Die Hölle transformieren

Jahrelang wusste sie nicht, was ihr geschehen war, doch litt sie an schwersten Depressionen. Ein misslungener Suizidversuch liess die traumatische, tabuisierte Erfahrung hochkommen.

Sie errötete dauernd, wenn man mit ihr sprach. Bei unserer ersten Begegnung vor vielen Jahren wirkte Anna (Name geändert) unsicher, fast scheu. Doch ab und zu sprudelte es wie ein Bergbächlein aus ihr; ihre Augen leuchteten und ihre Hände erzählten davon, vieles anpacken zu können. Später wurde sie Steinhauerin. Eine, die in der Kunstszene Beachtung fand. Eine auch, die den Mut hatte, ihre inneren Steinbrocken ans Licht zu heben und zu behauen. Mit Hilfe einer Traumatherapie wagte sie sich an die schwarzen Löcher der Vergangenheit heran, die ihr Leben blockierten. Tote Empfindungen begannen sich mit Körpererinnerungen zu füllen - ihr wurde klar, dass sie sexuell missbraucht worden war. Ihre Schamröte bekam Inhalt. In Bildblitzen erlebte sie nochmals, wie sie als Mädchen aufs Bett gehoben wurde, ihre Brüste betasten lassen musste, nur den verzweifelten Gedanken in sich: «Wann hört es auf?».


Wer war es?
Doch diesen unerwarteten Bildern Glauben zu schenken, bedeutete harte Arbeit – bis heute. Zentral war die Frage: Wer war es? Mit fester Stimme vermochte sie den Vater als Täter zu benennen, um Sekunden später abzuschwächen, auszuweichen, zu zweifeln und sich selbst in Frage zu stellen. Es hätte ja auch der Grossvater sein können, der Onkel – sie erkannte kein klares Gesicht zu den Bildern. Sie besuchte eine Selbsthilfegruppe für sexuell missbrauchte Frauen, wo sie lernte, darüber zu sprechen und ernst genommen zu werden. Sie wurde stabiler, änderte ihre Meinung weniger sprunghaft und konfrontierte damals auch ihre Eltern, worauf der Kontakt für einige Zeit abbrach.


Erstmals erzählte sie von den Felsbrocken, die ihren Lebensfluss versperrten. Von ihrer Magersucht, Bulimie und den Depressionen, mit denen sie seit ihrer Pubertät kämpfte und die sie dazu brachten, ihr Leben beenden zu wollen. Während einer starken Darmgrippe hatte sie beschlossen, zu sterben, und gänzlich aufgehört, Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Sie fiel ins Delirium und bekam die tiefe Erkenntnis: «Nicht ich bin es, die sterben will. Die anderen lassen mich nicht leben. Meine Familie. Aber ich will leben.» Sie habe eine unauslöschbare Flamme in sich gespürt, die sie antrieb, wieder zu trinken und die Reise ins Leben anzutreten.


Ein harter Siech
Damals lernte sie Steinbildhauen. Der erste Stein sei ein «harter Siech» gewesen, doch mit Wut und Verzweiflung stand sie den Kampf mit ihm durch, bis sich ein Vogel aus dem Stein entwickelte, der für sie Befreiung bedeutete. Er öffnete ihr die Pforte zur Bildhauerei. Viele weitere Brocken halfen ihr, sich aus der Versteinerung zu lösen, und mit jedem Stein, der unter ihren Händen sein Wesen zeigte, schien sie wieder ein Stück mehr von sich zu finden.


Auch ihre Liebesbeziehungen sind Steinbrocken. Viele Männer sind durch ihr Leben gezogen, doch stets scheiterte die Liebe an der Sexualität. Sobald ihr Körper mit Lust reagiert, verlässt sie ihn, konfrontiert den Partner mit einer leblosen Hülle.


Stück für Stück
Das dunkle Geheimnis hütet sie nach wie vor in ihrem Innersten. Wer sich ihm nähert, wird verjagt. Sie teilt es mit dem Täter, den sie ja irgendwie auch liebt, noch immer. In Therapien hatte sie mehrmals versucht, die Energie ihres Vaters aus ihrem Körper zu entfernen, worauf er intensiv reagierte: Beim ersten Mal erhielt er kurz darauf eine Krebsdiagnose, ein andermal hatte er einen manischen Schub. Das zeigt ihr, dass die Verbindung noch immer da ist. Dennoch arbeitet sie sich stetig weiter, behaut die inneren Felsbrocken Stück für Stück, um zu ihrer eigenen Kraft zu gelangen. In ihren Werken spiegelt sich dieser Kampf, sie sind von berührender Ausdruckskraft.


Dass sie inzwischen Bäuerin lernt, führt sie auf neue Ebenen. Während sie die weiche Erde bearbeitet, Früchte erntet, Tiere und Natur hautnah erlebt, versucht sie die Kraft des Lebens zuzulassen und ihren inneren Kern zum Keimen zu bringen, der einst so unschuldig und ganz in ihr war.


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Frühkindliches Trauma – ein schlafender Drache

Das Aufarbeiten eines psychischen Traumas (Trauma, gr. = Verletzung) erfordert ein äusserst sensibles Herangehen an die alten Wunden, denn das Erinnern kann eine Retraumatisierung bewirken und so den Gesamtzustand massiv verschlechtern. Für Menschen, denen in ihrer Kindheit von Bezugspersonen Verletzungen zugefügt wurden, ist die Abspaltung von Gefühlen die einzige Möglichkeit, sich vor Todesangst, Schmerzen oder hilflosem Ausgeliefertsein zu schützen. Kann eine Verarbeitung des Erlebten aber nicht stattfinden, führt dies oft zu schwerwiegenden Gesundheitsstörungen, auch posttraumatische Belastungsstörungen genannt.


Eine individuell angepasste Psychotherapie ist unumgänglich. Die moderne Traumapsychotherapie nutzt neben dem vorsichtigen Herantasten an die Verletzung auch Phantasiebilder, Traumreisen oder Visualisierungen, und versucht so Angstzustände und depressive Phasen zu mildern. Vor allem aber soll eine Therapie Schutz, Sicherheit und Vertrauen aufbauen. Von Christian Gerig




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Mehr zu diesen Thema finden Sie im Heft 136 «Berichte aus der Tabuzone»


Es gibt Dinge, über die spreche ich nicht einmal mit mir selbst. Konrad Adenauer



Mehr zum Thema finden Sie im Heft 136 Berichte aus der Tabuzone