Ein Statement an meine Eltern und eine Bühne als Laufgitter
November 1972. Wie ich meinen Eltern dasselbe sagte, was ich heute den Linken vorwerfen würde – und wie «Led Zeppelin» nicht ihr Bestes gaben. Serie ALS ICH MICH IN DIE WELT VERLIEBTE – Chronik einer Leidenschaft #53 von Nicolas Lindt.
Wenn ich die Vision meiner persönlichen Zukunft heute, 50 Jahre danach, wieder lese, bin ich ehrlich gesagt bewegt und auch dankbar. Denn mein bisheriges Leben ist im Wesentlichen genauso verlaufen, wie ich es mir damals vorgenommen hatte. Natürlich hat mich das Leben, vor allem seit ich eine Familie habe, immer wieder zu Kompromissen gezwungen – die ich aber im Nachhinein alle als dringende, heilsame Eingriffe des Schicksals erkannte.
Am offensichtlichsten zeigte sich dies, als ich mir Mitte der Neunzigerjahre eingestehen musste, dass ich allein als Schriftsteller keine Familie ernähren konnte. Ohne grosse Motivation suchte ich deshalb nach einer zweiten Einnahmequelle – und fand sie in der Gestaltung von freien Trauungen. Später kamen Taufen und Abdankungen hinzu, und ich habe die Zeit nie bereut, die ich dieser zweiten beruflichen Tätigkeit opfern musste. Weil es kein Opfer war, sondern eine ehrenvolle Verpflichtung. Ich habe dasselbe Herzblut in sie investiert wie in das Schreiben meiner Geschichten und Bücher, und so ganz nebenbei konnte ich meine Familie damit über die Runden bringen.
Mit anderen Worten: Ich blieb meinem Vorsatz zeitlebens treu, nie «mehr Dinge zu tun, die ich nicht tun will» und «nie zwischen Arbeit und Freizeit» zu trennen. Mit dieser Maxime, die auch des Glückes bedarf, startete ich im Herbst 1972 in mein junges, post-gymnasiales Leben.
Bei den Vorsätzen, die ich ins Tagebuch schrieb, durfte mein weltanschauliches Streben natürlich nicht fehlen. Was ich schon wusste: Mein Engagement sollte der Praxis, nicht akademischen Diskussionen gewidmet sein. Aber eine konsequent linke politische Haltung musste ich mir erst noch erobern. Gab es eine geeignetere Reibungsfläche dafür als meine Eltern? Immer wieder, meistens spätabends in unserer braven Stube, verstrickte ich mich in Streitgespräche mit ihnen, die noch heftiger wurden, als meine Eltern ihre politische Heimat in der örtlichen FDP fanden – damals wie heute die Körperschaft der oberen Zehntausend und deshalb an der Küsnachter Goldküste unangefochten wählerstärkste Gruppierung.
Nach einer weiteren unergiebigen und gehässigen Diskussion verfasste ich deshalb am 1. Oktober 1972 ein wütendes «Statement an meine Eltern» in meinem Tagebuch:
«Ihr glaubt», begann ich mein Statement, «ich schlüge eine falsche Richtung in meinem Leben ein. Ihr glaubt zu wissen, dass ich und die meisten anderen jungen Leute ideologisch beeinflusst, ja sogar hörig seien, geleitet von destruktiven Kräften. Gleichzeitig seid ihr davon überzeugt, Halt gefunden zu haben bei einer politischen Gruppe, die unseren Rechtsstaat aufrechterhält. Aber tut sie das wirklich? Versucht sie nicht vielmehr einen Status quo zu konservieren, der einer gesellschaftlichen Minderheit dauerhafte Vorteile bietet? Theoretisch ist es ein Rechtsstaat: Jeder darf seine Meinung sagen, es herrscht Presse und Religionsfreiheit – doch die Praxis sieht anders aus. Der Staat wird von den rechtsstehenden Kräften beherrscht, und seine Ordnung wird deshalb stets gegen Oppositionelle missbraucht.»
«Die Rechte hat alles Interesse daran», fuhr ich fort, «die gegenwärtige Ordnung aufrechtzuerhalten. Und sie sagt ja auch, dass der schweizerische Staat grundsätzlich in Ordnung ist. Diese Überzeugung versucht sie in Form von Manipulation aller Art zu verbreiten. Aber das allein sichert der Rechten die Macht noch nicht. Deshalb baut sie einen Unsicherheitsfaktor ein: die Bedrohung des Rechtsstaates durch die Neue Linke – um dann als Garant des Rechtsstaates aufzutreten. Dieses unehrliche, ungerechte Getriebe in Frage zu stellen, ist die Aufgabe der Opposition. Sie will nicht etwa den Rechtsstaat an und für sich aufheben, sie will ihn zuerst einmal wirklich herstellen, indem sie den gegenwärtigen Pseudo-Rechtsstaat in Frage stellt. Der zweite Schritt ist dann die revolutionäre Verwirklichung eines echten Rechtsstaates.»
Mein «Statement» aus dem Jahre 1972 macht auf irritierende Weise deutlich, wie fundamental sich die politische Schweiz in den letzten 50 Jahren veränderte. Denn spätestens seit Corona hat sich gezeigt, dass die Staatsmacht von heute nicht mehr den «Rechten», sondern den Linken - und ihren Mitläufern – dient.
So wie die Neue Linke damals ist es heute die Freiheitsbewegung, die den «Pseudo-Rechtsstaat» in Frage stellt. Und so wie die «Rechten» damals behaupteten, die Linken würden den Staat bedrohen, so sind es heute die Linken, die den Staat durch die «Rechten» bedroht sehen. Obwohl diese «Rechten» gar keine «Rechten» sind, sondern eine bunte neue Opposition, die an die Stelle der Linken trat, obwohl sie nicht «links» steht.
An diese komplette Umkehrung der Verhältnisse muss ich mich noch immer gewöhnen. Opposition war für mich stets dasselbe wie links. Mit dieser Definition bin ich gross geworden. Als aufbegehrender junger Mensch zog es mich automatisch zur Opposition und damit zur Linken und ihrer verlockenden Utopie. Eines Abends im November gerieten meine Mutter und ich politisch erneut aneinander. Sie, die Intellektuellere, Rationalere meiner Eltern liess sich von meinen wortreichen Überzeugungsversuchen nicht beeindrucken. Voller Unmut zog ich mich in mein Zimmer zurück und notierte im Tagebuch:
«Nach einer weiteren hitzigen, irgendwie deprimierenden Diskussion mit meiner Mutter bin ich meiner Überzeugung, sozialistisch zu denken und zu handeln, noch bestärkt worden. Ich gebe es auf, mit meinen Eltern über Politik diskutieren zu wollen. Während mein Vater dem Status quo verunsichert gegenübersteht und je nach Gefühlslage wie ein Linker und dann wie ein Rechter redet, gleitet meine Mutter hoffnungslos ins Reaktionäre ab. In der Schweiz ist doch alles in Ordnung, sagte sie einmal mehr, das Volk ist doch an der Macht, und auch dem Arbeiter geht es doch gut in der Schweiz. Es geht ihm so gut, dass er schon ganz verbürgerlicht ist.»
«So argumentierte sie und diesmal liess ich es bleiben, Gegenargumente zu suchen. Ich parierte bloss noch mit sozialistischen Schlagwörtern. Ich weiss, so verschärft sich die Kluft zwischen mir und den Eltern noch mehr, aber haben weitere nutzlose Streitereien noch einen Wert? Ich glaube nicht, gestehe mir diese Schwäche ein und hoffe, dass sich vor allem meine Mutter von den Rechten nicht noch mehr indoktrinieren lässt.»
Heute würde ich meiner Mutter in mancherlei Hinsicht recht geben. Sie hat meine spätere Wandlung, meinen Bruch mit der Linken noch miterlebt – und befriedigt zur Kenntnis genommen. Doch wie würde sie heute denken? Wie hätte sie das Corona-Drama beurteilt? Hätte sie der NZZ noch immer geglaubt, oder hätte auch sie den Linkskurs des Blattes durchschaut? Habe ich nicht die Eigenschaft, kritisch und unbestechlich zu denken, von ihr geerbt?
Nur 24 Stunden später folgte der nächste Eintrag im Tagebuch: «Jetzt, einen Abend danach, haben wir uns alle beruhigt. Wir können ja gar nicht anders als miteinander zu reden.» Nein, wir konnten nicht anders, und wir wollten nicht anders. Denn wir spürten bei allem Ernst der Debatte, dass wir ein Rollenspiel spielten. Das Spiel hiess Generationenkonflikt. Wir verstanden uns nicht mehr – und liebten uns doch.
***
Das von meiner Mutter übernommene kritische Gen begleitete mich ein weiteres Mal und noch im gleichen Monat nach Montreux. In einem Provisorium anstelle des Casinos, das ein Jahr davor abgebrannt war, trat eine Band auf, die meine Ikonen, die Rolling Stones, temporär in den Schatten stellte. Denn während die Stones den Zenit ihrer grossen Songs aus meiner Sicht überschritten hatten, brachten Led Zeppelin unerhörte neue Impulse in die Rockmusik mit. Vor allem Robert Plant, der blondgelockte Sänger stürzte sogar Mick Jagger vorübergehend vom Sockel meiner Bewunderung. Und meine Bewunderung war immer auch ein Stück weit Vergleich. Robert Plant hatte dieselben blonden Locken wie ich.
Zum Zeitpunkt ihres Gastspiels in Montreux war die Band weltweit schon so erfolgreich, dass sie bereits mit dem eigenen Flugzeug in die Schweiz reiste. Die beiden Konzerte waren längst ausverkauft, jeder wollte die Superband sehen, und auch meine Vorfreude war enorm, als ich am Genfersee ankam.
Die ersten Zeilen meiner Konzertbesprechung im Tages-Anzeiger liessen keine Vorschusslorbeeren aus: «Von der Rockmusik heisst es, man müsse sie live erleben. Sie bezieht ihre Impulse nämlich nicht nur aus ihrer Phonstärke, sondern vor allem aus dem direkten Kontakt zu einem begeisterungsfähigen Publikum. Besonders Hardrock hat sein Ziel im Grunde nur dann erreicht, wenn der Zuhörer emotional darauf anspricht, fasziniert mitgeht oder gar in Ekstase ausbricht. Die Band ‚Led Zeppelin‘ aus England erfüllt diese Ansprüche voll und ganz – und entsprechend grosse Erwartungen brachten die jungen Leute, die nach Montreux pilgerten, in den Konzertsaal mit. Dicht gedrängt am Boden sitzend, fieberten sie dem Beginn des Auftritts entgegen, und frenetischer Beifall begrüsste dann die vier Musiker, die sogleich in den schnellen, mitreissenden Rhythmus ihrer Hitnummer ‚Rock & Roll‘ starteten.»
Ich habe mich in späteren Jahren immer wieder darüber geärgert, wenn Musikkritiker glaubten, das Konzert einer grossen Band kleinkrämerisch herunterreissen zu müssen, obwohl das Publikum das Erlebnis in vollen Zügen genoss. Ich hatte dann stets den Verdacht, dass die Kritiker, die oft verhinderte Musiker sind, der Band den Erfolg nicht gönnten. Ein Musikrezensent war natürlich auch ich. Aber wäre das Publikum in Montreux begeistert gewesen, dann wäre auch ich es gewesen, und ich hätte meine Begeisterung in meinem Konzertbericht zugegeben.
«Doch bald kühlte die Stimmung im Saal merklich ab», registrierte ich und fuhr fort: «Eine sonst so überzeugende Band versuchte ihre Routiniertheit als Spontaneität zu verkaufen. Vor allem agierte auf der Bühne ein Leadsänger, der sich glücklos mit seinem Image abmühte: Von Robert Plant, gross, blond, attraktiv, wird erwartet, dass er singt, schreit, flüstert und stöhnt, dazu tänzelt, hüpft und seine Lockenpracht schüttelt. In Montreux jedoch wirkte Plant müde und gleichgültig - die Bühne wurde zum Laufgitter, der Sänger selbst zum frustrierten Showman, der vertragsgemäss seine Arbeit verrichtet, jegliche Einsatzfreude aber vermissen lässt».
Die Bühne als Laufgitter – ein hartes Urteil. Aber auch hier schwang meine Ernüchterung mit, dass Künstler, die weltberühmt waren, nicht wirklich ihr Bestes gaben, obwohl doch denselben Anspruch auf meinem Gebiet auch ich selber hatte. Aber ich darf nicht ungerecht sein. Trotz der Enttäuschung von Montreux blieb ich vor allem den sanfteren Kompositionen der Band treu bis heute. Und anerkennen muss ich vor allem, dass Robert Plant, den ich damals so lustlos erlebte, in seinen späteren Jahren nicht lustlos blieb. Er gehört zu den ganz wenigen Rockstars aus jener Zeit, die noch heute gute Musik machen. Starke Melodien und eine immer noch starke Stimme prägen die Songs seiner Solokarriere, und die ergrauten Locken schüttelt er immer noch. Als mich ein Schmuckverkäufer in Kreta, mit einem Grinsen im Gesicht fragte, ob ich nicht vielleicht Robert Plant sei, wusste ich natürlich, dass er nur scherzte. Aber ich fühlte mich trotzdem geehrt. Und kaufte ihm gleich eine Halskette ab.
Nächste Folge: Sonntag 23. Juli
Video Led Zeppelin: «Rock & Roll»
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