Ein heisses Eisen – meine erste Begegnung mit der Zensur
Als ich mich in die Welt verliebte – Chronik einer Leidenschaft #15
Nach meiner Rückkehr aus den letzten braven Ferien mit meinen Eltern brauchte ich etwas Spannendes, etwas, das Erwachsene provozierte. Und genau in diese brünstige, kribbelige Teenagerstimmung hinein platzte ein Sommerhit, der sämtliche anderen Hits jenes Sommers 1969 weit hinter sich liess.
Nicht weil er besser gewesen wäre. Aber frecher. Das Lied, das mich mitten in meiner erwachenden Sinnlichkeit traf, war nichts anderes als ein musikalisch aufbereiteter, ungeniert inszenierter Beischlaf, und es konnte nur in Frankreich entstanden sein: «Je t’aime – moi non plus«.
Serge Gainsbourg, Herzensbrecher und Chansonnier, hatte die eigenwillige Komposition schon zwei Jahre vorher mit seiner früheren grossen Liebe Brigitte Bardot realisiert. Doch die inzwischen verheiratete Bardot hatte Gainsbourg danach gebeten, die Veröffentlichung des Duetts mit Rücksicht auf ihren Gatten zu unterlassen. Der Schöpfer des Liedes respektierte ihren dringenden Wunsch – um das Stück ganz unkompliziert mit Jane Birkin, seiner neuen grossen Liebe neu aufzunehmen.
Schon kurz nach seiner Veröffentlichung blinkten in den Radiostationen Europas sämtliche roten Lichter. «Je t’aime – moi non plus» wurde sofort zum Skandal. Auch in der Schweiz. Als der Song, kaum in der Hitparade gelandet, aus ihr verschwand, um dann ebenso plötzlich wieder emporzutauchen, griff ich zu meiner Schreibmaschine Marke «Hermes 3000», die ich zur Konfirmation erhalten hatte. Für meine Leserinnen und Leser resümierte ich, was geschehen war:
«Das Verschwinden des Liedes wurde vom Präsentator der Hitparade damit begründet, es sei ein ‹zu heisses Eisen›. Letzte Woche aber durften Jane Birkin und Serge Gainsbourg ihre umstrittene Bettszene mitsamt der ach so schönen Orgelbegleitung wieder vortragen. Die Schweizer Jugend hatte nämlich mit Erfolg protestiert. Nachdem Radio Beromünster viele empörte Briefe erhalten hatte, hob es den Bann wieder auf. Jetzt steht die Platte sogar an der Spitze der Schweizer Hitliste, währenddem sie in Italien beschlagnahmt wurde, von Englands Radiostationen nicht mehr gespielt werden darf – und in der Herstellerfirma vorläufig nicht mehr nachgepresst wird. Wie wohl Amerika darauf reagieren wird, das schon Stücke wie ‹Satisfaction› oder ‹Let’s spend the night together› von den Stones verbot?»
Obwohl ich von dem, was zwischen Erwachsenen in Betten geschah, noch immer nur soviel wusste, wie in der «Bravo» stand, gab ich mich in meiner Kolumne so abgeklärt, als ob mir das Thema bestens vertraut sei. Ich fühlte mich auch versiert genug, um kritische Fragen zu stellen: «Wissen die Schallplattenproduzenten vor lauter Ideenlosigkeit nichts anderes mehr, als den Geschlechtsakt kommerziell zu verwerten? Ist ‹Je t’aime…› ein neuer Beweis dafür, wie die Sexualität in der heutigen Zeit ins Vulgäre gezogen wird?»
Dann jedoch fiel mir ein: «Oder hilft diese Platte noch vorhandene Hemmungen zu überwinden?»
Damit meinte ich keine anderen Hemmungen als meine eigenen. Aber ich gestand mir nicht ein, wie sehr das schlüpfrige Lied vor allem mich selbst provozierte. Eine journalistische Regel immerhin hatte ich schon begriffen: Schreibe so, als ob es dich persönlich nichts anginge. Stattdessen – in einer kleinen Strassenumfrage – wollte ich von anderen jungen Leuten wissen, was sie von der Platte hielten. Und ich bekam damals schon Antworten, die recht offen und freizügig waren:
«Die Musik ist gut, auf den Text höre ich gar nicht … Irrsinnig … einmalig … Verleidet bald … Das Gestöhn passt mir nicht … Stört doch niemanden … Auf Französisch geht’s noch … Warum macht man so viel Radau darum? … Gerade zum Trotz gefällt es mir gut.»
Der moralische Zeigefinger durfte dennoch nicht fehlen. Eine weitere, von mir Befragte fand: «Das Lied ist einfach unanständig. Solche Platten sollte man nicht veröffentlichen!»
Doch kein Sittenwächter konnte am Ende verhindern, dass der unanständige Song um die Welt ging. Noch heute dringt das unverkennbare Stöhnen und Seufzen der beiden Verliebten gelegentlich wieder an unser Ohr. Meine Kolumne aber blieb unveröffentlicht. Da die «Woche« in katholischen Händen war, wollte die Redaktion keine Schwierigkeiten. Mir gegenüber wurde erklärt, der Text komme zu spät. Man hätte früher darüber berichten müssen.
Das war eine Ausrede. Nur ein Jahr nach meinem ersten, allerersten journalistischen Beitrag erlebte ich meine erste Zensur. Es sollte nicht die einzige bleiben.
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