Fall Polanski – die Unfähigkeit zu verzeihen

Roman Polanski hat mit «Ghostwriter» einen passablen Polit-Thriller abgeliefert. Er selbst sitzt immer noch mit elektronischen Fussfesseln in Schweizer Hausarrest. Der Fall Polanski demonstriert vor allem eines: eine ungesunde Dominanz der juristischen Sphäre über alle anderen Bereiche der menschlichen Gesellschaft. (Roland Rottenfusser)

Der Fall Polanski hat neben der juristische noch viele andere Dimensionen. Zwar ist darüber anlässlich der Verhaftung des Künstlers Ende September schon viel geschrieben worden, einige Aspekte wurden mir aber bisher noch nicht deutlich genug beleuchtet. Die Uraufführung des Films «Ghostwriter» in vielen Kinos ist Anlass, sich nochmals Gedanken darüber zu machen.



Die psychologische Dimension: Roman Polanski sagte anlässlich seines Holocaust-Dramas «Der Pianist» einmal, er hätte ebenso gut seine eigene Lebensgeschichte verfilmen können. Doch dies wäre für ihn zu schmerzhaft gewesen. Seine Mutter wurde in Auschwitz ermordet, er selbst konnte aus dem Krakauer Ghetto fliehen und überlebte «untergetaucht» bis Kriegsende. Holocaust-Überlebende erfahren in offiziellen Verlautbarungen viel Mitgefühl. Ihr Leiden ist allgemein als sehr drastisch und traumatisierend anerkannt. Was aber, wenn einer der Überlebenden nicht den Weg stillen Duldens wählt? Wenn seine Traumatisierung andere Formen psychischer Erkrankung erzeugt, die sich z.B. in überschiessender Lebensgier Bahn bricht – in einem Einzelfall auch in einer Vergewaltigung? Hier zeigt sich ganz deutlich, dass ein Urteil über einen Menschen anmassend ist, dessen Leben wir nicht gelebt haben.



Die private Dimension: Angehörige von Gefängnisinsassen werden vom Justizsystem mit grösster Selbstverständlichkeit mitbestraft. In diesem Fall Polanskis Frau Emanuelle Seigner und seine zwei Kinder. Es stellt sich die Frage: Ist nicht jedes Leid, das einem Unschuldigen in der Absicht des «Strafens» zugefügt wird, ebenso ein Verbrechen wie das Verbrechen selbst? Wenn es um die Behandlung von «Sekundärbestraften» geht, gilt der pervertierte Grundsatz: «Eher strafen wir einen Unschuldigen (mit), als dass ein Schuldiger straffrei ausgeht.»



Die künstlerische Dimension: Gefängnis ist verhindertes Leben. Im speziellen Fall des Künstlers ist sie verhinderte Kunst. Wäre Mozart einige Jahr vor Ende seines Lebens eingesperrt worden und hätte man ihm die Möglichkeit genommen, Noten zu schreiben – wir hätten jetzt keine «Zauberflöte» und kein Klarinettenkonzert. Welche noch so «wichtigen» juristischen Erwägungen würden diesen unersetzlichen Verlust rechtfertigen? Welchen Schaden könnte Mozart angerichtet haben – gemessen an dem Nutzen, den er mit seinem Werk als freier Mann gestiftet hätte? Welche Filme Polanskis also würden nicht entstehen können, hätte er eine lange Gefängnisstrafe oder zermürbende juristische Kämpfe vor sich? Es hat Fälle zerstörter Künstlerexistenzen gegeben – etwa den von Oscar Wilde, der im Gefängnis zugrunde gerichtet wurden. Aus künstlerischer Warte benimmt sich der Justizapparat oft nicht besser als eine Barbarenhorde, die durch eine Stadt trampelt und alle Werke der Bildhauerkunst in Trümmer schlägt.



Das erstickte Leben: Freilich, das Gesetz muss für alle gelten. Doch könnte uns dies nicht motivieren, mit Gefängnisstrafen auch bei „normalen“ Menschen vorsichtig umzugehen, Strafen im Zweifelsfall lieber etwas zu niedrig als zu hoch anzusetzen? Warum muss „Gleichbehandlung“ immer bedeuten, dass alle gleich schlecht behandelt werden? Auch Nichtkünstler haben vielleicht etwas wie ein Werk vor sich, das im Gefängnis nicht zur Entfaltung käme. Sie könnten Wertvolles erschaffen und Menschen etwas bedeuten. Wenn man über Sinn und Unsinn von Gefängnis diskutiert, muss man immer auch in Betracht ziehen, wie viel Leben dadurch erstickt wird, was alles nicht entstehen kann, weil der Staat auf seinem «Strafanspruch» besteht.



Die Demütigung des prominenten Dissidenten: Neben dem «Prominentenbonus», den die Behörden fürchten (die Unterstellung also, man würde die Grossen laufen lassen und die Kleinen einsperren), gibt es immer auch so etwas wie den «Prominentenmalus». Am pressewirksamen Beispiel eines Prominenten kann der Staatsapparat vor aller Augen seine Unerbittlichkeit demonstrieren. Die abschreckende Wirkung ist hier umso grösser. «Schaut her, wir sind strenge und harte Kerle. Also bleibt schön brav und brecht keine Gesetze!» Gerade am Fall Polanskis zeigt sich die «unentrinnbare Nemesis» staatlicher Strafverfolgung über mehrere Jahrzehnte und Ländergrenzen hinweg. Daneben greift hier die beliebte Methode der «Demütigung des prominenten Dissidenten». Polanski war immer ein kritischer Kopf, der durch seine künstlerischen Mittel wie durch seine freizügigen Ansichten provozierte. Der politische Liedermacher Victor Jara wurde unter dem Pinochet-Regime als einer der ersten eingekerkert und ermordet. Eine mildere Variante zeigte sich im aufgebauschten Drogenprozess gegen Konstantin Wecker, der zuvor über viele Jahre als Systemkritiker angeeckt war. «Natürlich» wurden auch Vaclav Havel, Ken Saro Wiwa und viele andere Künstler eingesperrt. Der Vergleich mit Polanski hinkt insofern als dieser ein «richtiges» Verbrechen begangen hat. Man sollte solche Zusammenhänge aber im Auge behalten, wenn Staatsorgane allzu eifrig gegen kritische Künstler vorgehen.



Täter und Opfer: Es ist bekannt, dass Polanskis Opfer, Samantha Geimer, ihm längst verziehen hat. Sie sagte sogar einen Satz, der Justizorganen offenbar völlig fremd ist: «Menschen machen Fehler». Und «Ich finde, er hat für seine Tat genug gebüsst». Polanski sass wegen der Tat 42 Tage im Gefängnis und lebte seither in der ständigen Angst, doch noch festgenommen zu werden. Seit seiner Verhaftung im September lebt er nunmehr fast ein halbes Jahr mit drastisch eingeschränkten Freiheitsrechten – ohne Urteil. Auffällig ist dabei wieder die selbstgerechte Grausamkeit der «Guten». Während sich Polanskis Schuld mit den Jahren und durch die Versöhnlichkeit seines Opfers immer mehr verflüchtigt, häufen seine Verfolger immer neue Schuld auf sich: durch Bedrohung, Entführung, Verschleppung, Demütigung und Freiheitsberaubung an einem Familienvater und grossen Künstler. All dies offenbar ohne das geringste schlechte Gewissen. Es stellt sich die grundsätzliche Frage: Wenn Täter und Opfer miteinander im Reinen sind, was hat dann der Justiziapparat überhaupt bei der ganzen Angelegenheit zu suchen?



Lässt man diese Argumente auf sich wirken, so zeigt sich das Verhalten des Justizapparats im Fall Polanski als Manifestation psychischer Grausamkeit auf sehr dünnem ethischem Fundament. Es zeigt sich eine einseitige Dominanz, ja Diktatur der juristischen Sphäre über die anderen Sphären von Kultur und Gesellschaft. Egal, was unter ethischen, persönlichen, psychologischen und künstlerischen Aspekten gegen eine Inhaftierung Polanskis spricht – was zählt ist allein der «Strafanspruch des Staates», der Automatismus eines selbstgerechten und kalten Apparats, der über die Feinheiten menschlicher Abwägungen hinwegwalzt. Justizia muss blind sein, gewiss – aber muss sie auch dumm und herzlos sein? Man kann den ganzen Fall auch unter dem Aspekt der Herrschaft der Juristen über die Nichtjuristen betrachten. In ihrem gewalttätigen Absolutheitsanspruch ist diese Herrschaft nur noch mit der Dominanz der Bewaffneten über die Unbewaffneten vergleichbar. Ein Jurist formuliert einen Anspruch, beruft sich dabei auf Bücher, die von anderen Juristen geschrieben wurden – und ein Mensch wird über ein halbes Jahr oder länger seiner Freiheit beraubt. Die Kulturelite der Welt kann dagegen nur hilflos protestieren. Die Demütigung des Geistes durch die Macht wird hier an einem global exemplarischen Fall zur Schau gestellt.



Niemand wünscht, dass sich Vergewaltigungen wiederholen können und dass die Opfer mit den Folgen ihrer Tat allein gelassen werden. Gerade im Fall Polanski geht aber die Gefahr von Wiederholungstaten gegen Null. Die «Resozialisation» ist mehr als geglückt. Der Künstler hat mit Filmen wie «Tess», «Der Pianist» oder «Oliver Twist»  vielmehr dazu beigetragen, Millionen von Menschen für ethische Fragen zu sensibilisieren. So gesehen gleichen die staatlichen Racheengel einer Figur aus «Tess» mit dem verräterischen Namen Angel – einem Mann, der sich weigert, seinen eigenen Schatten zu erkennen und deshalb auf der «befleckten Ehre» seiner Braut Tess unbarmherzig herumhackt. Die Unfähigkeit der «Guten» zu vergeben, zeigt Polanskis Meisterwerk, besitzt die destruktive Kraft, einen Menschen zu zerstören. Hoffen wir, dass dies im Fall des grossen Regisseurs nicht gelingt.



24. Februar 2010
von: