. (4)

Viele individuell und/oder kollektiv Traumatisierte inszenieren ihre Traumata hingegen unterbewusst mehr oder weniger fremd- und/oder selbstzerstörerisch. Wir leben in einer Welt, wo Mächtige – unterbewusst mitunter getrieben von ihren Traumata - Heerscharen von anderen von Traumata Getriebenen ins Elend von Armut, Hunger, Krankheit, Kriegen und Zerstörung treiben. Wie es wohl nach dem Zusammenbruch der grossen Systeme weiter gehen mag?

Aufbruch zur neuen Kultur

«Aufbruch zur neuen Kultur - Von der Verweigerung zur Neugestaltung: Umrisse einer ökologischen und menschlichen Alternative». (5) Dies der Titel eines Buches von Dieter Duhm, er war 1995 Mitbegründer des Friedensforschungszentrums «Tamera» in Portugal. Mit dem Ziel, globale Friedensarbeit zu verbinden mit dem Aufbau neuer Lebensmodelle; und Plätze zu schaffen, auf denen Menschen mit allen Mitgeschöpfen in Kooperation und gegenseitiger Unterstützung zusammenleben. Bereits vor über 30 Jahren geschrieben, hat Dieter Duhm der Neuausgabe von 2011 folgende einleitende Botschaft mit auf den weiteren Weg gegeben:

Gewalt ist die Eruption blockierter Lebensenergien. Pazifismus ist nicht die sanfte Beschwichtigung der Gewalt und nicht die Beilegung von Konflikten durch Appelle zum Frieden. Wirklicher Pazifismus ist der radikale und intelligente Selbsteinsatz des Menschen für die Befreiung aller in ihm liegenden Lebensenergien und Schöpferkräfte. Pazifismus ist der fundamentale Kampf gegen jede Art von Unterdrückung der menschlichen Sehnsucht. Pazifismus ist kompromisslose Parteinahme fürs Lebendige. Pazifismus ist Militanz, nicht unbedingt politische Militanz, aber Militanz in der Erringung innerer Wahrhaftigkeit und Freiheit, denn Pazifismus ist die Versöhnung des Menschen mit sich selbst.

Mögen wir uns ganz, wohl geborgen und frei fühlen. Wo Schmerz ist, möge Heilung werden.

Quellen und Links zu mehr Infos

(1) Regenerativ – Aufbruch in ein neues ökologisches Zeitalter, Martin Grassberger, 2024

(2) Ein Plädoyer für die Souveränität Europas - ein Interview mit Hauke Ritz, 2024, Link: transition-news.org/ein-pladoyer-fur-die-souveranitat-europas?var_mode=calcul

(3) Zuhören. Die Kunst, sich der Welt zu öffnen, Bernhard Pörksen, 2025

(4) Mehr zu Verena König und ihren Angeboten für kreative Transformationen mit folgendem Link: www.verenakoenig.de/

(5) Aufbruch zur neuen Kultur, Dieter Duhm, 2011, Link: terra-nova.earth/verlag-meiga/wp-content/uploads/sites/6/2022/05/Aufbruch_free-copy.pdf

Ueli Keller

Ueli Keller

Ueli Keller ist ausgebildet als Lehrer und als Heilpädagoge, als Supervisor- und Organisationsentwickler sowie als Bildungswissenschaftler. Er war 45 Jahre in mehreren Berufsfeldern lohnerwerbstätig. Seit 2012 pensioniert, ist er als frei schaffender Bildungs- und Lebensraumkünstler mit Herz, Kopf, Hand und Fuss in diversen Tätigkeitsfeldern unterwegs. Unter anderem europaweit als Koordinator des Netzwerks «Bildung & Raum» sowie als Botschafter für Neue Politik (www.einestimme.ch).

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