Ein Karfreitag wie keiner
Seit langer Zeit hat uns kein Karfreitag so viel zu sagen, wie dieser heutige 10. April 2020. Seine Botschaft wird nachwirken – bestimmt in den Sommer, vermutlich noch länger. Wir tun also gut, sie ganz zu verstehen.
Der Karfreitag liefert uns drei kräftige Symbole. Um das Kreuz – überall sichtbar, wo eine Kirchturmspitze zu sehen ist – geht es hier nicht.
Es sind zwei andere Karfreitagssymbole, die uns heute mehr zu sagen haben. Das erste ist die Dornenkrone oder die Dornen-Korona, um es ein bisschen deutlicher zu sagen.
Wir tragen diese Dornen-Korona zwar nicht auf dem Haupt, aber vielleicht, und das ist die Befürchtung vieler, in unserem Körper. Wir werden, ohne es riskiert zu haben oder verhindern zu können, zu Königinnen und Königen des Schmerzes gekrönt. Niemand weiss, wie man sich von diesen Schmerzen befreit. Bestimmt nicht mit dem dritten mächtigen Karfreitagssymbol, dem Händewaschen, mit dem sich Pilatus aus der Verantwortung stehlen wollte.
Wir sollen die Hände in Unschuld waschen, wird uns gesagt, mehrmals täglich und immer gründlich. Schon gibt es Berichte über eine Häufung von Ekzemen. Das Händewaschen wird uns nicht von Schuld befreien. Es wird sie vielmehr verstärken. (Das ist symbolisch gemeint und nicht als Aufforderung zur Missachtung der «Massnahmen».)
Es sind nicht nur die Symbole des Karfreitags, es ist die ganze Geschichte der Karwoche, die uns Türen in unbekannte Bereiche des Bewusstseins öffnen.
Die Leidensgeschichte beginnt bezeichnenderweise mit einer Euphorie, die halb Jerusalem elektrisierte, mit dem triumphalen Einzug des Nazareners am Palmsonntag. Der Retter sei endlich gekommen, glaubten die Menschen, schnitten Palmzweige und winkten ihm zu.
Falls die Geschichte wahr ist, hat der Sohn Gottes und eines palästinensischen Zimmermanns an jenem Tag einen Fehler begannen. Er hätte sich besser dem Bad in der Menge entzogen, in einer Seitengasse Tee getrunken und gewartet, bis sich die fröhliche Aufregung gelegt hätte.
So aber stellte er sich den Gläubigen als Bild eines Führers und Retters zur Verfügung – ein Trugbild selbst im Universum des guten Hirten aus Galiläa. Er hätte wissen müssen, dass Rettung nur denen offen steht, die sie in sich selbst befreien und jenen versagt bleibt, die sie an einen Führer heften. Vielleicht steht die Geschichte des Palmsonntags auf historisch wackligen Füssen und Jesus trifft keine Schuld. Aber die Schuld von uns, die wir unsere Hoffnungen auf die vielen Führer und Retter vor ihm und nach ihm legten, diese Schuld bleibt. Doch so bald wir sie erkennen, löst sie sich auf. Die Schuld geht, wenn die Verantwortung kommt.
Der Palmsonntag liefert eine weitere starke Verbindung zur Gegenwart: Noch im Januar und Februar legten die Börsen einen phantastischen Start ins neue Jahr hin und übertrafen mehrmals alle Rekorde. Die Euphorie des ewigen Wachstums schien grenzenlos. Die Welt, zumindest ihre Herren, hatten Palmsonntag. Sie feierten das Goldene Kalb.
Aber jetzt ist Karfreitag, und da gibt es im Grunde nur ein Thema: Tod. Es ist bezeichnenderweise ein Freund, ein Verräter (die von uns gewählten Regierungen?), der die letzte Tür aufstösst, die Tür zum Tod.
Etwas will sterben. Ist es unser Lebensstil? Ist es die vom Mammon getriebene Zivilisation? Ist es unser Zwang zum Immer-mehr? Da es sich beim karfreitäglichen Tod um einen symbolischen handelt, muss jeder selber für sich entscheiden, was sich für den letzten Abgang bereit macht. Was immer es ist: Es gibt Hilfe.
Der Mensch nähert sich dem Tod in fünf Phasen – dies ist die hilfreiche Erkenntnis der grossen Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross. Wenn wir dank ihres Modells die nächste Phase schon kennen, bevor wir sie erreichen, können wir dem Bewusstsein und den Gefühlen auf die Sprünge helfen.
Zu Beginn verleugnen wir alle die Wahrheit. Nein, das kann nicht sein! werden wir sagen. Es wird schon wieder werden. Die Welt wird sich von Corona erholen. Es ist doch nicht möglich, dass sich etwas in einem einzigen Moment so grundlegend verändert. Doch: Es ist möglich. Jeder hat es schon erlebt. Gestern so, heute anders.
Dann werden wir zornig! Warum hat man uns nicht früher gewarnt? (Wir haben es nur nicht gehört). Die sollen doch etwas unternehmen! (Ja, tun sie; aber ist es das Richtige?) Und überhaupt: Das kann doch nicht wahr sein! (Rückfall in Phase eins).
Sobald wir merken, dass der Zorn nichts bringt, gehen wir in Verhandlung. Wenn ich jetzt dies tue und jenes lasse, wird es sich wenden. Wenn wir alle zusammenstehen, können wir den Tod besiegen! Wenn ich mein Leben rückwirkend ändere, bekomme ich eine andere Gegenwart! Spätestens hier merken wir, dass verhandeln nichts bringt. Vielleicht werden wir wieder zornig (Rückschritt) oder erreichen die nächste Stufe.
Wir werden depressiv. Alles hat nichts genützt, das Verleugnen nicht, der Zorn nicht und auch nicht das Verhandeln. Rettung scheint so aussichtslos, dass die Suche aufgegeben wird. Hoffnung schwindet, eine Ahnung kommt. Und dann:
Die Akzeptanz des Unvermeidlichen – es ist wie es ist. Dein Wille geschehe, sagen die Christen, stellvertretend für alle Religionen. Und dann kommt, was noch kein Mensch erfahren hat: der finale Übergang ins Unbekannte. (An alle Nahtodforscher: Der nahe Tod ist noch nicht der Tod).
Wir wissen nicht, was im Tod geschieht. Niemand kann es wissen. Aber man kann etwas glauben. Man kann glauben, dass dann einfach niemand mehr da ist, der fühlen oder denken kann und sich schon gar vor dem Tod zu fürchten braucht. (Interessanterweise sind es aber gerade die Materialisten, die mit diesem fünften Schritt besondere Mühe haben).
Oder man kann glauben – wenn man die Existenz vergangener Leben für wahrscheinlich hält –, dass der Tod ein Übergang ist. Manche denken auch, es folge eine Erweckung, das Fegefeuer oder sonst eine Zwischenstufe.
Alles Glaubenssache! Und Nebensache. Denn an diesem Karfreitag des Jahres 2020 stirbt nicht der Mensch, sondern ein Konstrukt. Es stirbt ein Bild von uns selber. Es sterben die Illusionen, die wir uns von der Menschengesellschaft und ihrer Organisation gemacht haben: falsche Freiheit, verlogene Gleichheit, fehlende Brüderlichkeit. Es stirbt die Hoffnung, dass sich dies alles von alleine verändere, durch göttliche, demokratische oder diktatorische Kräfte. Es stirbt die Idee, jemand – nur nicht wir selber – würde uns retten.
Die Akzeptanz der Rettungslosigkeit ist eine brutale Erkenntnis. Deswegen kämpfen wir so schwer gegen sie an. Aber – vielleicht hart für viele: Wir kämpfen gegen ein Bild, das wir selbst geschaffen haben. Wir kämpfen mit einem Glauben, wie es nachher sein müsste oder nicht sein darf. Wir kämpfen gegen einen Teil von uns selber.
Wie beendet man einen solchen Kampf? Scheint doch einfach: indem wir den Unterschied zwischen uns und unseren Selbstbildern erkennen. Doch das «Erkenne dich selbst!» ist seit den Philosophen der Antike eine schier unlösbare Aufgabe. Mit Recht: Der Blick in sich hinein ist gleichzeitig der Blick in die Unendlichkeit. Paradox – wie die Liebe, die man bekommt, wenn man sie verschenkt.
An dieser Stelle muss ich Sie alleine lassen. Wer immer in sich hineinschaut, findet etwas anderes. Jemand wie ich, der sich eher mit dem Kollektiven befasst, hat da wenig zu bieten. Aber vielleicht erscheint ja plötzliche Hilfe, etwas, das auferstehen will. Wer weiss? Es ist ja erst Karfreitag.
von:
Kommentare
Karfreitagstext
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Ein Karfreitag wie keiner
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