Die Regierung Biden braucht eine russische Invasion der Ukraine

Das Geschäft mit amerikanischen Fracking-Gas funktioniert nur, wenn das billige russische Gas in Russland bleibt. Das ist der Hintergrund der amerikanischen Behauptung, eine russische Invasion stehe unmittelbar bevor. Mit Sanktionen würde das russische Gas durch teures amerikanisches Schiefergas ersetzt.

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Vielleicht stürzt die Welt bald in einen Krieg, aber nicht wegen der Rechte, Bedürfnisse und Wünsche der Menschen in Osteuropa oder Zentralasien. Die Machteliten des Westens sind es, die mit Leben spielen, nicht Wladimir Putin und die Russen.

Im Oktober 2015 fand in London ein interessantes Treffen nach der so genannten Chatham-House-Regel statt, bei der die Identität derjenigen, die Aussagen oder «Fakten» präsentieren, verborgen bleibt. Das Treffen fand unter der Schirmherrschaft des «Center on Global Energy Policy» der Columbia University statt und trug den Titel «The Role of US Shale in European Energy Security and Trade».

Am Runden Tisch nahmen führende Experten aus Wissenschaft, Regierung, Industrie, Nichtregierungsorganisationen und aus Forschungseinrichtungen teil. Interessanterweise werden in dem Bericht (PDF) des Treffens der Arabische Frühling und die Russland-Ukraine-Krise als die wichtigsten «Herausforderungen» für die Energiesicherheit in Europa bezeichnet. Der Bericht ist langatmig, aber es ist klar, dass Russland das Zielthema ist.

In der Diskussion und dem anschliessenden Bericht werden geopolitische Ereignisse, Energieströme und Gewinne als voneinander unabhängige Variablen behandelt. Das ist seltsam, auch wenn die Diskussion immer wieder auf die Abhängigkeit Europas von russischer Energie, die Ukraine-Krise und die Frage zurückkommt, wie amerikanisches Schiefergas das durch diese «ungewöhnlichen» Ereignisse in den internationalen Beziehungen entstandene Vakuum füllen kann. Die Rhetorik dieser «Experten» täuscht allerdings wie immer über die eigentliche Wahrheit hinweg. Hier ist eine Passage aus dem Bericht:

  • «Die Streitigkeiten zwischen Russland und der Ukraine, die 2006 und 2009 zu einer Unterbrechung der Erdgaslieferungen nach Europa führten, haben die Anfälligkeit der europäischen Energiesicherheit deutlich gemacht, die durch die starke Energieabhängigkeit des Kontinents von Moskau entsteht. Diese Abhängigkeit erschwerte nicht nur die Fähigkeit der Europäischen Union, auf Ereignisse wie das jüngste russische Abenteurertum in der Ukraine zu reagieren, sondern macht Europa auch stark abhängig vom staatlichen russischen Gasunternehmen Gazprom und dessen Preispolitik.»

Wie man sieht, waren die Energieexperten und Interessenvertreter, die in London zusammenkamen, mehr auf die Gewinne von Gazprom als auf das Wohlergehen der Europäer und ihre Energiesicherheit fokussiert. Wer den gesamten Bericht liest, versteht, was während des Arabischen Frühlings, in der Ukraine, Jahre zuvor im Kaukasus und sogar bei den jüngsten Ereignissen in Kasachstan geschah.

Die Vereinigten Staaten haben die letzten eigenen Energiereserven aufgebraucht, um jetzt dem Rest der Welt den Wirtschaftskrieg zu erklären. Russland ist angesichts seiner historischen und ressourcenmässigen Position das Hauptziel. Iran, Venezuela, Libyen und andere erdöl- und erdgasreiche Länder sind sekundäre Ziele.

In den Sitzungsprotokollen aus London versteckt sich auch die aktuelle Strategie der Biden-Regierung. Zwischen den Zeilen dieser Columbia-Diskussion finden wir den wahren Kern des Problem und der Schwäche der USA. Diese Passage ist aufschlussreich:

  • «Russland verfügt über erhebliche ungenutzte Produktionskapazitäten in der alten westsibirischen Förderregion, in der praktisch alle Kosten gesunken sind. Daher kann Russland das Produktionsniveau ohne neue Investitionen problemlos erhöhen, sollte es beschliessen, amerikanisches Flüssiggas über den Preis vom europäischen Markt zu verdrängen».

Jetzt sehen wir den Grund für die Panikmache vor einer russischen Invasion in der Ukraine. Die Strategen haben unwissentlich den wahren Grund gezeigt, warum Washington so vehement einen Krieg anzetteln will.

Gehen wir vorwärts zu North Stream 2 und Wladimir Putins endgültigem Sieg über die grossen Energiekonzerne des Westens. Russland wäre damit in der Lage, jeden Preis für Gas- und Öllieferungen nach Europa zu unterbieten. Aus diesem Grund spricht die Regierung Biden von «lähmenden Sanktionen», sollten die Russen den Köder schlucken und die Ukraine ganz oder teilweise übernehmen. Tatsächlich wird die NATO von den westlichen Energie-Oligarchen als Werkzeug benutzt. Das ist die traurige, bittere, nackte Wahrheit.

Schliesslich kann der von Amerika erklärte Energiekrieg nur gewonnen werden, wenn die Russen aus dem europäischen Öl- und Gasmarkt «hinaussanktioniert» werden. Unsere genialen Freunde von Big Energy haben dies auf dem Londoner Treffen ebenfalls enthüllt.
Die europäischen Energieverträge mit Russland sind nämlich bis zum Jahr 2025 bindend, wenn viele der Gazprom-Verträge auslaufen. Europa ist vertraglich verpflichtet, den grössten Teil seiner importierten Energie ohnehin von den Russen zu beziehen.

Die einzige Möglichkeit der energiepolitischen Interessen der USA, Russland als Konkurrenten auszuschalten, ist also ein Krieg. Die einzige Chance auf einen Gewinn der amerikanischen Schieferoligarchen, ist eine «Invasion» Europas durch Russland. Dies ist der Hintergrund. Das ist das Dilemma, sowohl für Russland als auch für den Westen.

Im Bericht geht es ferner um Rohöl, und auch hier liegt der Schwerpunkt auf den russischen Lieferungen, vor allem an Polen, die Binnenländer Slowakei, Ungarn und die Tschechische Republik, die das Druschba-Pipelinesystem nutzen.

Die Leute, die an diesem Runden Tisch in London sassen, ahnten wahrscheinlich nicht, dass jemand ihre Ergebnisse analysieren würde, um sie als Handlanger eines möglichen Dritten Weltkriegs hinzustellen. Aber vielleicht wussten sie es ja, da sie sich auf die Chatham House Rule beriefen. Wie dem auch sei, Russland lieferte damals fast ein Drittel des europäischen Rohölbedarfs.

Letztendlich geht es bei der gesamten geopolitischen Krise zwischen West und Ost um Preise und Gewinne. Die unkonventionelle US-amerikanische Öl- und Gasproduktion kann nicht nur wegen der grossen Entfernungen nicht mit den russischen oder sogar den OPEC-Kapazitäten mithalten.

Energie aus Schiefergestein ist teuer, und ein Grund dafür, dass die Regierung Biden Russland vor sich hintreibt, sind die verheerenden Einkommensverluste, welche die tiefen Preise den Energieoligarchen im Westen beschert haben. [Durch die Kriegsgefahr haben sie sich inzwischen erhöht, Red.]

Und täuschen Sie sich nicht: Der derzeitige Krieg gegen Russland ist nicht etwas, das sich amerikanische Denker erst 2015 bei einem halb geheimen Treffen ausgedacht haben. Dieser Bericht des Brookings-Instituts vom März 2002 offenbart mehr von dem Neid und den Sorgen, die Washington seit Jahrzehnten hegt: «Russia: The 21st Century's Energy Superpower?» Der Titel sagt eigentlich schon alles. Ich möchte Ihnen den Kern der Einschätzung dieser Denkfabrik von vor 20 Jahren nicht vorenthalten.

  • «Russlands Gasreserven übertreffen bei weitem die eines jeden anderen Landes. In der Tat ist Russland für Erdgas, was Saudi-Arabien für Öl ist. Mit 32 Prozent der nachgewiesenen Weltreserven liegt Russland weit vor dem Iran (15 Prozent), Katar (7 Prozent), Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten (4 Prozent) sowie den Vereinigten Staaten und Algerien (3 Prozent). Gazprom, der russische Gasriese, besitzt ein Viertel aller weltweiten Gasreserven, kontrolliert 90 Prozent der russischen Produktion und ist Russlands grösster Devisenbringer».

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Phil Butler, ist Politikwissenschaftler und Osteuropaexperte, Autor des Bestsellers «Putin‘s Praetorians» und anderer Bücher.
Der Artikel wurde mit freundlicher Genehmigung vom online-Magazin «New Eastern Outlook» übernommen.