Der Mythos des Normalen
Was ist normal? Kann es mit dem Weiter-so-wie-bisher gut gehen? Die Samstags-Kolumne.
Gabor Maté wurde 1944 in Ungarn als Kind jüdischer Eltern geboren. Seine Grosseltern mütterlicherseits wurden in Auschwitz ermordet. Seine Mutter übergab ihn im Alter von einem Jahr an eine nicht-jüdische Frau, um ihn vor dem Holocaust zu retten. Sie konnte jedoch der Deportation nach Auschwitz entkommen und nahm ihr Kind fünf Wochen später wieder auf.
Die durch die Trennung erlittene Traumatisierung verfolgte Gabor sein Leben lang. Er wurde Arzt und versuchte als solcher, anderen Traumatisierten zu helfen. Seine Bücher zu Themen wie ADHS, Trauma, Süchte und Autoimmunkrankheiten erreichten ein Millionenpublikum. Das Buch Der Mythos des Normalen – Wie unsere Gesellschaft uns krank macht und traumatisiert, von 2023 setzt im Werk von Gabor Maté neuen Schwerpunkt, indem es vor allem die Traumata und Süchte unserer ganzen Gesellschaft ins Auge fasst.
Es ist kein Zeichen geistiger Gesundheit, gut angepasst an eine zutiefst kranke Gesellschaft zu sein.
«Wir behandeln die Falschen»
Was ist normal? ist die zentrale Frage dieses Buchs. Dazu passt Jiddu Krishnamurtis Diktum: «Es ist kein Zeichen geistiger Gesundheit, gut angepasst an eine zutiefst kranke Gesellschaft zu sein.» Auch die Bücher von Ronald D. Laing, einem der Begründer der Antipsychiatrie passen hierzu sowie das Buch Irre - wir behandeln die Falschen: Unser Problem sind die Normalen, von Manfred Lütz. Ebenso die Aussage meines desillusionierten Hausarztes, als ich ihn auf unseren Gesundheitsminister ansprach: «Der gehört in Behandlung», war seine lapidare Antwort.
Die Corona-Zeit hat die Kluft zwischen dem, was «die Normalen» für richtig halten und denen, die daran zweifeln, noch mehr vertieft. Die Bereitschaft grosser Teile der deutschen Gesellschaft, nun wieder «kriegstüchtig» zu werden, tut ein Übriges zur Vertiefung der Risse in unserer immer orientierungsloser werdenden Gesellschaft.
Geheuchelte journalistische Ethik
Die SWR-Doku Krank durch Meditation? ist ein weiteres Beispiel, wie gut meinende Redakteure unserer Öffentlich-Rechtlichen und Leitmedien ihre Zuschauer, Hörer und Leser vor den Gefahren der Alternativen warnen. Die Doku stürzt sich auf die seltenen Fälle, die bei Mediation schief gehen können – ja, das gibt es – und berichtet wohlwollend, wie sie dann von Psychiatern «gerettet» wurden.
Bobby Langer, ein mir gut bekannter Journalist, der seit vierzig Jahren meditiert und Meditationen anleitet, kommentierte die SWR-Doku mit den Worten: «Ja, die Leitmedien. Sie haben eine unfassbare (auch im wörtlichen Sinn) Macht, die Wirklichkeit zurechtzuzimmern, wie’s ihnen passt. Und immer tragen sie die journalistische Ethik vor sich her wie der schwule Pfarrer die Monstranz».
Risiken und Nebenwirkungen
Nein, nicht die Meditationen sind eine Gefahr. Es sind die Nicht-Meditierer, vor denen unsere Gesellschaft geschützt werden muss. Sie sind es, die uns in Kriege und kollektive Wahnvorstellungen führen und uns in einer von Süchten beherrschten Gesellschaft gefangen halten. Die Risiken und Nebenwirkungen des Nicht-Meditierens und Verzichts auf Innenschau sind um ein Vielfaches grösser als die des Meditierens und der Introspektion.
Auch der ARD-Bericht über Sukadev Volker Bretz und den Yoga-Vidya Ashram in Bad Meinberg richtet sich auf das Unschöne, das man bei entsprechender Intention immer finden kann. Damit denunziert die ARD wieder einmal einen gesellschaftlichen Trend, der dem Weiter-so-wie-bisher zuwiderläuft: den Trend zum Yoga. Auch in diesem Film tragen seine Macher die journalistische Ethik wie eine Monstranz vor sich her.
Sukadev ist ein Herzblut-Yogi mit der Vision, diese spirituelle Praxis bestmöglich und weit in der Welt zu verbreiten. Als solcher hat er ein Händchen auch fürs Unternehmerische, was leider allzu selten ist in der Welt der Yogis. In dem Film «Cash & Karma» wird er jedoch als skrupellos seine Mitarbeiter – die Karma-Yoga praktizierenden Sevakas – Ausbeutender dargestellt. Nirrens Dekonstruktion setzt diesem unfairen ARD-Bericht, der das Unternehmen Yoga-Vidya schwer geschädigt hat, eine überfällige Berichtigung entgegen.
Weiter so wie bisher?
Kann es mit dem Weiter-so-wie-bisher gut gehen? Mir kommt unsere heutige weltpolitische Stimmung ein bisschen so vor wie die Monate in Europa vor dem Ersten Weltkrieg, als im August 1914 noch grosse Kriegsbegeisterung herrschte. Der Erste Weltkrieg setzte sich dann im Zweiten gewissermassen fort. Der wiederum mündete in den Kalten Krieg.
Gorbatschows Auflösung des Warschauer Pakts im Jahr 1991 öffnete die Tür zu einer Weltfriedensordnung, die dann aber von den Falken in der NATO zur Osterweiterung genutzt wurde. Was Putin allmählich in eine ähnliche Lage brachte, wie die von US-Präsident Kennedy 1962, als die Sowjetunion auf Kuba Mittelstreckenraketen stationierte. So viel hier, sehr verkürzt und Putins Angriff von 2022 keineswegs entschuldigend, zur Vorgeschichte des Ukraine-Kriegs. Aus dem nun, wie in Remarques Roman Im Westen nichts Neues, aufgrund der Sturheit der Kombattanten beiderseits ein Stellungs- und Abnutzungskrieg geworden ist. Unter dem – eh klar – am meisten die Ukraine leidet, aber mit ihr die ganze Welt.
Mainstreamdämmerung
Die durchaus ein bisschen diversen Mainstreams der Kulturen der Welt beanspruchen die Wirklichkeit darzustellen, wie sie ist. Das Internet bietet jedoch zu viele auch glaubwürdige Quellen und Perspektiven, die zeigen, dass ein solcher Anspruch auf die Deutungshoheit über die Ereignisse und die Auswahl des Wesentlichen vermessen ist. Es entsteht eine multiperspektivische Welt. Mit der fortschreitenden Weltmachtdämmerung der USA wird diese auch eine multipolare Welt sein. Möge hieraus ein neuer Konsens entstehen über das, was als gut und akzeptabel gelten soll unter uns Bewohnern dieses Planeten. Und eine Exekutive, die – anders als die bisherigen Blauhelme – diesen Konsens schützen kann und das auch tut.
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