Die Kultur als Seele des Widerstands

Das Webmagazin «www.hinter-den-schlagzeilen.de» vereinigt politische Kritik mit Kulturnachrichten und einer wachsenden Musikvideo-Sammlung aus Chanson, Folk, Artrock und anderen «nicht radiotauglichen» Sparten. (Roland Rottenfußer)

Die Politikerin der Stunde heisst – Angela Merkel. 39 Prozent der Wähler würden ihrer CDU/CSU heute die Stimme geben. Das sind drei Prozent mehr als letzte Woche. Warum? Vor aller Augen (und nicht nur aus der Perspektive der Linken) leistete sich die Kanzlerin einen Fehler nach dem anderen. Sie verlängerte die Laufzeiten der Atomkraftwerke – und musste unter dem Eindruck von Fukushima zurückrudern. Sie war gegen Gauck – und musste zurückrudern. Sie berief Politiker wie Guttenberg und Wulff und hielt ihnen die Treue, bis ihr Scheitern nicht mehr zu vertuschen war. Sie vergrätzte bisher alle denkbaren «Kronprinzen»: Merz, Koch oder Röttgen. Umgeben von Zwergen steht sie nun fast allein in der Landschaft – auch eine Methode, um wie eine Riesin zu erscheinen.



Merkels Partei ist derzeit die einzige, die einem Volksentscheid auf Bundesebene entgegensteht – unter dem Jubel des entmündigten Volkes. Ihre Partei ist die einzige, die die Preisgabe von Bürgerdaten an Privatfirmen forderte. Unter ihrer Führung wird der Überwachungsstaat weiter ausgebaut, werden die Rechte des Parlaments zugunsten «postdemokratischer» EU-Institutionen beschnitten. Merkel verzögert bis heute die Einführung einer Spekulationssteuer mit dem Argument, dass noch nicht alle mitmachen. Sie erlaubte und sponserte die Fusion von Commerz- und Dresdner Bank mit Steuergeldern. Sie «rettete» Banken auf Kosten des Steuerzahlers und ermutigte damit weitere riskante Manöver in der Zukunft. Sie demütigte die südeuropäischen Staaten und zwang sie unter ein rigides Austeritätsregime, um die Spieleinsätze reicher Gläubiger zu schonen. Damit riskiert sie, dass der Steuerzahler für Milliardenbürgschaften aufkommen muss, nur um den durch das Zinssystem bedingten Zusammenbruch des Finanzsystems noch etwas hinauszuzögern.



Fehlerkanzlerin im Umfragenrausch



Die Liste könnte noch weiter fortgesetzt werden. Dennoch zeigen Umfragen immer wieder: Die weitgehend charmefreie Kanzlerin ist beliebt. Bürger schätzen ihre nüchterne, «vernünftige» Art. Sie glauben an ihre wirtschaftspolitische Kompetenz und eine Politik der ruhigen Hand. Schliesslich sind wir doch alle froh, dass die mächtigste Frau der Welt auf europäischer Bühne eine gute Figur macht, oder? Waren das Aufblühen der Linken 2009, der Boom der Grünen 2011, der Piraten-Hype Anfang 2012 nur Strohfeuer, so scheint es sich bei der Beziehung des Volkes zu Merkel um wahre Liebe zu handeln. Sie erwärmt dauerhaft und massvoll wie eine Ölheizung. Keiner der SPD-Kandidaten kann das Volk da zur Untreue verführen, obwohl die auch nicht blasser sind als die Sympathieträgerin aus der Uckermark.



Wer einen Grund für diese anhaltende Beliebtheit sucht, muss nur die Mainstream-Presse der letzten Jahre verfolgen. Da finden wir alle positiven Merkel-Stereotypen vorgeprägt und vorformuliert. Da werden ihre Fehlleistungen verschleiert oder als alternativlos verkauft. Und politische Alternativen – allen voran Linke und Piraten – werden systematisch niedergeschrieben. In Anlehnung an eine Geschichte von E.T.A. Hoffmann könnte man Merkel den «Klein Zaches» der deutschen Politik nennen. In der Erzählung macht die Fee aus einem unansehnlichen Zwerg einen wunderschönen, allseits umschwärmten Prinzen. Nicht indem sie die Gestalt des Zwerges verzaubert, sondern indem sie die Wahrnehmung der Betrachter manipuliert. Besagte Fee – übertragen auf unsere moderne Zeit sind es die Medien. Ob Zeit, Spiegel, SZ, Stern, Welt oder BILD, ob ARD, ZDF oder RTL – überall zeigt sich anbiedernder Respekt vor der großen alten Dame der deutschen Politik. Natürlich gewürzt mit etwas milder Kritik, damit es nicht zu peinlich wirkt. Es versteht sich von selbst, dass ich hier nicht auf Frau Merkels Aussehen anspiele, das mir egal ist, sondern dass ich auf «politische Hässlichkeit» anspiele, die in der öffentlichen Wahrnehmung wie weggezaubert wirkt.



Medien – «die eleganteste Form der Diktatur»



Die eingebettete Presse entrüstet sich, wenn ihr – wie unlängst von Günter Grass – Gleichschaltung vorgeworfen wird. So wie Obelix es nicht gern hat, wenn man ihn «dick» nennt. Tatsächlich handelt es sich wohl nicht um eine Gleichschaltung von oben, sondern um die freiwillige Treue reicher Medieninhaber zum neoliberalen Projekt, nach unten durchgedrückt mangels innerer Pressefreiheit, aufrechterhalten durch kapitalismusfreundliches «Networking». Ändert sich nichts Grundlegendes, werden wir noch bis ins Jahr 2100 von der CDU/CSU regiert werden, gelegentlich unterbrochen durch Amtsperioden von SPD-Kanzlern, die ideologisch wie Klone ihrer CDU-Vorgänger wirken.



«Es ist nicht leicht, Menschen davon zu überzeugen, dass die Reichen die Armen ausplündern sollen; ein PR-Problem, das bis jetzt noch nicht gelöst wurde» spottete Noam Chomsky. Die moderne Medienlandschaft hat das Problem längst gelöst. «Meinungsmache ist auch die eleganteste Form der Diktatur», schreibt Albrecht Müller, der seit vielen Jahren in den «Nachdenkseiten» gegen den verdummenden Kampagnenjournalismus anschreibt. Demokratie setzt einen Meinungsbildungsprozess seitens der Bürger voraus, der auf unabhängigen und vielfältigen Informationen beruht. Eben darin liegt die Bedeutung von Webmagazinen wie «Hinter den Schlagzeilen». Ohne Abhängigkeit von Werbung, Partei- oder Vereinszugehörigkeit sucht es täglich nach Nachrichten, die durch das breitmaschige Suchnetz der Sensations- und Manipulationspresse rutschen. Es beleuchten beharrlich tote Winkel der Aufmerksamkeitsindustrie. Und es bringt alternative Meinungen zu allgegenwärtigen Medienthemen. Freiheit der Meinung zeigt sich darin, was wir denken und worüber wir nachdenken.



Kultur mit Rückgrat



Eine demokratische Gesellschaft setzt aber noch etwas anderes voraus: eine freie Kultur, die sich so weit wie möglich unabhängig von Vermarktungsinteressen entfalten kann. Freie Kultur gibt dem politischen Widerstand eine Seele. Umgekehrt versorgt eine politische Stossrichtung die Kultur mit lohnenden Themen und gibt ihr Rückgrat. Daher haben Kulturnachrichten, Musikrezensionen, aber auch die Kultreihe mit Musikvideos im Rahmen dieser Arbeit einen wichtigen Platz. Das Webmagazin baut darin ein umfassendes Archiv ehrlicher, inspirierter Musik und nachdenkenswerter Texte auf. «Die Herren pokern, ihre Welt schneit unsere Herzen langsam ein. Jetzt kann nur noch die Fantasie die Sterbenden vom Eis befreien.» Dies schrieb Herausgeber Konstantin Wecker schon in den 70ern. Aufrichtige Kultur ist wie Tauwetter für eine vereiste Seelenlandschaft in einer Zeit, in der «Erstarrte» das Geschick der Welt lenken. Somit ist «Hinter den Schlagzeilen» auch die Fortsetzung Weckerscher Impulse mit den Mitteln eines Multimedia-Webmagazins – gemacht von Menschen mit durchaus eigenständiger Kreativität.



Kultur tat und tut Mächtigen weh und bietet ihnen immer wieder «Unterdrückungsanreize». Man kann dabei an den vom Pinochet-Regime ermordeten Liedermacher Victor Jara denken. An den ägyptischen Sänger Ramy Essam, der bei einer Darbietung auf dem Tahir-Platz von Sicherheitskräften verletzt wurde. Oder an den aktuellen Fall «Pussy Riot» in Russland. Würde Kultur nichts bewirken, ergäbe es gar keinen Sinn, dass Machthaber oft äusserst gereizt auf sie reagieren. Diese Kultur des Widerstands zu dokumentieren – in Artikeln, Essays, Poesie und Liedern – gehört zu den wichtigsten Aufgaben dieses Webmagazins. Auf die Gefahr hin, eher wie Roy Black als wie Konstantin Wecker zu klingen füge ich hinzu: Eine der wichtigsten Botschaften dieser Seite ist: Du bist nicht allein.



www.hinter-den-schlagzeilen.de



07. September 2012
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