«Ein Mindestmass an kritischer Distanz»
Sommer 1973. Eine Alternative zum Rockbusiness an einem ungewöhnlichen Ort. Mein Respekt vor Bob Dylan. Das plötzliche Ende einer Kolumne. Ein Boykottaufruf. Eine Buchbesprechung wird zurückgeschickt. SERIE «Als ich mich in die Welt verliebte – Chronik einer Leidenschaft» #65 von Nicolas Lindt.
Meine ultimative Abrechnung mit dem Rockbusiness in der Schweiz schrie geradezu nach einer Alternative. An einem Samstag im Juni 1973 fuhr ich deshalb von Zürich nach Lenzburg. Was mich dort erwartete, schilderte ich in meiner Reportage für die «Woche». Der Kontrast zu den Megakonzerten im Hallenstadion hätte nicht grösser sein können.
«S‘Feschtival isch allne – so wurde das Folkfestival angekündigt, das auf der Lenzburg stattfand. Es war ein Festival ohne Stars und ohne Showrummel: Alle beteiligten Musiker erhielten die gleiche Auftrittsdauer, keiner wurde bevorzugt, jeder liess den andern gewähren. Für einmal waren Zuschauer, Organisatoren und Musiker auf der gleichen Stufe. Auf der alten, ehrwürdigen Burg hoch über dem aargauischen Mittelland herrschte nicht der unerfreuliche Geist, der den meisten Rock-Konzerten anhaftet, sondern eine ungetrübt fröhliche Atmosphäre.»
Statt der kritischen fand ich hier nur lobende Worte. Das Folkfestival, das erst zum zweiten Mal durchgeführt wurde, war so recht nach meinem Geschmack: «Schon auf dem Weg vom Bahnhof zum Schloss», fuhr ich fort, «musste man sich nicht in einer Masse von Rockfans drängen, denn diese blieben der Lenzburg fern. Wo keine spektakulären Namen und keine aufwendigen Show-Eskapaden geboten werden, ist der durchschnittliche Besucher von Rockkonzerten kaum anzutreffen. Über tausend junge Leute, die das weite Feld der Volksmusik für sich entdeckt haben, reisten an. Ihnen allen präsentierte sich die farbenfrohe, friedliche Szenerie des prächtigen Innenhofs wie im Märchen.»
Fast ausschliesslich einheimische Musikerinnen und Musiker traten am Festival auf, und von Appenzeller Streichmusik über berndeutsche Troubadourlieder bis zu englisch gesungenen Folksongs konnte man auf der Lenzburg alles erleben und hören, was als Folk oder Volksmusik gelten konnte. Auch ich erfreute mich an der gebotenen Vielfalt. Meine Schilderung blieb jedoch etwas gönnerhaft, denn die Horizonterweiterung, die ich erneut in Irland erfahren hatte, liess noch während längerer Zeit keinen Platz für Impulse aus dem eigenen Land. Für Musik, die aus der Schweiz kam, hatte ich nach wie vor nicht viel übrig. Alles Ausländische fand ich spannender.
Meine persönliche Annäherung an die Folkmusik hatte mit Bob Dylan begonnen. Doch er machte es mir nicht einfach. Immer wieder versuchte ich, einen Zugang zu seinen Balladen zu finden. Ich bestellte mir bei der CBS-Werbeabteilung sogar sein Gesamtwerk, denn ich wusste, als Musikkolumnist muss mich mit ihm auseinandersetzen. Ich muss über ihn etwas sagen können. Doch während ich über alle anderen Koryphäen schrieb und sie alle bewertete und beurteilte, verfasste ich über ihn kaum eine Zeile. Das hatte sicher auch damit zu tun, dass Bob Dylan – der unerreichbare, einsam über allen leuchtende Stern – erst in den 80er Jahren zum ersten Mal in die Schweiz kam.
Doch der eigentliche Grund meiner Zurückhaltung war ein anderer. Ich getraute mich einfach nicht, über ihn zu schreiben. Ich kam nicht an ihn heran. Seine Ausstrahlung, seine Texte – sie waren zu mächtig für mich. Und als ich dann doch einmal, ein einziges Mal über Dylan schrieb, gab ich meinen jugendlichen Respekt vor ihm freimütig zu. In einer Rezension für die «Zürichsee-Zeitung» schilderte ich einen Abend, den ich mit Iris, meiner damaligen englischen Freundin und ein paar anderen jungen Leuten erlebt hatte:
«Wir sassen mitten in London um einen abenteuerlichen Plattenspieler herum, auf dem sich verkratzte Dylan-Scherben drehten, einen ganzen Abend lang. Wir kamen aus verschiedenen Ländern, redeten, sinnierten oder sassen einfach nur da. Mit uns im Raum waren die schwermütigen und doch optimistischen Lieder Dylans. Seit jenem Abend bin ich seiner Musik nie mehr so nahgekommen. Irgendetwas versperrt mir den Weg zu ihr. Seine Lieder gründen so tief. Sie zu verstehen, ist so schwierig – vieles bleibt rätselhaft. Aber es gibt diese Faszination, seine Musik immer wieder neu zu entdecken. Sie ist so menschlich, und sie hat ihre eigene Lebensphilosophie.»
Inzwischen glaube ich, Bob Dylan besser verstehen zu können, weil ich hinter seiner musikalischen Biografie seine spirituelle Entwicklung erkennen kann. Sie ist das «Rätselhafte», das ich damals empfand. Heute prägt es auch meine eigene Sicht der Dinge. Bob Dylan steht mir deshalb sehr nahe, seine Musik hat mich all die Jahre begleitet, und immer wieder entdecke ich sie tatsächlich von neuem. Damals war ich zu jung für Dylan, zu atheistisch, zu idealistisch. Ich wollte die Welt nicht erkennen, sondern verändern.
***
Kaum war meine Reportage in der «Woche» über das Folkfestival auf der Lenzburg erschienen, erhielt ich ein vorgedrucktes Schreiben der Redaktion an die Mitarbeiter. «Die Walter AG», hiess es darin, «bedauert, Ihnen mitteilen zu müssen, dass die WOCHE nach 23 Jahren ihr Erscheinen einstellen wird. Die Zahl der Leser war letztlich nicht gross genug, um die Illustrierte über Wasser zu halten. Alle Bemühungen zu ihrer Weiterführung blieben erfolglos.»
Meine Überraschung war gross. Ich hatte mir nie überlegt, eine Zeitschrift könnte den Geist aufgeben. Ich glaubte, die «Woche» würde immer erscheinen. Nun gab es sie plötzlich nicht mehr, und auch meine Musikkolumne würde verschwinden. Fünf Jahre lang hatte ich, immer pünktlich, meinen Text abgeliefert und mir keine Gedanken darüber gemacht, die Kolumne irgendwann zu beenden. Nun wurde sie vom Leben gestrichen, und zu meinem Erstaunen war ich darüber gar nicht so unglücklich. Seitdem ich überall nur noch das Business hinter der Rockmusik witterte, schrieb ich über Musik nicht mehr so oft. Mein Hauptinteresse galt inzwischen mehr und mehr der Gesellschaftskritik generell. Zum Beispiel, was den Konsum betraf.
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Ein paar Jahre vorher, während ich noch in Zürich zur Schule ging, hatte ich den schleichenden Niedergang einer Metzgerei miterlebt, die eines Tages dann ihre Türen für immer schloss. Das hatte mich damals betroffen gemacht – doch für die Einsicht in den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang brauchte ich noch ein paar Jahre. Jetzt, in der Waldegg, beobachtete ich erneut ein Geschäft, das um seine Existenz kämpfte:
«Der letzte kleine Quartierladen in unserem Dorfteil steht auf der andern Strassenseite und wartet darauf, einem Neubau zu weichen. Bis es soweit sein wird, steht die Inhaberin des Ladens, eine ältere Frau, müde hinter dem Ladentisch und bedient die wenigen, übriggebliebenen Kunden. Schon jetzt bleiben die Produkte in den Gestellen liegen. Bis sie nicht mehr verkauft werden können.»So beschrieb ich im «focus», für den ich diesen Beitrag verfasste, das absehbare, traurige Ende des kleinen Ladens. Doch diesmal beliess ich es nicht bei der Schilderung einer zu Ende gehenden Zeit. Im «focus» musste die Kapitalismuskritik auf dem Fusse folgen:
«Für die Engros-Händler lohnen sich kleine Bestellungen längst nicht mehr – die Grossumsätze der Supermärkte sind attraktiver. Das findet auch die junge einkaufsfreudige Hausfrau, die sich durch das werbetechnisch geschickt präsentierte, verlockende Überangebot in den grossen Geschäften gerne inspirieren und blenden lässt. Die kleine Auswahl der Detailläden regt nur zum Kauf des Notwendigen an. Deshalb werden sie allmählich aufgegeben und unterdrückt. Im Zeitalter des scheinbaren Überflusses kauft man nicht nur, was man braucht, sondern was einem die Werbung aufdrängt. Ganz in diesem Sinne werden heute die Geschäfte gestaltet – ausgerichtet nach den Bedürfnissen der Privatwirtschaft, die zur Sicherung des Profits immer perversere Mittel ergreifen muss.»
Was in meinem Textauszug zunächst auffällt, ist die «junge, einkaufsfreudige Hausfrau». Während es heute geradezu anstössig wäre, Konsumverhalten auf Frauen zu reduzieren, hatte 1973 selbst ein linkes Magazin kein Problem damit. Auch ich überlegte mir beim Schreiben keinen Moment, dass Männer dem «verlockenden Überangebot» ebenso sehr erliegen könnten.
Ich merkte auch nicht, wie sich mein Schreiben veränderte. Ich argumentierte immer politischer, immer «marxistischer», obwohl ich vom sozialistischen Übervater Karl Marx noch keine Zeile gelesen hatte. Formulierungen wie die «Sicherung des Profits» kamen jetzt auch bei mir immer häufiger vor. Doch je politischer meine Sprache wurde, umso ärmer, um so kraftloser wurde sie. Von meinem Traum ein Schriftsteller zu werden, entfernte ich mich immer mehr.
Was aber meinte ich mit den «immer perverseren Mitteln» zur Sicherung des Profits? Ich meinte damit die «Schaffung von Einkaufszentren nach amerikanischem Vorbild». Das war die eigentliche Stossrichtung meines Artikels. Denn drei Jahre vorher war in Spreitenbach das erste Shoppingcenter des Landes eröffnet worden. Aus dem Aargauer Bauerndorf war inzwischen ein vielfrequentierter Magnet geworden, der Kauffreudige aus der ganzen Region anzulocken vermochte.
Doch nun sollte Spreitenbach von einem zweiten, noch grösseren Einkaufsparadies übertrumpft werden: In der Zürcher Vorortgemeinde Wallisellen stand das «Glatt-Zentrum» vor dem Baubeginn. Gleichzeitig mit der Fertigstellung des Autobahnteilstücks Zürich-Winterthur würde das 3’000 Parkplätze umfassende Zentrum eröffnet werden. Das Grossprojekt strotzte vor Superlativen, und da die Presse «in der gewohnt unkritischen Weise darüber berichtete», sah es der «focus» als seine Aufgabe an, der Konsumgier eine antikapitalistische Antwort zu geben.
Mit meinem Artikel rief ich zu einem Boykott des Konsumtempels auf – und zumindest was mich betrifft, habe ich meinem Aufruf Folge geleistet. Die Zahl meiner Besuche im Glattzentrum in den 50 Jahren seither kann ich an einer einzigen Hand abzählen. Würde der junge gesellschaftskritische Mensch von damals mitansehen können, welches meine Konsumgewohnheiten heute sind, wäre er freilich ziemlich enttäuscht, um nicht zu sagen schockiert von mir. Einkaufszentren brauche ich nicht – ich habe mein Shoppingcenter bei mir zuhause. Ich surfe und kaufe im weltweiten Netz. Und fürs tägliche Brot ziehe ich den Supermarkt mit der grösseren Auswahl vor. Selbst wenn es den kleinen Laden an der Ecke noch gäbe: Ich wäre kein guter Kunde.
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Natürlich versuchte ich meine politische Botschaft, wenn immer möglich, auch im Tages-Anzeiger unterzubringen. Für den Kulturteil verfasste ich im September die Rezension eines Fischer-Taschenbuches mit dem programmatischen Titel «Für eine neue sozialistische Linke». Die Autoren gehörten einem «Sozialistischen Büro» im deutschen Offenbach an, dessen Funktion es war, «Kommunikation und Gemeinsamkeiten innerhalb der linken Bewegung zu fördern». In meiner Buchbesprechung beschrieb ich die politische Arbeit des Büros und übernahm eins zu eins dessen Schlussfolgerungen:
«Wer unser System wirklich verändern will, muss es an seinen schwächsten Stellen angreifen und entlarven. Das Sozialistische Büro engagiert sich dafür theoretisch wie praktisch und setzt sich zum Ziel, ‚sozialistische Positionen in möglichst vielen gesellschaftlichen Bereichen zu verankern‘.» Ohne jeden kritischen Einwand lobte ich das «informative Buch» und zeigte mich überzeugt von seiner politischen Wirkung für ein Engagement auch in unserem Land.
Ein paar Tage später erhielt ich einen Brief vom Kulturredaktor des Tages-Anzeigers. «Ihre Buchbesprechung», schrieb er mir, «kann ich leider nicht nehmen – weil es eben keine Buchbesprechung ist. Wahrscheinlich würde ich Ihre Sympathie für das betreffende Buch sogar teilen. Ich kenne es nicht, aber ich muss als Redaktor ein Mindestmaß an kritischer Distanz verlangen, und sei es nur, um mich allenfalls gegen den Vorwurf eines reinen Propagandaartikels verwahren zu können.»
Heute würde ich reagieren wie der Kulturredaktor des Tages-Anzeigers. Ich würde den Propagandaartikel zurückweisen. Damals, 1973, war ich beleidigt – und ohne zu zögern, klopfte ich bei der sozialdemokratischen Presse an. In der «Zürcher AZ», dem ehemaligen «Volksrecht», erschien der Text nur wenige Tage später. Unzensuriert.
Folge 66 erscheint am Sonntag, 28. Januar
Weitere Texte aus dieser Serie:
«Ich kritisierte die Hand, die mich fütterte»
«Die Kommune, in der ich jetzt wohne»
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