Die Schweizer Lehre für die Welt

In Entwicklungs- und Schwellenländern träumen viele vom sozialen Aufstieg. Dieser gelingt mit einer soliden Berufsbildung, findet Franz Probst. Der Mann, der schon über 5000 Indern eine Berufslehre ermöglicht hat, ist kein Altruist, sondern ein Pragmatiker. Seine Firma «Skillsonics» soll rentieren. Deshalb verhandelt er nicht mit Entwicklungshelfern, sondern mit Geschäftspartnern.

Mary Sagaya ist 21, ledig, und hat einen Traum. Sie möchte einmal als Berufsschullehrerin Mechaniker und Techniker ausbilden. Noch ist ihr Wunsch in weiter Ferne, aber die Chancen, ihn zu realisieren, stehen gut. Heute steht Mary im zweiten Lehrjahr zur Polymechanikerin bei der Schweizer Niederlassung des Getreidemühlen-Herstellers «Bühler» in Bangalore, Indien. Die Ausbildung dauert zwei Jahre – die eine Hälfte der Woche verbringt Mary in der Lehrwerkstatt und die andere im Unterricht. Der Lehrlingslohn beträgt 8300 indische Rupien im Monat, umgerechnet 130 Franken. Das ist deutlich mehr als der indische Durchschnittslohn von rund 90 Franken pro Monat. Mary kann damit ihre Familie unterstützen.  
Dass die junge Frau diesen Ausbildungsweg beschreitet, ist in Indien, wo heute nur gerade zwei Prozent aller Werktätigen eine Berufsausbildung durchlaufen haben, eine Seltenheit. Zu verdanken hat sie es einem Anwalt aus Winterthur. Franz Probst hat schon über 5000 jungen Indern eine Lehre ermöglicht – bis 2022 sollen es eine Million sein. Da die indische Regierung plant, bis 2023 bis zu 500 Millionen Berufsleute auszubilden, fällt sein Engagement auf fruchtbaren Boden.
Probst sitzt in seiner Kanzlei und erzählt in einem Gemisch aus Bern- und Zürichdeutsch von Indien, wo er einen Teil seiner Schulzeit verbracht hat. Land und Leute liegen dem 60-jährigen am Herzen. Er ist ein Menschenfreund mit einer Vision: «Jeder Mensch soll im 21. Jahrhundert Zugang zu einer Ausbildung haben, die ihm einen anständigen Lebensunterhalt ermöglicht.» Aber Franz Probst will kein Wohltäter sein. Er will mit seiner Firma auch Geld verdienen, um die Kosten zu decken und expandieren zu können – was weiteren Menschen eine Ausbildung ermöglichen soll.

Das Interesse der offiziellen Schweiz  
Um sein Ziel zu erreichen, hat er mit einem indischen Partner «Skillsonics» gegründet. Das Unternehmen passt die Schweizer Lehre auf indische Bedürfnisse an. Insgesamt sind es 100 verschiedene Berufsausbildungen, die das
Unternehmen anbietet – und es werden immer mehr. Dabei werden nicht nur Lernende, sondern auch Berufsschullehrkräfte ausgebildet und Lehrmittel entwickelt. Dass Probst als Partner für sein Projekt den Verband der Schweizer Maschinenindustrie sowie das Eidgenössische Hochschulinstitut für Berufsbildung gewinnen konnte, ist nicht nur seinem offenen Wesen geschuldet. Auch der Bundesrat hat ein Interesse, die duale Schweizer Berufsausbildung weltweit bekannt zu machen. Er will damit den Ruf der Schweiz als Arbeits- und Werkplatz mehren. Die Überlegung: Der Ausbau der Berufsbildung in Indien soll die Wirtschaftsbeziehungen fördern. Nicht zuletzt haben aber auch Schweizer Firmen in Indien ein Interesse an gut ausgebildeten Fachkräften. Denn diese finden sich in Indien gar nicht so einfach. 

Akademikerschwemme statt Handwerker
Wenn die Wasserleitung tropft, findet man schnell jemanden, der das Leck stopft. Ob die Leitung am nächsten Tag immer noch dicht ist, ist eine andere Frage. Während Jahrzehnten lag der Schwerpunkt im indischen Bildungssystem auf der akademischen Ausbildung. Eine Lehre wie in der Schweiz, existiert in Indien nicht. Dies rächt sich heute. Das Land wird von Akademikern überschwemmt, während es kaum ausgebildete Handwerker gibt.
Der Grund: Die praktische Ausbildung hat ein schlechtes Image. Diese wird als Ausbildung betrachtet, die «nur» zu einem «Blue Collar»-Beruf führt, in dem man sich die Hände schmutzig macht – einem Job, der keine Aufstiegsmöglichkeiten bietet.
Probst weiss, dass deshalb noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten ist. Dies fängt bei den Unternehmen an: «Die Erkenntnis, dass sich die Ausbildung der Mitarbeiter auszahlt, reift erst, wenn die Firmen sehen, dass sie mit Fachkräften effizienter und qualitativ besser arbeiten können.» Optimistisch stimmt Probst, dass die Nachfrage nach «Swiss Skills», die in Fachkreisen in Indien ein hervorragendes Image geniessen, laufend steigt. Zurückzuführen ist dies auf einen strategischen Erfolg von Probst: Die «National Skills Development Corporation», die sich in Indien für die Förderung der Berufsausbildung einsetzt und der über 4000 Berufsschulen angeschlossen sind, ist als Partnerin bei «SkillSonics» eingestiegen.


Berufsbildung nicht nur privaten überlassen
Die klassische Entwicklungszusammenarbeit zwischen der Schweiz und Indien wurde 2010 nach über fünfzig Jahren gestoppt. Das Land, das 2013 eine Sonde zum Mars schickte, gilt zu Recht nicht mehr als Entwicklungsland. Es steht mitten in der Industrialisierung und hat das Potenzial zu einer wirtschaftlichen Weltmacht.  Die Wirkung der einst geleisteten Entwicklungshilfe in Indien ist umstritten: Die Eidgenössische Finanzkontrolle untersuchte 2013 die Nachhaltigkeit von Schweizer Entwicklungsprojekten in Indien und kam zu ernüchternden Resultaten.
Staatliche Interventionen geniessen in Indien wenig Kredit in der Bevölkerung. Der Staat gilt als träge, inneffizient und korrupt. Grösser ist das Vertrauen in die Unternehmer, was auch Probsts Firma zugutekommt. Sie verspricht besser ausgebildete Fachkräfte hervorzubringen. Für Probst ist allerdings klar, dass man die Ausbildung nicht allein Privaten überlassen darf. «Es braucht eine Aufsicht, die sicherstellt, dass die Ausbildung nicht nur auf die spezifischen Bedürfnisse der jeweiligen Firma beschränkt ist und qualitative Vorgaben und Sorgepflichten eingehalten werden», so der Unternehmer. Deshalb arbeitet SkillSonics eng mit Organisationen der Berufsbildung zusammen. Auch die Caritas verfolgt den Ansatz von Probsts Projekt mit grossem Interesse.


900 Franken für eine zweijährige Lehre
Die indische Tochter des Schweizer Technikkonzerns ABB bildet heute doppelt so viele Lehrlinge mit Hilfe von SkillSonics aus wie vor zwei Jahren. Trotzdem verdient SkillSonics mit indischen Tochterfirmen von Schweizer Unternehmen, die heute noch einen grossen Teil seiner Kunden ausmachen, allein nicht genug. Die Lehrlinge, die Probst für schwarze Zahlen braucht, muss er in indischen Firmen holen. Für jeden Lehrling, der einen zweijährigen Lehrgang absolviert, erhält Skillsonics 900 Franken vom Unternehmen. Mit den jährlich heute 250 Lehrlingen sind die Kosten für Lehrmaterial und Qualitätskontrollen noch nicht gedeckt – dazu braucht es 800 Lehrlinge pro Jahr. An Potenzial mangelt es allerdings nicht: Zwölf Millionen Jugendliche kommen jedes Jahr auf den Arbeitsmarkt.

Weltweites Interesse
Obwohl er als Jurist die Lehre nie am eigenen Leib erfahren hat, ist Franz Probst überzeugt von der Schweizer Berufsausbildung: «Handwerk hat immer noch einen goldenen Boden». Heute steht er in Verhandlungen mit Unternehmen und Organisationen in Südafrika und Brasilien, die sich für «Swiss Skills» interessieren.
Und woher nimmt Franz Probst die Energie her, mitunter schwierige Verhandlungen zu führen und interkulturelle Brücken zu schlagen? Seine Antwort ist simpel: «Ich will etwas Sinnvolles tun im Leben und Spuren hinterlassen.»    



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Die Tätigkeit von SkillSonics geht zurück auf das Jahr 2008. Damals lancierte Bundesrätin Doris Leuthard die «Swiss Vocational Education and Training Initiative India» als öffentlich-privates Pilotprojekt in Indien. Das Team der heutigen SkillSonics führte das Projekt, das vom Eidgenössischen Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation teilfinanziert wurde. In Absprache mit den Schweizer Organisationen gründete Franz Probst 2012 zusammen mit dem indischen Projektleiter SkillSonics. Zu den Partnern des Unternehmens gehören in der Schweiz unter anderem der Verband der Schweizer Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie (Swissmem) und das Eidgenössische Hochschulinstitut für Berufsbildung.