Ein Jesuit im Dienste der Gerechtigkeit
Sabine Lichtenfels, Mitgründerin der Gemeinschaft Tamera/Portugal, ist derzeit auf Friedensreise in Lateinamerika. Nach dem Besuch der Friedensgemeinde San José de Apartadó traf sie deren langjährigen Unterstützer, den Jesuiten Padre Javier Giraldo. Aus ihrem Reisetagebuch, Teil 2.
Nach einer Woche bei der Friedensgemeinschaft (hier Sabines Tagebuch 1) sind wir zurück in Botogá. Wir kommen uns vor, als seien wir in einem Film gewesen. Die Wechsel sind recht schnell und unsere Seele muss verdauen. Dazu hat uns heute das Gespräch mit Padre Javier Giraldo geholfen. Er ist so etwas wie die Vaterfigur der Friedensgemeinschaft. Sie schenken ihm absolutes Vertrauen. Er half den damaligen Bauern und Flüchtlingen 1997, eine Friedensgemeinschaft zu gründen – im Wissen, was für persönliche Opfer das ihm und allen Beteiligten abverlangen würde.
Nach dem schrecklichen Massaker im Februar 2005 beschloss die Gemeinschaft, keine Beziehungen mehr zum kolumbianischen Staat, vor allem den Gerichtsbehörden zu unterhalten. Es sei denn, dieser würde seine Fehler eingestehen, sie korrigieren und um Vergebung bitten. Denn die Justiz hatte häufig die Rechte der Gemeindemitglieder verletzt, Strafverfahren mit falschen Zeugen eingeleitet und für Straflosigkeit bei Hunderten von Verbrechen gesorgt, die der Staat und das Militär begangen hatten. Es gab keine Gerechtigkeit. 2010 waren zehn hochrangige Militärs angeklagt worden. Sie waren an dem Massaker in der Friedensgemeinde San José de Apartadó im Februar 2005 beteiligt gewesen. Auch diesmal bewahrheitete sich die Befürchtung, trotz bester Vorbereitung: Sie gingen straffrei aus.
Viele Jahre hat der Padre sein Leben der Aufklärung der Ungerechtigkeiten gewidmet. Er kennt alle Fälle, wo Menschen gegen die Friedensgemeinschaft agiert haben, im Detail. Er verbringt einen grossen Teil seiner Zeit in Bogotá, um sich für die Wahrheit und die Gerechtigkeit in der Politik einzusetzen.
Er ist Jesuit, lebt in einem Kloster in Bogotá, arbeitet eng mit der «Friedensbürgermeisterin» Gloria Cuartas zusammen und hat gerade ein neues Buch herausgegeben: «Das Keuchen vom Grund des Sumpfes». Darin macht er deutlich, wie korrupt der Staat und vor allem das Justizwesen ist.
«Nie wieder arbeite ich mit dieser Justiz zusammen,» sagte er und überreichte uns das Buch, das gerade vor drei Tagen erschienen ist. Es ist sein Lebenswerk, das die Korruption des gesamten Gerichtssystems gründlich aufdeckt.
Padre Javier ist ein sehr bescheidener Mann. Er ist 78 Jahre alt, äusserlich kaum gealtert, lebt vegan und ein grosser Teil seines Lebens besteht darin, den Armen und Misshandelten im Land Mut und Hoffnung zu geben. Das gibt auch ihm selbst die Kraft, die er braucht. Ich empfinde eine tiefe, stille Liebe zu ihm.
Padre erzählt uns in bewegenden Worten, wie sehr der Betrug der vergangenen Regierung den Friedensprozess mit der FARC geblockt hat und viele die Hoffnung vollkommen verloren haben. Es wurden Wahrheitskomissionen eingerichtet, die sich mit den unaufgeklärten Fällen befassen sollten. Aber das sogenannte Friedensabkommen war auf allen Ebenen ein Desaster. Präsident Santos war in der internationalen Welt «der Friedenspräsident», nicht aber im eigenen Land. Laut Erkenntnissen der Kommission gehen 45 Prozent der Toten auf das Konto der rechtsextremen Paramilitärs, deren Taten oft von der regulären Armee gedeckt wurden.
Betrogen fühlt man sich auch von Iván Márquez. Er war jahrelang einer der Anführer der FARC-Guerilla. Nach dem Friedensabschluss mit der Regierung 2016 legte sie offiziell die Waffen ab und wurde stattdessen zu einer Partei. Márquez leitete ab 2012 die Friedensdelegation der FARC-EP bei den Verhandlungen mit der Regierung Santos. 2019 ist er offiziell zusammen mit anderen FARC-Kommandanten zum bewaffneten Kampf zurückgekehrt. Ob dies wirklich «eine Reaktion auf den Verrat des Staates an dem Friedensabkommen von Havanna», war, wie sie erklärten oder eine von Anfang an geplante Irreführung, weiss ich nicht. Viele vermuten das zweite. Auf jeden Fall ist damit die grosse Vision, die wir zusammen mit der Friedensgemeinschaft in unseren Herzen hielten, schwer enttäuscht worden. Wir hatten davon geträumt, dass es zu einer sozialen Revolution kommen könnte und die Friedensgemeinde San José de Apartadó eine Art Ausbilundgszentrum für den Aufbau dezentraler Friedensmodelle wird.
Und jetzt kommt auf einmal ein neuer Präsident und will alles noch einmal neu aufrollen?
Und jetzt kommt auf einmal ein neuer Präsident und will alles noch einmal neu aufrollen? Viele möchten wohl gerne glauben, dass es jetzt anders wird. Sie sind aber auch erschöpft von den vielen Falschmeldungen. In einem Interview mit dem PBI (Peace Brigades International) sagt Padre Javier auf die Frage, ob er noch Hoffnung habe: «Die Atmosphäre, in der die Gemeinschaft lebt, zeigt deutlich, dass wir einer sehr herausfordernden Situation gegenüberstehen. Aber das Herz der Gemeinschaft ist bereit, sich dem zu stellen, so wie wir es immer tun.»
Padre Javier gibt eben einfach nie auf. Er macht sein Handeln nicht abhängig von der Frage, ob sie Erfolg haben werden oder nicht. Er tut einfach, was zu tun ist, und er tut es in Hingabe und grosser Gründlichkeit. Etwas verschmitzt erzählt er uns von seinen Plänen. Er ist befreundet mit dem derzeitigen Verteidigungsminister Iván Velásquez und erzählte ihm viel von der Friedensgemeinschaft. Iván Velásquez schlug ihm daraufhin vor, gemeinsam die Friedensgemeinschaft zu besuchen. Die Friedensgemeinschaft führt darüber viele Gespräche, ob sie ihn empfangen wollen oder nicht.
Eine absolute Bedingung für sie ist, dass der Minister ohne bewaffnete Begleitung und ohne Bodyguards kommt. Denn keine Kooperation mit Bewaffneten, das ist eines ihrer wichtigsten Grundsätze. Darüber hinaus geht es um die Frage, ob sie die von der Regierung angebotenen Handreichungen überhaupt nutzen können, ohne sich und ihre Vision dabei zu verraten. Gibt es eine Chance für Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung in Bezug auf die zahllosen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Region? Lassen diese sich aufklären? Immerhin geht der neue Präsident Gustavo Petro in seinen Forderungen so weit, dass er öffentlich sagte: Die Streitkräfte von Kolumbien müssen zu einer «Armee des Friedens» werden. Das erinnert mich an unsere Vision in Palästina/Israel: «Verwandelt die Miltärstationen in Friedensfoschungsstationen».
Glaubt die Friedensgemeinschaft daran, dass die Pläne der neuen Regierung ernst gemeint sind und eine Chance auf Verwirklichung haben?
Meint er, was er sagt? Padre Javier glaubt, dass die neue Regierung eine Transformation einleiten könnte. Er weiss aber auch, mit wievielen Gegenkräften sie rechnen müssen. Es käme einem Wunder gleich, wenn es dieses Mal gelänge. Aber vielleicht geht ja eine soziale Revolution mit einer kosmischen Wandlung Hand in Hand?
Es geht jetzt um die Frage: Glaubt die Friedensgemeinschaft daran, dass die Pläne der neuen Regierung ernst gemeint sind und eine Chance auf Verwirklichung haben? Wenn das Treffen mit dem Verteidigungsminister zustande kommt, möchte der Padre anschliessend gemeinsam mit diesem den Chef der 17. Brigade (der verantwortlich für viele Gewalttaten an der Friedensgemeinde ist) und Vertreter der Friedensgemeinschgaft in einem Sitz des Bischofs treffen und ihn auffordern, sich zu den Vorwürfen zu äussern. Das alles könnten wichtige Schritte sein, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.
Selten habe ich mich so tief mit der politischen Situation eines Landes befasst. Selten habe ich die Möglichkeit von weiteren Gewaltverbrechen und die Hoffung auf eine eine radikale Wandlung so nah beieinander gesehen. Ich möchte nicht erleben, dass sie noch einmal in eine Falle laufen und hintergangen werden. Gleichzeitig fühle ich die Möglichkeit eines tatsächlichen Wandels sehr nah.
Politisches Denken und spirituelles Handeln müssen zusammen kommen. Dazu braucht man manchmal eine Portion bewusst gewählter Naivität, darf aber dennoch auch nicht blind in eine Falle laufen.
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