Die schamlose Bewirtschaftung der Angst

Unnötige medizinische Untersuchungen und überflüssige chirurgische Eingriffe fressen Milliardenbeträge unserer Krankenkassenprämien weg. Aber fast niemand schaut hin.

Illustration: ron&joe

Die Verschwendung von Ressourcen in der Medizin könnte ohne Minderung der Qualität des Gesundheitswesens gestoppt werden. Könnte! Tut es aber nicht, weil Kommerz und Ängste wichtiger geworden sind als medizinische Versorgung. Gegen diese Gewichtsverlagerung und für mehr Vernunft und Fairness setzt sich unter anderen die Akademie Menschenmedizin ein. Impulse setzend ihre Präsidentin, die klinische Psychotherapeutin Annina Hess-Cabalzar, Dr. med. Brida von Castelberg und Dr. med. Christian Hess. Mit ihnen haben wir ein Gespräch geführt, um Hintergründe auszuleuchten.

Medizinische Überbehandlung und Unterversorgung bedingen sich wie Huhn und Ei. Wo eines zu viel ist, fehlt es andernorts. Örtlich kann es zu wenig Hausärzte geben. Wo es zu viele Spezialisten einer Sorte gibt, wird mehr operiert, beispielsweise Gelenke eingesetzt, Gebärmutter entnommen, Rücken operiert. Selbständig werdende Ärztinnen und Ärzte gehen tendenziell nicht gerne in unterversorgte Gebiete, sondern in erster Linie dorthin, wo sie (auch) mit einer guten geschäftlichen Basis rechnen können. Vielleicht ebenfalls, wo sie dank Gemeinschaftspraxen Teilzeit arbeiten können.

Durch die Überweisung von Patienten zu Spezialisten verstärkt sich die Tendenz, dass unnötig untersucht und operiert wird. Andere Anreize für vertiefte Untersuchungen sind diffuse Ängste der Menschen vor vermuteten Krankheiten, Minderleistungen des Körpers im Alter, Werbung von Spitälern, Boni oder Vermittlungsgebühren für Ärzte. Immer mehr Ärzte preisen sich im Internet an, wo das Werbeverbot nicht gilt. Zu viel wird mit schwacher wissenschaftlicher Grundlage als «sinnvolle Prävention» verkauft, etwa das Brustkrebs-Screening. «Das Anreizsystem im Gesundheitswesen fördert die Mengenausweitung, speziell die Kosten für unnütze Untersuchungen und medizinische Eingriffe», so Christian Hess.

Es gibt jetzt zum Glück die staatenübergreifende Tendenz, dass unter dem Begriff «Smarter Medicine» offiziell empfohlen wird, auf gewisse Leistungen zu verzichten, weil sie nicht wirklich Nutzen schaffen. Weniger Medizin kann mehr sein, vorausgesetzt, es liegen keine Anzeichen ernsthafter Erkrankungen vor.
Was ihren medizinischen Zustand betrifft, lassen die Menschen alle möglichen und scheinbar nötigen Abklärungen und Eingriffe über sich ergehen, um vermeintlich gesund zu bleiben. Dahinter steckt die Vorstellung, dass – dank Forschung – nahezu alles machbar ist. Es herrscht eine Art «Reparatur-Mentalität». Man will sich nicht länger als gesundheitlich anfälliges Wesen sehen, sondern als Leistungskörper, der bis zum Tod jederzeit geflickt werden kann – zurück zur gedachten gesundheitlichen Perfektion bis ins hohe Alter. Mit Hilfe des Arztes sollen undefinierbare Ängste vermieden oder aufgelöst werden, die oft keine körperliche Basis haben, sondern eine psychische.

Die medizinische Bekämpfung von Ängsten führt zu starker Mengen- und damit Kostenausweitung. Etwa bei «vorsorglichen» Untersuchungen. Wobei alle Fachleute wissen: Wer medizinisch untersucht, der findet immer kritische Werte, aus denen sich ein Bedarf nach Eingriffen ableiten lässt. Die Behandlungen sind ja eigentlich gratis, respektive durch Zahlung der Krankenkassenprämien im Voraus bezahlt. Medizinische Leistungen sind teilweise zum Konsumgut verkommen; statt als (potenzielle) Patienten sehen sich weite Teile der Bevölkerung als «Kunden».
Menschen wollen Sicherheit, und zwar subito: Bei Verdacht wird kaum noch abgewartet und beobachtet, wie sich eine Sache medizinisch entwickelt – Hauptsache, der Arzt tut etwas. «Irgendwie fehlt das Urvertrauen ins Leben und das Wissen um die Bedingungen des Lebens», so Annina Hess-Cabalzar.

Überversorgung als Geschäft: Es ist nicht verwunderlich, dass die wachsende Belastung durch die Krankenkassenprämien immer mehr Familien in Nöte bringt. Gleichzeitig fürchten sich auch viele Leistungserbringer vor Einkommensverlusten. Es erstaunt deshalb nicht, dass der Abbau von überflüssiger und zum Teil schädigender Überversorgung nur zögerlich an die Hand genommen wird. Die angestrebte Verlagerung von stationären zu ambulanten Behandlungen mag Einsparungen bringen, produziert aber viele leere Spitalbetten. Mit Folgen: Die Kosten für die Spitäler bleiben hoch, aber die Einnahmen sinken. Also wird an Personal gespart, was mancherorts zu Unterversorgung führt. Lieber wird weiterhin grosszügig in Maschinen investiert. Beispielsweise in neue Computersysteme, für die jedes Spital seine individuelle Lösungen kreiert, die schweizweit nicht kompatibel ist. Man kann das als Geldverschwendung zulasten der Steuerzahler sehen.

Boni und Vermittlungsvergütungen verteuern unnötig: «Ärzte und andere Fachpersonen sollen gut verdienen», so Brida von Castelberg – und das ist auch die Meinung der beiden anderen Fachpersonen. «Am besten in Form von Festlöhnen, nicht mit zusätzlichen finanziellen Anreizen kommerzieller Art zwecks Steigerung von Umsätzen. Denn diese fördern nutzlose medizinische Untersuchungen und Eingriffe.» Weniger Kommerz schafft manchmal mehr Vertrauen.

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Wie das Gesundheitswesen der Pharmaindustrie geopfert wird

Noch bis in die 60er-Jahre konnten Medikamente ohne wasserdichte wissenschaftliche Prüfung auf den Markt gebracht werden. Der schottische Arzt Archibald Cochrane (1909 – 1988) verlangte schon während seiner Studienzeit anstatt professoraler Empfehlungen hieb- und stichfeste Beweise für die Wirksamkeit von Therapien. Später entwickelte er die randomisierten, placebo-kontrollierten Studien, mit denen heute fast alle Medikamente vor der Einführung geprüft werden. Sein Einsatz für die evidenz-basierte Medizin wurde zu einer weltweiten Bewegung. 1993 wurde die «Cochrane Collaboration» gegründet und zu einer der angesehensten wissenschaftlichen Organisation. Aber auch sie steht unter Druck, wie die WHO, die heute von den Spenden von Multimilliardären abhängig ist und viele nationale Gesundheitsbehören mit Experten, die von der Pharmaindustrie bezahlt werden.

Mitte September hat der Vorstand der Cochrane Collaboration mit knapper Entscheidung sein Gründungsmitglied Peter Gøtzsche ausgeschlossen. Der streitbare Mann, Professor für klinisches Forschungsdesign und Analyse an der Universität Kopenhagen, hat sich mit seinen bestens dokumentierten Bestsellern «Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität: Wie die Pharmaindustrie unser Gesundheitswesen korrumpiert» (2014) und «Tödliche Psychopharmaka und organisiertes Leugnen» (2016) offenbar genügend Feinde geschaffen. Gøtzsche wurde wegen eines lächerlichen Streits über die Bewertung der umstrittenen Impfung gegen Gebärmutterhalskrebs geschasst. Fast die Hälfte der verbliebenen Vorstandsmitglieder trat aus Protest zurück.
Der Vorgang mag den Mainstream-Medien keine Nachricht wert sein. Aber er signalisiert einen weiteren bedenklichen Schritt in der Demontage unseres Gesundheitssystems.    CP

 

 

17. Dezember 2018
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