Die Gretchenfrage unserer Zeit: Wie hältst du’s mit dem Mainstream?
Gehörst du zum Mainstream der Kultur, in der du lebst? Schwimmst im Strom mit all den anderen? Machst du das, weil du der Schwarmintelligenz vertraust oder weil man dann nicht aneckt und es Vorteile bietet, alles so zu machen wie die anderen?
Kommen dir dabei manchmal Zweifel, weil du weisst, wie dieser Spontispruch aus den 60ern es zusammenfasst, dass «nur tote Fische mit dem Strom schwimmen»? Oder weil du diese Aussage von Jiddhu Krisnamurti gehört hast:
Es ist kein Zeichen von Gesundheit, an eine von Grund auf kranke Gesellschaft gut angepasst zu sein.
Heutzutage positionieren wir uns weltanschaulich nicht mehr so sehr in links oder rechts, religiös oder säkular, sondern eher, ob wir bei der dominanten Kultur mitmachen oder nicht. Sei es, dass wir willig mitmachen, im Gefühl, damit sicher auf der richtigen Seite zu stehen, oder eher zähneknirschend, weil ein soziales und ökonomisches Überleben sich sonst als schwierig erweisen kann. Ob wir uns als Dissidenten, Abweichler, Kritiker des Systems dagegen positionieren oder nicht hat auch Konsequenzen für den Freundeskreis, der uns umgibt, und das soziale Netz, das uns im Falle einer persönlichen Krise trägt.
Zwischen Mitmachen und innerer Emigration
Speziell während und nach der Coronazeit war die Frage: «Bist du dafür oder dagegen» für viele von uns existenziell entscheidend. Für gar nicht so wenige war es ein Bruch mit dem naiven Glauben, dass 'die da oben' es schon richtig machen.
Weil 2020 die scientific community mehrheitlich die Impfungen empfahl, habe ich bis zur ersten Impfung mitgemacht. Wofür ich mich später immer mal wieder schämte. Die Massnahmen empfand ich von Anfang an eher als lächerlich, von wenig hilfreich bis sozial schädlich, aber nicht als diktatorisch. Dazu wirkte 'das System' viel zu konfus. Ich empfand mich ja auch schon vor der Coronazeit als Aussenseiter, als einer, der irgendwie damit zurechtzukommen versucht, in einem System zu leben, das nicht dem Wohlergehen der Menschen und dem sie tragenden Biotop dient. Deshalb waren diese Massnahmen für mich nur eine leicht verschärfte Fortsetzung der schon gewohnten Absurditäten eines Lebens in dieser Gesellschaft.
Die Gesellschaft macht uns krank
Ich möchte hier die Möglichkeit eines kritischen Umgangs mit dem Mainstream anhand von zwei Büchern vorstellen, die mich in diesem Kontext sehr bewegt haben. Das Erste ist von Gabor Maté und trägt den Titel «Vom Mythos des Normalen – wie unsere Gesellschaft uns krank macht und traumatisiert». Es wird mit dem Zusatz «Neue Wege zur Heilung» im Untertitel vermarktet, damit diese schonungslose Analyse des herrschenden Mainstreams nicht schon vom Titel her deprimiert – und einen Schuss Optimismus hat dieses grosse Werk des Arztes und Traumafachmanns durchaus.
Das zweite heisst «Stromaufwärts zur Quelle» und ist eine Sammlung von pamphletartigen Essays des viele jüngeren und ebenso wortmächtigen Gesellschaftskritikers Milosz Matuschek, der durch seinen Artikel «Kollabierte Kommunikation: Was, wenn die Covidioten Recht hätten» vom September 2020 in der NZZ weithin bekannt wurde.
Das erste der beiden Bücher habe ich trotz seiner 600 Seiten ganz gelesen (bzw. als Hörbuch gehört). Das zweite habe ich nur quergelesen, kenne Matuschek aber bereits durch seinen Newsletter recht gut.
Werden wir manipuliert?
Bei beiden Autoren beeindruckt mich ihre Einsicht in die Wucht und Nachhaltigkeit, mit der der jeweilige Mainstream einer Gesellschaft seine Insassen beeinflusst. Die Gesellschaft und ihre Medien «manipulieren» uns, heisst es bei solchen Untersuchungen meist. Diesen Begriff verwende ich nicht gerne, denn er ist mir zu ungenau und zu sehr wertend. Jede Art der Beeinflussung ist eine Manipulation; darunter gibt es auch viele positive. Etwa die durch die hier genannten beiden Bücher, auch sie manipulieren uns. Genauer definiert könnte man «Manipulation» verstehen als einen Kommunikationsvorgang, bei dem der Empfänger nicht weiss, dass oder wie sehr er beeinflusst wird.
Aber auch bei einem guten Buch kannst du kaum glaubhaft sagen: Ich weiss, wie und wie sehr mich das beeinflusst. Ebenso bei diesem Text, den du gerade liest. Wir lassen uns eben manchmal überzeugen, und das kann gute oder schlechte Folgen haben. Der jeweilige Mainstream einer Gesellschaft ist jedenfalls unter allen die mächtigste vorstellbare Überzeugungsmaschine. Umso mehr, wenn er sich durch Begriffe wie «Qualitätsmedien» schmückt und andere Arten des Framings der Tatsachen als «Desinformation» diskredieirt, die eigene Zusammenstellung von Fakten hingegen als «Information».
Ein Kreuzfahrtschiff namens Mainstream
Seit ich erwachsen bin, hat sich mein eigenes Leben am Rande «des Mainstreams» abgespielt. Mit all den Vor- und Nachteilen, die das mit sich bringt. Für die Passagiere und das Personal auf dem Kreuzfahrtschiff namens Mainstream war ich schon immer eher der Verrückte auf der kleinen Jolle da unten, die aufpassen muss, von dem grossen Schiff vor dem Bug nicht erfasst zu werden oder dann von den hohen Wellen in seinem Kielwasser umgestossen zu werden.
Da ich Kleinheitswahn jedoch nicht harmloser finde als Grössenwahn, habe ich mir angewöhnt, bei solchen Gegenüberstellungen gelegentlich auf Buddha oder Jesus zu verweisen. Beider Lebensphilosophien hoben sich von den Hauptströmungen ihrer damaligen Kultur stark ab. Für Buddha war der Brahmanismus der Mainstream seiner Zeit. Für Jesus waren es die Pharisäer, deren Lehren damals das Judentum dominierten. Buddha ebenso wie Jesus hoben sich zu Lebzeiten von ihren weltanschaulichen Gegnern krass ab, wurden später aber zu Referenzpunkten jeweils eigener Mainstreams, die wiederum ihre Abweichler diskreditierten. Wobei der Buddhismus dabei generell weniger gewalttätig war als das Christentum.
Wenn alle sich auf dieselbe Art irren
Maté stellt an den Anfang seines Buchs ein Zitat von Erich Fromm:
Die Tatsache, dass Millionen von Menschen die gleichen Laster haben, macht diese Laster noch nicht zu Tugenden; die Tatsache, dass sie so viele Irrtümer gemeinsam haben, macht diese Irrtümer noch nicht zu Wahrheiten; und die Tatsache, dass Millionen von Menschen die gleichen Formen psychischer Störungen aufweisen, heisst nicht, dass diese Menschen gesund seien.
Maté fokussiert in seinem Buch mehr auf das Krankmachende der vorherrschenden Gesellschaft, Matuschek mehr auf das Repressive. Beide sehen als Ursache hinter den Ursachen das weltweit dominierende Wirtschaftssystem, das den Reichtum der Erde von unten nach oben verteilt, für Profit über Leichen geht und durch die gleichzeitige Zerstörung des uns tragenden Biotops und unserer Psyche uns allen die Lebensgrundlage nimmt.
Ernüchterung
Gabor Maté wurde 1944 in Ungarn geboren und entging als Kind knapp dem Holocaust, dem der grösste Teil seiner Familie zum Opfer fiel. Erzogen wurde er im Stalinismus. An den glaube er, weil die Rote Armee sein Land und seine Religionsgemeinschaft von den Nazis befreit hatte. «Ich bin in Ungarn in der Zeit der stalinistischen Unterdrückung aufgewachsen, doch als idealistischer kleiner Kommunist war ich mir dessen nicht bewusst», schreibt er. Als 1956 jedoch sowjetische Panzer den ungarischen Volksaufstand niedermachten, war dieser Glaube für den 12-Jährigen mit einem Schlag vernichtet: «Das war meine erste Desillusionierung; weitere folgten.»
Er floh mit seiner Mutter in den Westen, wurde von Kanada aufgenommen und glaubte nun an die Heilsbotschaft des dortigen Systems. «Nach den Gräueln des Vietnamkriegs und den skrupellosen Lügen, die ihn rechtfertigten, lernte ich: Das amerikanische Imperium, das in meiner jugendlichen Vorstellung die 'Stadt auf dem Hügel' abgelöst hatte, war ebenso grausam und habgierig wie sein Rivale.»
Und dann kam die dritte grosse Ernüchterung in Matés Leben. «Als ich das Westjordanland und den Gazastreifen besuchte, weinte ich zwei Wochen lang jeden Tag.» Bis heute setzt sich Maté für die Palästinenser und gegen den im Gaza-Streifen begangenen Völkermord ein.
Die Macht der Verblendung
Für Matuschek waren die Coronamassnahmen die grosse Ernüchterung. Sein Buch «Stromaufwärts zur Quelle – freischwebende Gedanken zur Dauerkrisenzeit» dreht sich um diesen tiefen Einschnitt in seinem Leben und in der Gesellschaft, der auch für viele von uns ein solcher ist. Schon die grossen Einteilungen seines Buchs zeigen das. Die ersten beiden heissen «Corona: Die Hybris holt die Welt ein» und «Der Kollaps der medialen Öffentlichkeit». Danach wird es im Abschnitt «Philosophie und Wahrheit» mit Einzelüberschriften wie «Im Zweifel für den Zweifel» und «Die Macht der Verblendung» ein bisschen philosophischer. Besonders interessiert mich, was er dann, im Buch ab S. 182, über «Widerstand als Weg des Erwachens» schreibt – die Überschrift erinnert mich an Dorothée Sölles Mystik des Widerstands.
»Die Leute erstarren vor Angst»
In diesen Abschnitt interviewt er die im März 2023 verstorbene Filmemacherin Mary Bauermeister und zitiert sie: «Stellen Sie sich vor, Sie fahren durch Deutschland, weil Sie einen Dokumentarfilm über Corona drehen wollen, und plötzlich merken Sie: Kein Hotel nimmt Sie noch auf, und Ihre Unterkunft bei AirBnB kündigt Ihnen wegen fehlender Tests.» Auf Matuscheks Frage: «Es gibt eine grosse Krise der Wahrheitsfindung. Glauben Sie, dass wir auf einen Aufwachprozess zusteuern?», antwortet sie zuerst verhalten optimistisch und sagt dann: «Und das ist jetzt durch Corona so grossartig zu sehen: Wie die Leute erstarren vor Angst. Das ist derart immunschädigend, dass es am Ende nicht mehr das Wovor der Angst ist, sondern die Angst selbst ist, die schlimm ist.»
Wie die Politik 'das Volk' per Angst(mache) steuert, ist bei beiden Autoren zentrales Thema, bei Matuschek noch mehr als bei Maté.
Persönlichkeitsentwicklung
Leider finde ich bei Matuschek im Gegensatz zu Maté keinen Blick auf die Rolle von Persönlichkeiten und ihre Entwicklung. Welche Art von Persönlichkeit checkt denn, was da so in der Aussenwelt läuft? Und wie kommen wir da hin, dass mehr Leute das checken? Nur durch ein immer drastischeres Beschreiben dieser Welt wird das nicht gelingen, meine ich. Und wie war das bei Matuschek selbst? Wer war er vor Corona, und wer ist er jetzt? Warum war er vor Corona verblendet und ist es jetzt, gemäss seiner aktuellen Eigenwahrnehmung nicht mehr? Und könnte es ein Ereignis geben, dass ihn auch aus seiner jetzigen 'Wahrnehmungseinschränkung' aufwachen lässt?
So sehr ich Matuscheks Wortgewalt schätze, wenn er beschreibt, wie der Mainstream in uns und in der Welt Unheil anrichtet, so beschleicht mich dabei doch ein Misstrauen. Er, der jetzt so laut gegen die Mächtigen Polternde, wie wäre er, wenn revolutionäre Umstände ihm die Macht in die Hände legen würden? Wie würde er dann mit denen umgehen, die nicht seiner Meinung sind? Die jetzt so holzschnittartige Beschreibung seiner Gegner schürt dieses Misstrauen in mir. Matuscheks in so vielem berechtigte Wut auf das System nachts verarbeitend, kamen mir dabei sogar Figuren wie Robespierre und Lenin in den Sinn, die von einem starken Gefühl für Gerechtigkeit ausgehend eine Revolution unterstützten (Robespierre) oder sogar sie selbst anzettelten und ausführten (Lenin). Selbst an der Macht waren beide sehr grausam.
Vom System aufgefressen
Vielleicht ist dieses Bauchgefühl von mir gegenüber Matuschek völlig unbegründet – möge es so sein. Vielleicht ist dieses gewisse Gruseln, das in mir entsteht, wenn ich lese, wie er auf Seite 32 seines Buchs eine «brutalstmögliche Aufklärung des Corona-Unrechts» fordert, kein guter Wegweiser und ich schätze ihn hier falsch ein.
Es sind jedoch schon so viele auf dem Weg von der Ohnmacht zur Macht ethisch gekippt und wurden von Gutmenschen zu Bösmenschen. Einer der Gründe, warum ich nicht 'in die Politik' gehe ist der, dass ich nicht glaube, es dort besser machen zu können als etwa Barack Obama, den ich heute als 'vom System aufgefressen' beschreiben würde. Mal ganz davon abgesehen, dass ich die Chance zu so viel Macht aus verschiedenen Gründen nie bekommen würde und auch als Jüngerer kaum bekommen hätte. Als einzelner, gut motivierter Mensch – das nehm ich Obama ab – konnte er in diesem System kaum etwas von dem verwirklichen, was er auf dem Weg nach oben sich vorgenommen hatte.
Angst, dem Mainstream den Gehorsam zu verweigern
Mein Fazit hieraus: Wir müssen uns die militärisch-industriellen, pharmazeutisch-medizinischen und medienindustriellen Komplexe anschauen. Einzelne haben darin nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten zu wirken. Wenn du dich nicht einfügst in 'das System', wirst du von ihm rausgeworfen oder Schlimmeres. In vielen Ländern (die USA und Russland gehören in diese Liga) werden Gegner des Systems oft genug ermordet. Daher die Angst so vieler Menschen, dem Mainstream den Gehorsam zu verweigern.
Robert Habecks Antwort in einem Interview, das seine Politik als «nicht mehr grün» kritisierte, seit er an der Regierung ist, war: «Das ist nicht mehrheitsfähig.» Auch dabei gruselt mir. Die Demokratie ist zwar an sich eine gute Idee, aber wenn die Regierenden nur das tun, was mindestens 51% der Bevölkerung gutheissen und die Medien auf ihre Titelblätter und in ihre Überschriften nur das nehmen, was 51% der Bevölkerung «auch so sehen» und diese Mehrheit wählt dann eben auch solche Politiker, wie wir sie jetzt haben, dann drehen wir uns damit im Kreis. Ungefähr so, wie der transatlantische Sklavenhandel zwischen Europa, Afrika und Amerika sich ein paar Jahrhunderte in diesem Dreieck drehte.
Die heutige Metakrise
Matuschek wie Maté sind beide Pazifisten. Beide halten den Ukrainekrieg ebenso wie das Gaza-Massaker für sowohl systemische wie auch systematische Auswüchse eines krank machenden Systems, dessen Machthaber von solchen Konflikten profitieren. Für Maté sind die Mächtigen traumatisierte Psychopathen, für Matuschek sind sie von der Macht Verführte, die ihr Gewissen verloren haben oder zu dumm sind, sich selbst und die Welt zu durchschauen.
Sind diese Einsichten neu? Dummheit und Korruption gab es auch schon zu Zeiten von Sokrates. Heute jedoch sei die Exekutive der Macht orwellscher geworden und die Manipulation gründlicher, meinen beide. Die Frage «Heute mehr denn je?» würde ich jedoch nicht mit einem Ja beantworten und verweise dabei vor allem auf die Indoktrination durch die Religionen. Der Unterschied zu den Inquisitionen und Kreuzzügen von damals und der Vergiftung des Sokrates ist jedoch, dass heute die Selbstzerstörung der gesamten menschlichen Zivilisation möglich ist – damals haben sich nur einzelne Kulturen durch ihre Hybris selbst zerstört.
Die Gretchenfrage
Hältst du den jeweils gerade vorherrschenden Mainstream für die beste Art, die Geschicke der Gesellschaft zu steuern, oder nicht? Das könnte die Gretchenfrage unserer Zeit sein. Nicht mehr wie bei Goethe «Wie hältst du’s mit der Religion?», sondern «Wie hältst du’s mit dem Mainstream?». Die Coronazeit war für viele hierzulande, in Europa und in der westlichen Welt, die grosse Zäsur, bei der sie «den Glauben verloren haben». Der Arzt Maté äussert sich hierzu viel verhaltener. Matuschek hingegen ist ein eloquenter Anwalt der in der Coronazeit Ausgegrenzten und bezüglich der Behörden und führenden Eliten Desillusionierten. An denen, die seiner Ansicht nach den freien Geist zensieren und die Menschheit knechten, lässt er kein gutes Haar.
Informieren, ohne zu Framen?
Ich werde sicherlich noch oft auf Gabor Matés Monumentalwerk verweisen und daraus zitieren. Vielleicht auch aus Matuscheks Buch, das den Geist der Rebellion (»gegen den Strom schwimmen») schon im Titel trägt, während Maté im Wort «Mythos» auch was Positives sieht: Unsere Zivilisation ist unvermeidlich immer von Mythen geprägt. Es sollten jedoch bessere Mythen sein als die, die uns jetzt steuern. Während Matuscheks Worte oft suggerieren, «ideologiefrei» die Wahrheit finden zu können.
Sobald eine Wahrheit formuliert ist, hat sie jedoch einen Rahmen, ein Frame, und gestaltet damit ein Narrativ. Deshalb stimme ich auch mit dem «Manifest für einen neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland», das seit Anfang April im Web kursiert, zumindest an dieser Stelle nicht überein. Obwohl ich die Öffentlich-Rechtlichen für sehr reformbedürftig halte. Denn schon im zweiten Satz dieses Manifests fordert es: «Die Mitarbeitenden des neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunks benutzen kein Framing und verwenden keine abwertenden Formulierungen.» Das geht nicht. Ohne Atem kein Leben und ohne Framing keine Kommunikation. Und auch «abwertende Formulierungen» sollten wir uns nicht verbieten lassen – Massenmord abzuwerten, und noch so vieles andere, sollte eine Selbstverständlichkeit sein.
Was für ein Souverän ist das?
Auch bei dem Satz aus demselben Manifest: «Das Publikum ist der Souverän des neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunks», ist mir nicht geheuer. Dieser Souverän hat einst Hitler an die Macht gebracht und dann nach Goebbels’ Rede im Sportpalast den totalen Krieg mitgemacht. Er hat unsere jetzigen Politiker an die Macht gewählt und dann geduldet. Nein, diesem Souverän traue ich nicht, denn die einzelnen Partikel dieses Souveräns, die Wähler, kennen sich selbst nicht. Die Bürger selbst sind nicht souverän. Sie würden sehenden Auges ihr eigenes Grab schaufeln, sie sind mitten dabei genau das zu tun, sei es durch eine erneute Kriegstüchtigkeit oder die fortgesetzte Zerstörung der Natur.
Das Rad der Wiederkehr
Da muss sich schon sehr viel mehr ändern als nur noch mehr Petitionen und Basisdemokratie und eine Regierung, die den jeweils aktuellen Meinungsumfragen folgt. Sonst sind wir auch da wieder im 'Rad der Wiederkehr' gefangen – Bhava-Chakra nannten es die Inder und wollten ihm durch Erleuchtung dem entrinnen. Volk > Regierung > Medien > Volk > Regierung > Medien und so weiter. So wie einst der transatlantische Sklavenhandel (Billigware von Europa > Afrika, von dort Sklaven in die Neue Welt > Zucker v.a. aus der Karibik nach Europa), der sich immerhin ein paar Jahrhunderte so drehte, kann dieses sich drehende Dreieck nur durch einen Bewusstseinswandel beendet werden. Was die Sklaverei anbelangt, hat dieser Wandel um 1800 begonnen und zog sich dann durch die folgenden beiden Jahrhunderte. Obwohl es auch heute noch Rassismus gibt, ist die Sklaverei im engeren Sinne überwunden.
Schöpferische Zerstörung
Lässt sich das System reformieren oder muss die Erneuerung eine Revolution sein? Über dieses Thema spalteten sich 1917 die Sozialisten in SPD und USPD. Die ersten liessen sich in den folgenden Jahrzehnten weitgehend vom System kassieren, die zweiten rutschen in neue Arten der Unterdrückung ab. Hermann Hesse schrieb dazu, auf noch tieferer Ebene, im Demian die berühmten Sätze: «Der Vogel kämpft sich aus dem Ei. Das Ei ist die Welt. Wer geboren werden will, muss eine Welt zerstören» und klingt damit ziemlich revolutionär. Wie übrigens auch die Forderung des von Unternehmern verehrten Ökonomen Joseph Alois Schumpeter nach einer «schöpferische Zerstörung» als Voraussetzung für Innovation.
Da das jetzige System zerstörerisch ist, würde ich als der Gewaltfreiheit Verpflichteter dazu sagen: (Zer)stört dieses gewalttätige System so friedlich wie eben möglich, aber konsequent und nachhaltig. Damit der Vogel einer neuen, friedlicheren Welt aus dem Ei schlüpfen kann.
(Netzfund)
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