Die Niederlage
Aus dem Podcast «5 Minuten» von Nicolas Lindt.
Wir haben eine Maus im Haus. Vor ein paar Wochen, mitten im Winter, schlüpfte sie das erste Mal aus dem Spalt unter dem Kühlschrank hervor und verschwand ebenso schnell wieder, als sie uns wahrnahm. Wir hatten schon früher einmal Besuch von Mäusen gehabt, denn unser Haus ist ein altes Haus, und alte Häuser haben Spalten und Schlitze im Mauerwerk, wo die niedlichen Tierchen den Weg ins Innere finden. Die früheren Mäuse, die immer frecher wurden, bekämpften wir erfolgreich mit Mausefallen, deshalb legten wir auch jetzt eine Falle aus. Eine Lebendfalle, die, wie der Name sagt, die Maus fängt, aber aus «humanitären» Gründen am Leben lässt.
In einem kleinen Käfig aus Draht hängt ein Stück Käse, der sie anlocken soll. Wenn sich das Tier, vom Hunger getrieben, ahnungslos in den Käfig wagt, klappt das Türchen der Falle zu und die Maus ist gefangen. Man trägt sie nach draussen und gibt ihr möglichst weit weg vom Haus die Freiheit zurück, in der Hoffnung, der Grosse Mäusegeist werde den Menschen dafür belohnen und ihn vor weiteren Mäusebesuchen verschonen.
Wir stellten die Falle vor den Spalt unter dem Kühlschrank und gingen zu Bett, überzeugt, dass sich der ungebetene kleine Gast auch während der Nacht noch einmal hervorwagen würde. Doch am anderen Morgen war der Käfig enttäuschend leer. Das Käsestückchen hing noch am Haken, wo wir es hingehängt hatten, und das Türchen stand immer noch offen. Die Maus war nicht mehr zurückgekommen, denn welches Tier ihrer Gattung würde im Winter ein Käsestückchen verschmähen?
Doch am folgenden Abend schlüpfte das putzige Ärgernis mir nichts dir nichts wieder unter dem Kühlschrank hervor, spähte nach links und nach rechts, erblickte uns und huschte quer durch die Küche, um in einem Spalt unter dem Herd zu verschwinden. Wieder stellten wir die Falle hoffnungsvoll auf den Küchenboden – und erneut blieb sie unberührt.
Wir lasen im weltweiten Netz, dass Mäuse, mehr noch als Käse, Schokolade mögen. Also hängten wir ein kleines Stück Schokolade in die offene Falle, doch die Maus verschmähte auch dieses. Am vierten Abend verharrte sie bereits etwas länger zwischen Kühlschrank und Kochherd, bevor sie den Rückzug antrat. Die Falle liess sie weiterhin unbenützt.
Da sie nun offenbar mutiger wurde und wir befürchten mussten, es könnte ihr wie den früheren Mäusen gelingen, den Tisch zu erklimmen und das Brot anzuknabbern, holten wir aus dem Keller die andere Falle. Sie besteht aus einem blossen kleinen Stück Holz, auf dem eine Metallvorrichtung befestigt ist. Auf das Holz legt man den Käse oder die Schokolade. Bei der leisesten Berührung des Holzstücks schnellt das Metall nach unten und bricht der Maus das Genick. Mit anderen Worten: Die Maus ist tot. Und es war kein Unfall.
Auch diese Falle hatten wir aufbewahrt, aus der Erfahrung, die wir schon früher gemacht hatten, dass sich nicht jede Maus in den Käfig wagt. Dann bleibt nur die «andere» Falle. Menschen, die tierliebend sind, entwickeln in solchen Situationen fast automatisch gewisse Skrupel, möchten sie doch als Krone der Schöpfung mit gutem Beispiel vorangehen und das Töten von Mitbewohnern auf Gottes Erde vermeiden. Doch um unsere Vorräte zu verteidigen, blieb uns nur die Tötung aus Notwehr. Notwehr wird im Strafrecht milde beurteilt. Handelt es sich nicht um einen Notwehrexzess, führt das Verfahren meistens zum Freispruch. Und zu einem Exzess würde es hier nicht kommen. Nur unser Überleben mussten wir sichern.
Widerstrebend legte ich die Falle am Boden bereit – und zuckte zusammen, als sie mit lautem Knall zuschnappte. Ich hatte sie etwas zu wenig sanft hingestellt, aber das zeigte uns nur, wie wirksam sie war. Sie reagierte so schnell und so heftig, dass die Maus mit Sicherheit sofort tot war – was unser bereits vorauseilendes schlechtes Gewissen etwas entlasten würde. Ein rascher Tod ist möglicherweise schmerzlos, weil die Maus, wenn der Schmerz sie ergreifen will, sich bereits auf dem Weg in den Mäusehimmel befände.
Doch wir rechtfertigten uns umsonst. Die Maus ignorierte auch diese Falle. Also versuchten wir es statt mit Schokolade wieder mit Käse und stellten die Falle direkt vor den Kühlschrank, da, wo die Maus jeweils hervorkam. Doch die unerwünschte Besucherin bekämpfte offenbar jedes Mal ihren Hunger, weil sie die Falle verdächtigte, ihr nichts Gutes zu wollen. Oder sie hatte als Mäusejunges mitansehen müssen, wie ihre Mutter in ein solches Ungeheuer geraten war und ihr Kind als Waise zurückliess.
Inzwischen haben wir das unnütze Mordinstrument wieder entfernt. Wir haben auch die Absicht wieder verworfen, nur der Maus zuliebe eine Katze zu kaufen. Und vor allem streuten wir keine Köder. Einem frei daliegenden, interessant duftenden hinterhältigen Mäusekeks hätte die Maus nicht widerstehen können. Aber die Vorstellung, wie das kleine Geschöpf Gottes auf qualvolle Weise verenden müsste, liess uns vor dem Absturz in das Böse im Menschen zurückschrecken. Wir streckten die Waffen. Wir mussten erkennen, dass wir das kleine Tier ohne Grausamkeit nicht zu besiegen vermochten.
Die Einsicht in unsere Machtlosigkeit hat uns Überwindung gekostet. Vor einer Maus zu kapitulieren, ist eine Niederlage. Doch wir akzeptierten das Unabänderliche. Und wir haben den Eindruck, dass uns die Maus für die Grösse unserer Haltung belohnt. Sie wird nicht verwegener, nicht dreister als ihre Vorgängerinnen, tanzt uns nicht auf der Nase herum, erklimmt nicht den Tisch, vergreift sich nicht am Essen der Menschen. Aber sie bleibt. Fast Abend für Abend zeigt sie sich uns, als hätte sie inzwischen beschlossen, bei uns zu wohnen und als wären wir einverstanden mit ihrem Einzug. Dann zieht sie sich zurück in ihr Nachtquartier – offensichtlich zufrieden damit, was sie den Menschen beigebracht hat.
Der Podcast «5 Minuten» erscheint dreimal pro Woche – Montag, Mittwoch, Freitag - auf Facebook, Spotify, iTunes und audible oder auf der Autorenseite von Nicolas Lindt.
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