Ein Angriff auf das Leben

Hebammen stehen rechtlich, finanziell und administrativ unter immer grösserem Druck. Die Geburt als natürlicher Vorgang wird mehr denn je in ein medizinisches Korsett gezwängt – mit negativen Folgen für die Gesundheit.

Freischaffende Hebammen sind in den letzten Jahren unter Druck geraten. Verschärfte Bedingungen im Gesundheitssystem fordern ihren Tribut, lange Anfahrtswege und viel administrativer Aufwand gehen zu Lasten der eigentlichen Aufgaben der Hebamme, die Begleitung der Geburt und die Betreuung der Wöchnerin. Seit 1996 arbeiten die freischaffenden Geburtshelferinnen in der Schweiz zu demselben, längst nicht mehr marktgerechten Hebammentarif, während Spitalhebammen oder frei praktizierende Pflegefachkräfte finanziell deutlich bessergestellt wurden.


Viele freischaffende Hebammen bieten heute keine Geburtshilfe mehr an, sondern haben sich auf Schwangerschaftsberatung und Wochenbettbetreuung spezialisiert. Der dauernde Pikettdienst, die vielen durchwachten Nächte und der schlechte Lohn nagen auf die Dauer an den Kräften. «Man wirkt dort, wo es möglich ist», sagt S. M., die nicht mit Namen genannt werden will. Sie betreut keine Hausgeburten mehr, weil sie keine Kollegin mehr gefunden hat, welche die Dienste mit ihr teilen und Arbeitsintensität und Risiko der Hausgeburtsbegleitung auf sich nehmen wollte. «Die Gesellschaft muss selbst wählen, welche Art von Geburt sie will», meint sie resigniert. So sehr alle diese Frauen ihren Beruf lieben: nicht wenige von ihnen rasseln in ein Burnout, geben auf oder arbeiten in anderen Bereichen. So etwa Barbara Trübner, Hebamme aus Deutschland, die über 30 Jahre lang Hausgeburten begleitet hat. «Heute begleite ich Frauen mit Heilarbeit, die von der Geburt traumatisiert und verletzt sind.» Als alleinerziehende Mutter dreier Kinder kam sie selbst körperlich, seelisch und finanziell an ihre Grenzen.


Prekär sei auch, dass die deutschen Haftpflichtversicherungen für Hebammen ins Unermessliche gestiegen seien und dazu auch noch vorfinanziert werden müssten, was für sie schlicht unbezahlbar wurde. Kostenbeispiel der Wochenzeitung «Zeit» vom 18. Februar 2014: Eine freiberufliche Hebamme verdient im Schnitt 1800 Euro monatlich. Davon musste sie eine Prämie für die Haftpflichtversicherung von 350 Euro bezahlen. 2014 ist der Satz auf 5100 Euro hochgeschnellt, fast drei Monatslöhne – der wirtschaftliche Tod einer ganzen Branche.


Am Pranger
Dramatisch verschärft hat diese Situation die Verurteilung der freischaffenden Hebamme und Ärztin Anna Rockel-Loenhoff vom 1. Oktober 2014 im Zusammenhang mit dem Tod eines neugeborenen Kindes. Die 61-jährige Geburtshelferin gilt unter ihren Berufskolleginnen als Koryphäe. Sie war Lehrhebamme an der Duisburger Hebammenschule, Autorin diverser Fachartikel, ist Mutter von drei Kindern und hat in ihrer 30-jährigen Tätigkeit über 2000 Hausgeburten, darunter 120 mit Steisslagen, ohne Zwischenfälle betreut. Anna Rockel-Loenhoff galt als Spezialistin dafür, Beckenendlagen mit einer normalen Geburt zu entbinden. Dieses einst gängige geburtshilfliche Handwerk wird heutzutage kaum mehr angewandt; Hebammen und Ärzte scheuen das Risiko. Das war auch der Grund, warum die Eltern des Babys Greta extra aus Lettland anreisten: Sie wünschten sich für ihr Kind trotz Beckenendlage eine natürliche, selbstbestimmte Geburt. Dass das Neugeborene leblos zur Welt kam, ist tragisch für die Eltern und der Albtraum jeder Geburtshelferin. Hätte sich dieselbe Geburt in einem Spital zugetragen, wäre der Fall allerdings einiges milder beurteilt worden.


Doch an der hochqualifizierten Rockel-Loenhoff sollte offensichtlich ein Exempel statuiert werden: gegen selbstbewusste Geburtshelferinnen und deren tiefes Wissen um die Geburt, das sich an Rhythmen und Gezeiten des weiblichen Körpers orientiert und nicht dem Verlauf des Wehenschreibers entspricht.
Die Staatsanwaltschaft wirft Rockel vor, aus rein ideologischen Gründen die Mutter nicht rechtzeitig in die Klinik verlegt zu haben, wo das Kind mit einem Kaiserschnitt hätte gerettet werden können. «Unklare Todesursache» steht auf dem Totenschein. Bei der Gerichtsverhandlung widersprechen sich die Gutachter, vor allem hinsichtlich der Entwicklung der Lunge des Babys, die trotz sofortiger Reanimation durch zwei erfahrene Ärzte nicht belüftet werden konnte. Doch die Obduktion war unerklärlich lückenhaft, die für nötig gehaltenen Abklärungen wurden als abgeschlossen erklärt und der Leichnam des kleinen Mädchens freigegeben, kremiert und beigesetzt.


Vier Jahre später wurde gegen Rockel-Loenhoff Anklage erhoben, und zwar skandalöserweise nicht etwa wegen fahrlässiger Tötung oder unterbliebener Hilfeleistung, sondern wegen Totschlags: «Sie trägt für den Tod die alleinige Verantwortung. Sie ist des Totschlags schuldig, weil sie als Beteiligte samt all ihres Fachwissens unbeteiligt geblieben ist ». Sie habe also nicht fahrlässig gehandelt, sondern den Tod des Kindes «billigend in Kauf genommen», so der Richter. Die Kindeseltern treten nun plötzlich als Nebenkläger auf. Gerade sie, die für diese Geburt ohne Kaiserschnitt extra von weit her angereist waren. Haben sie etwa gefürchtet, selbst wegen Beihilfe zum Totschlag ihres Kindes angeklagt zu werden? Sechseinhalb Jahre Haftstrafe für eine 61-jährige Hebamme, mehr als 50 000 Euro Schmerzensgeld und Schadenersatz an die Eltern sowie ein lebenslanges Berufsverbot als Hebamme und als Ärztin lautet das noch nicht rechtskräftige Urteil. Die Verteidigung hat Revision beantragt, doch Rockel steht beruflich vor einem Scherbenhaufen, und mit ihr die uralte Heilkunde der Geburtshilfe durch Hebammen.


«Geburt ohne Gewalt» ade?
In den siebziger Jahren revolutionierte er die Geburtshilfe: Der Gynäkologe Frédérik Leboyer betrachtete die Geburt vor allem aus dem Blickfeld des Kindes und forderte, den Geburtsakt Mutter und Kind zurückzugeben: «Im Krankenhaus bestimmen die Geburtshelfer die Spielregeln. So besteht Gefahr, dass man Mutter und Kind ihre Geburt stiehlt. Eine Geburt ist etwas Natürliches, Alltägliches, Gesundes. Für den Arzt ist da kein Platz. Erst wenn es wirklich zu etwas Unvorgesehenem kommt, soll der Arzt eingreifen», sagte der heute 97-jährige Leboyer und verglich die Geburt mit einem wilden Sturm, bei dem ähnlich wie beim Orgasmus sämtliche Tabus fallen und es nichts mehr zu steuern gibt.


Im Krankenhaus mit einer Schar von Zuschauern, bei grellem Licht und zwischen Messgeräten sei diese Intimität nicht zu erreichen. Bei einer Hausgeburt mit einer erfahrenen Hebamme seien die Bedingungen günstiger. Neugeborene sollten liebevoll und möglichst ohne Stress auf die Welt gebracht werden. Nach der Geburt soll die Mutter das Kind nach ihrem eigenen Impuls zu sich nehmen. Die Nabelschnur wird nicht unmittelbar nach der Geburt durchtrennt, sondern erst nach der Geburt der Plazenta. Dem Kind fällt so die Umstellung auf die selbständige Atmung leichter und Kind und Mutter haben Zeit, sich in Ruhe zu begegnen.


Unter dem Diktat des Wehenschreibers
Werdende Eltern suchen vermehrt die Sicherheit in den Spitälern. In den Gebärsälen allerdings herrscht oft Hektik, sowohl Ärzte als auch Hebammen setzen die Gebärende dadurch unter Druck. So wird sie als Erstes verkabelt, man gurtet ihr den Herzton-Wehenschreiber um den dicken Bauch und überlässt sie sich selbst. Angeschlossen an eine Maschine, die Sicherheit vorspiegelt, soll die Frau sich nun entspannen und öffnen. Die Hebamme überwacht die Geräte, doch entspricht das Kontrollierte nicht den Vorgaben, kommt Druck von Ärzteseite. Druck, den die dem Arzt unterstellte Hebamme an die Mutter weitergibt mit dem Resultat, dass sich die Gebärende verkrampft.


«Der Stellenabbau auch bei Spitalhebammen führt zu weniger Fachpersonal, was zu heftigen Pikettdiensten führt, bei denen oft von einer Hebamme mehrere Gebärende gleichzeitig zu betreuen sind», weiss Barbara Stocker, Präsidentin des Schweizerischen Hebammenverbandes. Häufige Schichtwechsel und Stress im Dienst sind nicht förderlich für eine sanfte Geburt. Eine gesunde Frau wird zwischen Schwangerschaft und Wochenbett von über zwanzig verschiedenen Leuten betreut. Damit bei dieser Art von Patientenbehandlung ein Überblick bleibt, gibt es jetzt dafür speziell ausgebildete Casemanager. Das Geschehen im Spital wird in erster Linie von Sicherheitsdenken beherrscht, der Herzton-Wehenschreiber gibt die Richtung an.


Jeder Eingriff hat Konsequenzen
Dass eine natürliche Geburt das Kind optimal auf die Aussenwelt vorbereitet, geht dabei vergessen: Auf dem Weg durch die Vagina wird das Immunsystem des Säuglings von den Bakterien der Mutter regelrecht geimpft und die Abwehr kommt in Gang. Bei einem Kaiserschnitt fehlt diese natürliche Immunisierung. Studien belegen bei Kaiserschnittkindern ein erhöhtes Risiko für Diabetes und Asthma, krankhaftes Übergewicht und diverse Auto-immunstörungen. Zudem liegt die Säuglingssterblichkeit bei Kaiserschnittgeburten gemäss einer Studie der Universität Genf von 2009 – der weltweit grössten ihrer Art – doppelt so hoch. «Die hohe Kaiserschnittrate an Spitälern ist für mich das Eingeständnis für mangelnde Ausbildung in der Geburtshilfe. Ein Kaiserschnitt ist in Tat und Wahrheit nur in den seltensten Fällen eine Hilfe», schreibt die österreichische Ärztin Ulrike Haas. Jedes dritte Baby in Österreich erblicke mittlerweile bei einem Kaiserschnitt das Licht der Welt. Die oftmals als «sanft» beschriebene Form der Geburt sei heutzutage die häufigste Operation bei Frauen im gebärfähigen Alter. Die von der Medizin so angepriesene, weil angeblich risikoarme Form der Geburt, wird aber von Frauen vielfach als Trauma erlebt.


Eine Geburt ist ein so vielschichtiger Prozess, dass jede Intervention das Geschehen verändert, denn der ganze Prozess ist stark hormonell gesteuert. Wenn man diesen Prozess stört, gibt es Kaskadeneffekte. Eine Rückenmarksanästhesie beispielsweise stoppt die Ausschüttung von körpereigenem Oxytocin und Endorphin, welche die Wehen auslösen und Schmerzen mindern. Die Geburt kommt ins Stocken und es müssen Wehenmittel verabreicht werden. Wird die Geburt künstlich eingeleitet, sind die Wehen oft sehr schmerzhaft, weil keine körpereigenen schmerzlindernden Endorphine ausgeschüttet werden; also braucht es wiederum Schmerzmittel. All das könnte man in vielen Fällen verhindern, indem man den Frauen Ruhe, Schutz und Unterstützung bietet – das Kernhandwerk des Hebammenberufes. Läuft der Prozess nämlich ungestört ab, so wird nicht «nur» ein Kind, sondern auch eine glückliche Mutter geboren, die dank den Endorphinen in einem euphorischen Zustand ist, der alle Strapazen vergessen macht.


Dass bei Komplikationen die ärztliche Notfallmedizin beigezogen und Hand in Hand mit der Geburtshilfe die Frau unterstützen sollte, versteht sich für jede Hebamme von selbst. Dass man sich aber heute fast rechtfertigen muss, wenn man sich eine natürliche Geburt wünscht, bleibt vielen freischaffenden Hebammen unverständlich. «Viele Frauen kommen nicht mehr gestärkt aus der Geburt, oft kommen sie völlig irritiert aus dem Spital», sagt die Winterthurer Hebamme Regina Grimm. Wie viele ihrer Hebammenkolleginnen konzentriert sie sich heute auf alle Themen um die Geburt – ausser die Geburt selbst: und trifft dabei erschreckend häufig auf zutiefst verletzte Frauen.


Geburtshilfe im Korsett
Es ist ein Drama, dass das natürliche Geschehen einer Geburt heute mehr denn je in ein medizinisches Korsett gezwängt wird unter dem Gesichtspunkt einer fragwürdigen Sicherheit. «Es ist ein Angriff auf die Geschichte der Frau. Heute betreuen junge, studierte Hebammen die Frauen, welche zwar vom Lesen von Statistiken, nicht aber von einer natürlichen Geburt eine Ahnung haben», sagt Barbara Trübner. Die jungen Studierenden erhalten in der Ausbildung zwar Einblick in die ausserklinische Geburtshilfe, sei dies bei freiberuflichen Hebammen oder in Geburtshäusern. Doch es mangelt klar an Praktikumsplätzen, da die freiberuflichen Hebammen für die Betreuung der Studierenden von niemandem einen Lohn erhalten und die Ausbildungsarbeit darum quasi gratis machen müssen.


«Diese junge Leute trauen sich doch nicht mehr allein raus zu den Frauen. Sie haben ja auch keine Möglichkeit, mit einer Hebamme unterwegs praktische Erfahrungen zu sammeln. So stirbt der Beruf der freien Geburtsbegleiterinnen langsam aus.» Trübner hätte sich nie träumen lassen, einmal von der Geburt traumatisierte und verletzte Mütter und Babys zu betreuen. «Doch das Schicksal scheint mich dort zu wollen, wo Heilung nötig ist.» Und sie ist überzeugt: «Wer sein Kind nicht auf natürliche Weise gebären darf, wird auch später Mühe haben, es führen und leiten zu können. Gerade darum ist meine Liebe nach wie vor bei den Frauen und Kindern und bei deren Heilung, denn sie sind die Zukunft für eine bessere Welt.»

_______________________

Mehr Informationen:
www.hebamme.ch
www.hebammenverband.de
www.barbara-truebner.de
Video: Meine Narbe (als DVD erhältlich)
Trailer siehe unter: www.geyrhalterfilm.com/meine_narbe

_______________________


In der EU und in der Schweiz sind Spitalgeburten heute die Regel.

Eine grosse Ausnahme bilden die Niederlande; hier entscheiden sich zwei von drei Schwangeren mit niedrigem Risiko für eine Hausgeburt.
In Grossbritannien empfiehlt die Gesundheitsbehörde NHS seit neustem Frauen mit geringem Risiko sogar die Hausgeburt, was einem Paradigmenwechsel gleichkommt. Heute kommen in Grossbritannien noch neunzig Prozent der Babys im Spital zur Welt. Gemäss den neuen Richtlinien der NHS, die sich auf eine Studie der Universität Oxford aus dem Jahr 2011 stützt, sollen aber Frauen, die kein voraussehbares Risiko für eine schwierige Geburt haben, besser zu Hause oder in Geburtshäusern gebären. Laut der NHS erhöht die Geburt in einem Spital die Wahrscheinlichkeit für einen medizinischen Eingriff wie Epiduralanästhesie, Kaiser- oder Dammschnitt.

_______________________


Wie die Geburt unsere Gefühle prägt

Ein Baby ist vor und während der Geburt empfindsamer, als es dies je wieder sein wird, und hat noch keine kognitive Verknüpfung. Seine ersten Eindrücke bleiben für den Rest eines Lebens, zum Guten oder zum Schlechten. Der Grund dafür ist ein Mechanismus, der «limbische Prägung» genannt wird, oder das sogenannte «Imprinting».
Neben dem reptilischen Gehirn und den Kortex genannten grauen Zellen bildet das limbische System den dritten Teil des Gehirns, der für unsere Gefühle und Empfindungen zuständig ist.
Die limbische Prägung findet in diesem Teil des Gehirns statt. Er ist nicht direkt mit dem Kortex verbunden, der für unsere kognitiven Erinnerungen zuständig ist. Während der Schwangerschaft, der Geburt und der frühen Kindheit registriert das limbische System all unsere Empfindungen und Gefühle, ohne sie in die Sprache des Kortex zu übersetzen, denn dieser ist noch nicht entwickelt. Die Erinnerung daran lebt jedoch für den Rest unseres Lebens in unserem Körper, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht.


Forschungen von Pionieren der pränatalen Psychologie belegen, dass ein unglaublich grosser Teil physischer Konditionen und Verhaltensstörungen das direkte Ergebnis traumatischer Schwangerschaften und Komplikationen bei der Geburt, einschliesslich mechanischer Eingriffe und Betäubung, sind.
Wer unter quälenden Schmerzen oder unter Benommenheit und dem Gift von Narkose geboren wurde, dessen limbische Prägung ist Schmerz und Betäubung. Eine traumatische Geburt entzieht uns unser Selbstbewusstsein und beeinträchtigt unsere Fähigkeit zu lieben, zu vertrauen, Intimität zu leben und unser wahres Potential zu leben. Süchte, Verantwortungslosigkeit und geringe Fähigkeit, Mitleid zu empfinden oder Probleme zu lösen, hängen alle mit dem Geburtstrauma zusammen.


Kaiserschnittgeburten und ein grosser Teil der Spitalgeburten haben – wie der nebenstehende Artikel zeigt – ausschliesslich negative Prägungen des limbischen Systems zur Folge. Christian Gerig