Der Tod in moderner Zeit

Auf der Flucht vor dem letzten Übergang

Auch der Tod ist nicht mehr, was er einmal war, nämlich unumstösslich und unbesiegbar. Wenn frühere Versuche, ihn zu überlisten, regelmässig fehlschlugen, erscheint das heute durchaus möglich und stellt seine Rolle in Frage.
 
Die Vorstellung, des Todes Herr zu werden, passt bestens zur modernen Macherideologie, die sich gerne selbst zum Mass aller Dinge macht. Aber selbst wenn wir dem Tod heute noch in letzter Minute einige Organe entreissen können, um sie anderen Sterbenden einzupflanzen, die wir damit vor dem Sterben bewahren wollen, bleibt seine Macht – bei genauerem Hinsehen – praktisch ungebrochen. Auch wenn sich in den USA immer mehr Menschen in letzter Minute lieber einfrieren lassen, als dem Tod in Würde zu begegnen, bleibt die Frage, ob das als wirklicher Sieg zu bezeichnen ist, oder nicht doch eher als eine besonders klägliche Form des absichtlichen Sterbens. Und es ist zu bezweifeln, dass die Seelen Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte neben den technischen mit flüssigem Stickstoff gefüllten Särgen ausharren werden, bis die Körper in ihren Behausungen eines fernen Tages wieder aufgetaut werden.

Verdrängung bis zum Geht-nicht-mehr
Da auch auf modernsten Intensivstationen keine wirklichen Endsiege über den grössten Feind der Menschen zu feiern sind, haben wir eine andere Strategie entwickelt: Wir verdrängen den Tod und schieben ihn so weit es nur geht aus unserem Gesichtsfeld, übersehen dabei aber die grossen Chancen, die der letzte Übergang des Lebens uns bieten würde.
Da wir mit allen Übergangsphasen beginnend von der Empfängnis über Geburt, Pubertät und Wechseljahre bis hin zum Tod heute Probleme haben, mag das nur weniger auffallen. Der Tod jedenfalls erscheint immer weniger Menschen als Lösung oder gar Erlösung, sondern vielmehr als Ende und Horror. Laut Umfrage glaubt die Mehrheit der Deutschen gar nicht mehr, überhaupt sterben zu müssen. Auf die Frage, ob sie lieber zu Hause oder in der Klinik sterben wollen, antworten ca. 90 Prozent der Befragten sinngemäss: «Wenn schon, dann zu Hause!»
Mit diesem «Wenn schon...» lassen sie durchblicken, wie wenig sie noch an die Macht des Todes glauben. Was auf den ersten Blick wie kollektive Verblödung wirkt, hat mit der massiven Verdrängungsstrategie der ganzen Gesellschaft zu tun.

Tod zur Unzeit
Das Problem dabei ist, wie bei allem Verdrängten, dass es im Schattenreich umso aktiver wird. So taucht der Tod dort wieder auf, wo wir ihn am wenigstens vermuten würden: in der freien und  angeblich schönsten Zeit des Tages, am Feierabend. So erlebt eine Mehrheit den Tod täglich, dramatisch und zur besten (Sende-)Zeit. Im Fernsehen tobt er auf möglichst spektakuläre Weise auf allen Kanälen durch die Wohnzimmer und feiert ungezählte, grausame Auftritte. Wenn er sich so durchs Hintertürchen einschleicht, ist das für den Fernsehkonsumenten wenig beunruhigend. Immer wieder und meist gleich mehrmals pro Film kann er sich nämlich beruhigt zurücklehnen und denken: «Das kann mir nicht passieren!» Weder muss er damit rechnen, von den Maschinengewehrsalven irgendwelcher Mafiosi durchsiebt zu werden, noch wird er bei einer Autojagd auf der Strecke bleiben. Die ausgefallensten und spektakulärsten Katastrophen mit Todesfolge überschwemmen via Bildschirm die Wohnstuben. Wer sich über Jahre und Jahrzehnte solche Szenen zu Gemüte führt, wird am Ende des Lebens mit tausenden von Todesbildern im letzten Gepäck völlig unvorbereitet und jämmerlich an der Schwelle zum Reich des Todes stehen. Damit soll dem Fernsehen keine Schuld zugeschoben werden, es ist nur Erfüllungsgehilfe des Schattens.

Fehlende Ausbildung des medizinischen Personals
Die zunehmende Verbannung des Todes ins Krankenhaus führt dazu, dass immer weniger Menschen das Sterben von Angehörigen miterleben. Entgegen dem ausdrücklichen Wunsch von 90 Prozent der Befragten findet Sterben heute überwiegend in Kliniken statt. Die Mehrheit der Betroffenen erlebt dort «den Anfang vom Ende» in Mehrbettzimmern, und sobald der Zimmernachbar das Nahen des Endes bemerkt, wird eine Schwester herbeigeklingelt, um das Bett des Sterbenden aus dem Zimmer zu schieben. Wenn auch meist nicht bewusst, werden die Sterbenden im wahrsten Sinne des Wortes abgeschoben: aus ihrem eigenen Zuhause ins Klinikzimmer und von dort wieder in ein Badezimmer oder gar auf die Gänge. Sterbezimmer sind in modernen Kliniken immer noch eine Ausnahme, denn leere Zimmer sind mit den Sparbemühungen der heutigen Zeit nicht vereinbar, und so wird das Badezimmer nicht selten zum letzten Ausweg und der Tod immer mehr verfremdet. Wenn auch noch die Angehörigen – obwohl sofort verständigt – nicht gleich erreichbar sind, ist manchmal niemand da, um den letzten grossen Übergang zu begleiten. Ärzte und Schwestern haben dafür meist weder Zeit, noch sind sie darauf vorbereitet. Während eines ganzen Medizinstudiums beschäftigt sich keine einzige Stunde mit Sterbebegleitung, denn Sterben wird vom medizinischen Personal als Niederlage empfunden und nicht zum Zuständigkeitsbereich gerechnet. Schon die Rhetorik von Klinikkollegen verrät das Dilemma. Da ist die Rede von «moribunden Patienten» und vom «Exitus (lat. Auszug) auf Zimmer X».

Horrorszenario Organentnahme
Trotzdem ist der Tod in den letzten Jahrzehnten durch die Transplantationsmedizin in den Mittelpunkt des ärztlichen Interesses gerückt. So werden Sterbende bzw. ihre noch funktionierenden Organe wieder wichtig. Und die Pharmaindustrie, die die für Transplantationen nötigen Medikamente wie Immunsuppressiva produziert, sponsert Ärzteseminare, in denen gelehrt wird, wie man den Angehörigen am taktvollsten und effizientesten die Zustimmung zur «Ausweidung» entlockt. Es ist zwar leicht, die Organverpflanzungen als Horrorszenario darzustellen, trotzdem darf nicht vergessen werden, dass sie dem Wunsch vieler Patienten entsprechen. Die Ärzte werden hier zu Erfüllungsgehilfen des Zeitgeistes, der den Tod bekämpfen muss und ihm lieber im letzten Moment noch Einzelteile entreisst als ihm in Würde zu begegnen. Durch die Transplantationen werden tatsächlich viele Leben verlängert, und für viele Schwerstkranke sind sie die einzige Überlebenschance. Das Makabere ist, dass es immer mehr Organe für immer mehr Patienten braucht und dass gar nicht genug junge Menschen (z.B. im Verkehr) sterben, um diesen Bedarf zu decken. Und auch hier kommt die Verdrängung des Todes hinderlich dazwischen, denn nicht einmal fünf Prozent der Bevölkerung gibt bereits zu Lebzeiten die Einwilligung zur späteren Organentnahme. Die allermeisten schieben das Thema genauso weit von sich wie die ganze Sterbeproblematik. Wer nicht daran glaubt, sterben zu müssen und sich unbewusst für unsterblich hält, wird selbstverständlich seine Organe nicht freigeben. Hinzu kommt, dass heute schwer zu definieren ist, wann ein Mensch tot ist. Der Herzstillstand als früheres Todeskriterium musste mit den Errungenschaften der Hightech-Medizin längst verlassen werden. Und der Hirntod ist problematisch, weil Menschen auch nach Ausfall aller EEG-Signale wieder zurückgekommen sind, etwa nach schweren Vergiftungen oder dem Ertrinken in eiskaltem Wasser. Und hier liegt ja die Hoffnung derer, die sich einfrieren lassen auf der Flucht vor dem Tod. Auch wenn sie in ihren Kältesärgen keine Gehirnaktivität mehr hätten, dürfte ihnen selbstverständlich keine Organe entnommen werden.

Unsterbliche Seelen
Die wissenschaftlichen und medizinischen Ebenen, auf denen sich die Gesellschaft mit dem Sterben und den damit verbundenen Fragen auseinandersetzt, ergeben keine befriedigenden Lösungen. Um etwas Tiefe in die Betrachtung zu bringen, ist es naheliegend, sich auf die alten Weisheitslehren zu beziehen. Fast alle religiösen Traditionen gehen von einem Weiterleben des Bewusstseins oder der Seele nach dem Tod aus. Selbst Wissenschaftler, die sich mit Nachtodzuständen beschäftigen, kommen heute zu ähnlichen Schlüssen und belegen, dass ein Fortleben der Seele im Sinne des tibetischen oder ägyptischen Totenbuchs wahrscheinlich ist. Deshalb scheint mir wichtig, der verfahrenen und von Verdrängung gekennzeichneten Situation neue Denkanstösse aus spiritueller Sicht zu geben. Betrachten wir den Tod im geschichtlichen Zusammenhang, fällt auf, wie sehr die Angst vor dem Tod ein Kind unserer Zeit ist. In früheren Zeiten gehörte der Tod zum Leben und war selbstverständlich. Er wurde gar als Erlöser aus dem Jammertal des beschwerlichen Erdenlebens gesehen. So hatte er wenig Beängstigendes und wurde oft geradezu ersehnt. Die Menschen versuchten den Tod nicht zu bekämpfen, weil er nicht zu besiegen war, sondern man hat sich ihm ergeben. Die Sterbenden auf den Übergang vorzubereiten und für die Zeit danach auszurüsten, war das Thema, der Tod an sich war unantastbar. Vor diesem Hintergrund sind die zahllosen Grabbeigaben zu deuten, die fast überall auf der Welt zu finden sind. Der Tod wurde früher in die Mitte und nicht an den Rand des gesellschaftlichen Lebens gestellt. Auch hierzulande war die Angst vor dem Tod bis zum 17. Jahrhundert eher unbekannt, wie der französische Forscher Philippe Aries betont. Erst mit der Aufklärung und dem Beginn der Wissenschaft entstand jene geradezu paranoide Angst vor dem Sterben, die heute üblich ist.

Sterben als Kunst

Durch die religiöse Einbettung hatten die Menschen früher eine Vorstellung, was weiter mit ihnen geschehen würde, wenn sie den Körper verlassen mussten. Ähnlich wie bei den Tibetern gab es auch in unserer Kultur die Ars moriendi, die Kunst des Sterbens. Auch wenn wir heute dieses religiöse, vor allem von Bildern getragene Werk naiv finden, hat es damals Orientierung gegeben. Wir müssen wieder sterben lernen und Ansätze dazu gibt es: Bereits haben Initiativen wie die Hospizbewegung oder Frau Kübler-Ross Pionierarbeit geleistet und in Seminaren werden Ausbildungen für Sterbebegleitung geboten. Aus diesem Ansatz heraus kann sich auch bei uns wieder eine Kultur des Sterbens ergeben, die sich mit der Zeit immer mehr jenen Tiefen nähert, die die tibetische und die alte ägyptische Kultur in ihren Totenbüchern schon erreicht hatten. Denn was wir heute unter Sterbebegleitung verstehen, ist von jenen Exerzitien des Lamas, der die Seele durch die verschiedenen Energieebenen begleitet, noch meilenweit entfernt. Aber auch gutgemeinte Menschlichkeit ist schon viel, verglichen mit jener Unmenschlichkeit, die vielerorts noch die Regel ist. Sobald wir erkennen, dass der Tod zum Leben gehört, brauchen wir ihn nicht mehr zu verdrängen und sind vor seinen Überfällen sicher, auch vor den Krankheitsbildern, die uns die Beschäftigung mit ihm aufzwingen.
Wer den Tod als Ziel seines Lebens in der polaren Welt der Gegensätze erwartet, kann von ihm auch nicht mehr überrascht werden. Er markiert nicht nur den grössten, sondern auch den wichtigsten Lebensübergang. Und so wie wir aus jedem Lebensübergang eine Chance machen können, ist das auch beim Tod möglich. Er könnte wieder zu jener Lösung und Erlösung werden, die er auch in unserer Kultur einmal war.


Dr. med. Ruediger Dahlke, *1951, Arzt und Autor; seit 1978 als Psychotherapeut, Fastenarzt und Seminarleiter tätig. Ab 1989 Aufbau und Leitung des Heil-Kunde-Zentrums für Psychotherapie, ganzheitliche Medizin und Beratung in Johanniskirchen zusammen mit seiner Frau Margit.
Interessenschwerpunkte: Entwicklung einer ganzheitlichen Psychosomatik unter Einbezug spiritueller Themen wie sie sich in den Bestsellern «Krankheit als Weg», «Krankheit als Symbol», «Krankheit als Sprache der Seele» und zuletzt «Aggression als Chance» und den dazugehörigen CD-Programmen ausdrückt.
Über 100 Buchübersetzungen in 18 Sprachen. Weitere Informationen: http://www.dahlke.at.

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Adresse des Autors: Dr. med. Ruediger Dahlke Schornbach 22, D-84381 Johanniskirchen