Documenta – Gemeinschaft statt Elfenbeinturm

«Land, Water, Earth: Call me Mother» Das Banner von Taring Padi von 2014 war Teil einer Widerstandskampagne gegen ein Kohlekraftwerk in Zentral-Java. Die Künstlergruppe verbrachte dazu zwei Wochen in den Fischerdörfern, die durch das Kohlekraftwerk bedroht waren.

Foto: Christa Dregger

Zum ersten Mal besuche ich die documenta. Außer den Antisemitismus-Vorwürfen wusste ich nicht wirklich, was mich erwartet. Nach ein paar Stunden verschwimmt alles vor meinen Augen, ich werde fast ärgerlich. «Was soll das hier, wer erklärt mir denn mal was?» Doch dann fügen sich die tausend Eindrücke zu einem Ganzen zusammen: Eine Kirche echter Stille. Eine Unterführung, wo ich die Geschichte meiner Gemeinschaft, meiner Heimat erzählen darf und sie aufgenommen wird. Ein altes Hallenbad mit grellbunten Bildern und Transparenten, die Korruption und Ausbeutung in Indonesien anprangern. Eine still gelegte katholische Kirche, in der eine Gruppe aus Haiti die Kolonialzeit mit Figuren wie aus der Geisterbahn verarbeitet. Eine digitale Anzeige hoch an der Fassade des Fridericianums, die den rasant wachsenden Betrag anzeigt, den die australische Regierung den Aborigines für den Landraub schuldet. Eine Klanginstallation von einem Ritual der Trauer und des Neuanfangs in Südafrika. Eine Filmreihe aus einem eindrücklichen Frauengebetsritual in Zentralasien im Keller des Fridericianums, wo wir als Betrachter selbst in immer neue Räume des Fühlens geführt werden. Aufnahmen von Filipinos und Filipinas, die Tag und Nacht in einer Lebensmittelwarteschlange stehen und sich über Politik austauschen. Viele Filme, Bilder, Skulpturen, Installationen von Menschen des globalen Südens, die ihre Kraft ausdrücken – durch Formen des Widerstands, des Zusammenkommens, alter und neuer Rituale. 

Fridericianum

Und wir lernen neue Worte, z.B. LUMBUNG, das Motto der diesjährigen documenta: In ländlichen Gemeinschaften Indonesiens wird die überschüssige Ernte in gemeinschaftlich genutzten Reisscheunen (Lumbung) gelagert und zum Wohle der Gemeinschaft nach gemeinsam definierten Kriterien verteilt. Lumbung folgt den Werten Großzügigkeit, Humor, lokale Verankerung, Unabhängigkeit, Regeneration, Transparenz und Genügsamkeit.

Oder NONGKRONG: Nongkrong ist ein indonesischer Slang-Begriff aus Jakarta und bedeutet «gemeinsam abhängen». Ein ungezwungenes Gespräch und Miteinander, aber auch das Teilen von Zeit, Ideen oder Essen sind in diesem Begriff verankert. Für die Künstlergruppe ruangrupa (die Kuratoren der documenta) ist nongkrong eine wichtige Praxis.

 

Das hauptsächliche, wiederkehrende Motiv in den 100 Tagen der documenta ist die Einladung, sich niederzulassen, gemeinsam «abzuhängen», zusammenzukommen, zu reden, Gemeinschaft zu bilden. Kunst als Widerstand, Gemeinschaft als Kunst – das ist die Botschaft der documenta, wie ich sie verstanden habe. 

 

Und was ist jetzt mit dem Antisemitismus? Wenn Künstlergruppen aus dem globalen Süden die reiche Klasse als Schweine darstellt, kann ich das angesichts der jahrhundertelangen Unterdrückung verstehen (auch wenn das gegenüber den Schweinen sehr unfreundlich ist). Dass sie gleichzeitig in ihren Widerstand altes Wissen um Liebe, göttliche Kräfte und Rituale einbeziehen, berührt mich. Dass es einige linke Gruppen gibt, die gleichzeitig islamistische oder judenfeindliche Inhalte mittransportieren, ist extrem uncool – wie die berühmten 1% Randalierer bei einer sonst friedlichen Demo. Dass man das zum Anlass nimmt, diese erste echte Weltkunstausstellung gegen den globalen Krieg zu diffamieren, ist schade und dumm. 

17. September 2022
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