Eine Perle in der Schlucht des Vorderrheins

Der Kraftort «Zir Pign» und sein(e) Bewohner

Der Wanderweg führt in einem Bogen den Berg hinauf und danach steil wieder hinunter durch einen duftenden Märchenwald: Im dunklen Moos zwischen Fichten und Föhren leuchten im Frühling Leberblümchen und Buschwindröschen und die Hänge sind bedeckt von kräftigem, rosafarbenem Heidekraut. Unten in der Schlucht tost der Rhein. An seinem Ufer liegt «Zir Pign» – ein Kraftort im Herzen der Surselva.


Zwei riesige Fichten flankieren den Weg zu einem kleinen Holzhaus, ähnlich einem Maiensäss. Links vom Weg grasen friedlich drei Heidschnucken-Schafe, rechts liegt ein Teich mit Kammmolchen, Kröten und Fröschen. Manchmal lässt sich sogar ein Eisvogel hier blicken.
Das «Maiensäss» wurde vor einigen Jahrzehnten in ein bewohnbares Haus mit gemütlicher Stubenküche und Schlafzimmer umgebaut. Weiter oben steht der ehemalige Stall. Wer sich nicht mit dem Kayak über die Stromschnellen des Vorderrheins traut, erreicht den Ort zu Fuss in 1.5 Stunden vom Bahnhof Valendas-Sagogn.


Der Bewohner und Hüter dieses Ortes ist Diego Stoffel: Lebenskünstler, Feuermacher, Gastgeber, Handwerker, Gärtner und Therapeut. Vor zweieinhalb Jahren kam er zum ersten Mal nach Zir Pign. Dort traf er auf eine junge Familie, die nach seinem Sinn bereits viel angedacht und verwirklicht hatte. Als diese Menschen ihren realen Traum loslassen mussten und wegzogen, wurde Diego dieser Ort zur wohligen Heimat.


Seine hellen Augen blitzen fast so klar wie der Bergkristall, den er an einem Lederband um den Hals trägt. Diego beobachtet gerne. Dabei übt er sich im «Eulenblick», der nicht bohrt oder fixiert, sondern das ganze Blickfeld miteinbezieht. Diese Art zu schauen stärke neben der Sehkraft auch die Beziehung zu der eigenen Umgebung, meint er. Diego vertieft sich auch gerne in die Geräuschkulisse von Zir Pign: Ein Vogelpfeifen, eine menschliche Stimme, jemand der durch den Wald geht... An einem Weinbergschneckenhaus lauscht er lange und bedächtig dem Rauschen des Rheins, welches das Kalkgehäuse zum Schwingen bringt. In Zir Pign kann Diego seine Sinne weit öffnen, nicht so in der Stadt: dort sei für ihn ein Schutzschild gegen all die Sinnesreize lebensnotwendig.


Diegos Lebensaufgabe und die Essenz von Zir Pign liegen in der Verbindung zwischen Mensch und Natur. Wichtiger als die Frage, wie gut jemand die Natur kenne oder wie viel jemand über sie wisse, scheint ihm die Frage: Wie motiviert bin ich, mich auf die Natur einzulassen und wie aufrichtig ist mein Interesse, mit den verschiedenen Lebewesen in Kontakt zu treten?


Die Erkenntnisse seiner täglichen Streifzüge: In der Natur finden die Lebewesen nebeneinander Platz – es herrscht ein Gleichgewicht von «schenken» und «beschenkt werden». Diego ist deshalb auch das Gleichgewicht zwischen naturbelassenem und vom Menschen geprägtem Raum wichtig. Bei einer Baumgruppe flussaufwärts. fühltm er sich nur tagsüber toleriert. Bei Nacht eher unerwünscht. Dieser Ort gehört anderen Lebewesen und nur mit besonders viel Achtsamkeit und Respekt geht er hin.


Die Plätze, die für Menschen gedacht sind, teilt Diego aber gerne: Zir Pign ist ein offener Ort, wo Besucher hinkommen können. Für Diego bedeuten die Übernachtungsgäste gleichzeitig Einnahmequelle und Möglichkeit zu geselligem Beisammensein. Mieten Gäste das Haus, zieht er sich mit seiner Decke in eine der Höhlen im Kalkfelsen zurück. Dort übernachtet er sogar im Winter manchmal.
Am Abend gibt es normalerweise ein Lagerfeuer, an welchem Gespräche stattfinden, gesungen oder einfach das Lodern des Feuers genossen wird.


Diego macht gerne Feuer mit Bogen und der Spindel. So wie ein Kind gezeugt wird von Mann und Frau, werde auch ein Feuer gezeugt, meint er. Die Holzunterlage aus «weiblichem» Holz ist empfangend, der Dorn aus «männlichem» Holz gebend. Die entstandene Glut fängt Diego mit Jutewolle auf und trägt sie in den Händen schützend zur Feuerstelle. «Feuermachen mit Bogen und Spindel macht mir nicht nur Spass, ich fördere dadurch auch meine Beziehung zum Feuer – ich habe Arbeit hineingegeben, nicht nur das Feuerzeug klicken lassen.»


Morgens geht Diego übers Land und schaut sich in Ruhe an, welche Arbeiten heute erledigt werden müssen. Dazu gehören unter vielem Anderem: Trinkwasser holen, Einfeuern, auf dem Feuer kochen, Holzen, «Effektive Mikroorganismen» kultivieren, Holzkohle herstellen, Bäume pflanzen und den Kontakt zu Kunden pflegen: Buchungen entgegennehmen, vom Bahnhof abholen, den Betrieb erklären, Kurse vorbereiten und die Homepage pflegen. Der Unterhalt der Infrastruktur gibt auch immer wieder zu tun.


Diego widmet aber auch Eigenprozessen gerne viel Zeit; diese innere Arbeit kann teilweise sogar höchste Priorität erlangen. Von aussen betrachtet hat man oft den Eindruck, Diego arbeite gar nicht so viel. Aber: Für ihn gehört zur Arbeit auch das Warten auf den Impuls, auf den richtigen Zeitpunkt. Ihm ist es wichtig, Ideen reifen zu lassen bevor er mit der Arbeit anfängt. Er arbeitet zwar nicht ständig und auch nicht besonders schnell, aber wenn er etwas anpackt, stellt sich ihm erstaunlich selten Widerstand entgegen. Seine Arbeit soll mehr lenkend als dominant und eingreifend sein. Meistens fühlt sie sich für ihn nicht nach «chrampfen» an. Ihm ist organisches, langsames Wachstum wichtig. Im Garten, bei Renovierungsarbeiten, aber auch im Gästebetrieb.


Pro Jahr kommen ca. 200 Gäste nach Zir Pign. Hier können sie eine andere Art Leben kennenlernen und ihren Alltag, die Umwelt und sich selber aus neuer Perspektive betrachten. Der Aufenthalt in Zir Pign schenkt Klarheit, der Mensch ist weniger abgelenkt und mehr mit sich selbst konfrontiert. Auch scheint hier die Zeit anders zu ticken: Zwei Tage können sich zu einer gefühlten Woche ausdehnen und für den Gast eine «Auszeit» im wahrsten Sinn des Wortes bedeuten. Diego betont aber: «Bei all der Reflexion über die Wirkung dieses Ortes darf nicht vergessen werden: Zir Pign ist auch einfach wunderschön.»


Lieblingsplätze hat Diego viele, seine Präferenz hängt meistens von der Jahreszeit ab: Im Winter sucht er die Sonne, im Sommer eher den Halbschatten. Die Platzwahl hängt auch vom Gemütszustand ab: bei Verarbeitungsprozessen sitzt er gerne am Flussufer; geht es darum, etwas loszulassen, verabschiedet er sich davon an einer Stelle weiter flussabwärts. Abends sitzt er gerne an einem erhöhten Aussichtspunkt flussaufwärts und schaut sich den Sonnenuntergang an.


Diego hatte schon als Kind eine starke Beziehung zu natürlichen Elementen. Der Zürichsee bei Richterswil, wo er aufgewachsen ist, schenkte ihm in der Kindheit Ruhe und eine gewisse Wahrheit. Vieles am gesellschaftlichen Umgang erschien ihm nämlich widersprüchlich und unwahr, z.B. die Diskrepanz zwischen dem hohen Stellenwert der Bildung und der für ihn enttäuschenden Realität im Klassenzimmer. «Im Kindergarten spielten wir manchmal das Spiel ‹Verkehrte Welt›, wo man immer das Gegenteil sagte, von dem, was man meinte. Mir war dabei ziemlich wohl – hier waren die Widersprüche wenigstens beabsichtigt», erzählt Diego.


Nach der Schule machte er eine Lehre als Polymechaniker und fand in der Welt der Mechanik eine gewisse Ruhe und Richtigkeit. Er spürte aber, dass seine Gefühlswelt zu verkümmern drohte; die Sehnsucht nach belebter Natur wurde immer grösser. So zog er in eine Wohngemeinschaft in einem alten Taglöhnerhaus im Emmental. Dort fühlte er sich zwar lebendiger, aber trotz aller Hoffnung wollte sich kein Heimatgefühl bei ihm einstellen. Er fühlte sich viel stärker vom Graubünden angezogen, vor allem von der Schlucht des Vorderrheins, die er von Ferien mit den Eltern kannte. Am Bündnerland liebt er die Berge, die Ursprünglichkeit und die Ruhe. Er fühlt sich zugehörig und spürt, dass er hier Platz haben darf. Das Verhältnis zwischen Mensch und Natur scheint ihm hier im richtigen Mass zu sein. Und mit dem Graubünden verbindet ihn auch ein Ahnenthema: Seine Vorfahren waren Valser – der Nachname Stoffel zeugt davon.


Seiner Sehnsucht folgend schnappte er also sein Velo, verliess das Emmental und machte sich auf die Suche nach Land: Zwischen Sargans und Thusis sprach er jeden an, den er auf der Strasse traf; er besuchte Bekannte, hängte Inserate in Volg-Läden auf und fragte bei den Gemeinden an, immer auf der Suche nach einem Flecken Erde zum Leben. Als das Land nicht kam, entschied er sich, halt zuerst das Haus zu bauen: Er übernahm zwei alte Bauwägen und restaurierte sie kanpp ein Jahr lang. Den einen Wagen richtete er ganz nach seinen persönlichen Bedürfnissen ein – «mein massgeschneidertes Königreich». Es war aber auch ein einsames Königreich: «In den Bauwagen musste ich ständig Lebendigkeit hineintragen. Das wurde auf Dauer anstrengend. Hier in Zir Pign gibt es viel mehr Leben und einen grösseren Reichtum an Wechselwirkungen. Da fühle ich mich wohler.»


Eine Weile zog er noch mit seinem Wagen herum, bis er über einen Freund von einem Paar erfuhr, das Zir Pign gekauft hatte. «Zuerst habe ich gedacht, er mache einen Scherz, da ich doch schon so lange verzweifelt gesucht habe», erzählt Diego. Dann aber wurde er von dem Paar eingeladen. So wurden aus den rund sieben Quadratmeter Freiraum im Bauwagen viereinhalb Hektaren naturbelassenes Privatgelände mit eigenem Quellwasser und eigenem Solarstrom, der dahinter liegende Wald ist geschütztes Reservat.


Ob er sich trotzdem manchmal einsam fühle? «Manchmal ja, aber ich finde das nicht schlimm», meint Diego. Es sei ein Gefühl von vielen und er nehme es einfach wahr: ach ja stimmt, so fühlt sich Einsamkeit an. Diego erzählt: «Im Winter fällt es mir manchmal schwerer, die Lebendigkeit in der Natur zu sehen; aber auch Schnee hat hunderte Nuancen und Gesichter und somit eine Art Leben in sich. Bei einem Schmetterling im Sommer fällt es mir einfach viel leichter, dieses zu erkennen.»


Wünscht sich Diego, dass alle Menschen so naturverbunden leben wie er? «Ich wünsche mir einfach, dass jeder Mensch für sich herausfindet, wie er im Einklang mit seinem Wesen und der Erde leben kann und so seine ganz persönliche Aufgabe findet.» Seine eigene scheint er gefunden zu haben.



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Mehr Informationen: www.zir-pign.ch