Die Ideologie des Schützen
Die Fixierung darauf, hinter jedem Mord in den Nachrichten eine politische Ideologie zu suchen, lenkt vom Wesentlichen ab. Die Samstagskolumne.
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Töten löst keine politischen Probleme, sondern verschärft sie, ganz unabhängig von der Ideologie. Foto: Unsplash

Auffällig ist, dass die Täter fast immer Männer sind – obwohl Frauen ebenso imstande wären, zu schiessen. Das verweist darauf, dass die zugrunde liegende Ideologie eine maskulinistische ist.

Ein weiterer Punkt ist, dass sich der Schütze in den meisten Fällen selbst erschiesst, auch wenn darüber vielleicht nicht in den Nachrichten berichtet wird. Damit zerfällt die Vorstellung,

Was sich jedoch bei näherem Hinsehen zeigt: Die Täter, so sie überhaupt einer inneren Logik folgen, orientieren sich fast immer an derselben maskulinistischen Vorstellung – der Vorstellung, durch Erschiessen liesse sich etwas Gutes erreichen. Diese Haltung findet sich nicht nur bei aktiven Schützen, sondern auch bei gewaltbereiten Personen ohne Waffen, bei manchen Kriegsveteranen, bei denen, die Bombardements oder Angriffe anordnen oder finanziell ermöglichen, und bei denen, die in Medien oder Reden das Erschiessen von Menschen verherrlichen oder dafür danken und es als «Frieden» etikettieren.

Mehr Informationen über Denkweisen, Ausbildung oder Konditionierung von Tätern zu sammeln, ist wichtig. Attentäter, die politische Führer töten, können sich von Amoktätern oder Selbstmördern unterscheiden. Aber die ideologische Spurensuche ist an einer Stelle bereits zu Ende: Der Täter hat in jedem Fall eine eigene Täter-Ideologie – eine Überzeugung, die das Töten legitimiert. Sie steht im Widerspruch zu grundlegenden historischen und evidenzbasierten Einsichten, ähnlich irrational wie Leugnung wissenschaftlicher Fakten oder blindes Vertrauen in Autoritäten. Diese Täter-Ideologie zeigt sich in vielen Gestalten: als Glaube an die Bedrohung durch angebliche «Sündenböcke», als Fantasie, Morde könnten die Gesellschaft einen, als Rechtfertigung, Zerstörung sei «Verteidigung» oder «Säuberung», als Verheissung, ein grösserer Krieg bringe Frieden. Manchmal ist das Motiv, vermeintlich «eine Lektion» zu erteilen oder eine korrupte Wahl zu korrigieren; manchmal maskiert als heroischer Akt. Der Kern bleibt derselbe: es ist eine zutiefst gestörte Logik.

Kurz und unverblümt lässt sich sagen, dass der Schütze psychisch gestört ist. Wer aus vermeintlich guten Gründen Menschen tötet, untergräbt automatisch jede Sache, die er zu fördern vorgibt. Tötet man einen geliebten Menschen, schadet man dessen Anliegen; tötet man einen Geächteten, erzeugt man Mitleid (echt oder gespielt) und stärkt damit die Position des Getöteten. Gewalttaten gegen Besatzer liefern diesen eine Entschuldigung für weitere Repression, Gewalt gegen ZivilistInnen erhöht den Widerstand, Raketenangriffe liefern Vorwände für noch brutalere Gegenschläge. Kurz: Töten löst keine politischen Probleme, sondern verschärft sie, ganz unabhängig von der Ideologie.

Dass diese Perspektive in den Nachrichten oft fehlt, liegt nicht an ihrer Komplexität, sondern an Interessen und Denk-Routinen innerhalb der Medien. Journalistische Verkürzung spielt eine Rolle, ebenso wie die Neigung mancher Kommentator:innen, Waffen oder Militärdienst in bestimmten Kontexten zu glorifizieren oder reflexhaft mit «aber … Hamas!» oder «aber … Maduro!» zu reagieren. Ein erheblicher Teil der Amokschützen in den USA sind Militärveteranen; ihre Behandlung in der Öffentlichkeit schwankt zwischen Lob für militärische Fähigkeiten und Empörung darüber, auf «die falschen» Menschen geschossen zu haben. Diese Widersprüchlichkeit macht es schwer, das grundsätzliche Problem zu benennen: den Glauben an positive Effekte des Erschiessens von Menschen.

Und genau das ist der springende Punkt. Die entscheidende ideologische Trennlinie verläuft nicht zwischen linken und rechten Narrativen, sondern zwischen denen, die an gewaltfreie Lösungen glauben, und denen, die das Erschiessen von Menschen als in manchen Fällen gerechtfertigt ansehen. Viele der lautesten Meinungsmacher, quer durch vermeintliche Lager, stehen am Ende auf der falschen Seite dieser Linie.


Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Sabine Prizigoda vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!

David Swanson

David Swanson

David Swanson
David Swanson

David Swanson ist Autor, Aktivist, Journalist und Radiomoderator. Er ist Direktor von WorldBeyondWar.org und Kampagnenkoordinator für RootsAction.org. Zu seinen Büchern zählt „War is a Lie“ (Krieg ist eine Lüge). Er verfasst blogs unter DavidSwanson.org und WarIsACrime.org. Er moderiert für Talk Nation Radio. 2015 war er für den Friedensnobelpreis nominiert.

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