Frau Merkel, die Flüchtlinge und Europa

Herr G., der befreundete Lehrer, besuchte Herrn Keiner, um mit diesem über den Streit über die Aufnahme von Flüchtlingen zu sprechen. Herr G. sagte: „Es ist schon sehr bemerkenswert, welche Auskünfte man von den Kritikern der Merkel-Politik darüber erhält, was einen Politiker in diesem Land zu einem guten Politiker macht. Wenn der Frau Merkel ‚humanitäre Gefühlsduselei‘, ‚erschreckende Naivität‘ und das Verhalten einer fürsorglichen ‚Asyl-Mutti‘ vorgeworfen werden, so heißt das doch im Klartext: Ein guter deutscher Politiker ist nicht dafür da, notleidenden Menschen Hilfe zu gewähren. Wenn er es tut, muss klar sein, dass eine solche Hilfe einzig aus nationalen Berechnungen zu erfolgen hat; sie muss sich im nationalen Interesse auszahlen, sonst hat sie zu unterbleiben.“

„Dem kann ich nur zustimmen“, sagte Herr K., „es ist schon erschreckend mit anzusehen, dass dieser politische Maßstab kritiklos von der öffentlichen Meinung geteilt wird, dass ein Regierungschef, dem ‚Gutherzigkeit‘ nachgesagt wird, auf Dauer dem Auftrag seines Amtes zuwiderhandelt. Das ist das Eine. In Wahrheit glauben die politischen Kritiker der deutschen Kanzlerin jedoch nicht wirklich daran, dass aus einer ehemals so selbstbewussten Vertreterin deutscher Interessen eine berechnungslose Flüchtlingshelferin geworden ist. Bei diesem Streit über Merkels Flüchtlingspolitik geht es um etwas anderes: Es geht darum, wie die deutschen Interessen in der europäischen ‚Flüchtlingskrise‘ am besten durchzusetzen sind. Genauer: Wie die deutschen Interessen in und mit Hilfe Europas vorangebracht werden. Doch eben das wird so klar nicht gesagt, sondern der Streit führt sich auf wie einer zwischen weltfremdem ‚Gutmenschentum‘ und ‚aufrechten Deutschen‘, die ihr geliebtes Land und seine Bewohner ‚nicht überfordert‘ wissen wollen.“

„Das leuchtet mir ein“, sagte darauf Herr G., „und es fällt mir ein Vorwurf ein, der neulich auf der CSU-Tagung in Kreuth gegenüber der Kanzlerin, die auch dort war, laut wurde: „Merkel agiert nicht als deutsche, sondern als europäische Kanzlerin.“ Das ist schon ein sehr aufschlussreicher Vorwurf, wenn man bedenkt, dass sich doch alle politischen Parteien gerne als ‚gute Europäer‘ in Szene setzen, doch jetzt im Falle Merkel das Öffnen der Grenzen, mit dem die deutsche Kanzlerin ein Zeichen für eine gemeinsame ‚europäische Lösung‘ der Flüchtlingsfrage setzen wollte, als einen ‚Ausverkauf deutscher Interessen‘ an den Pranger stellen.“

„Woran zu sehen ist“, sagte darauf Herr K., „wie schnell aus einem ‚guten Europäer‘ ein ganz gewöhnlicher Nationalist wird, wenn nämlich das Mitmachen in diesem ‚Gemeinschaftswerk‘ aus seiner Sicht mit ‚unzumutbaren Belastungen‘ für das eigene Land verbunden ist. Der aus seinem Kalkül auch das Risiko in Kauf nimmt, mit dem geforderten Schließen der Grenzen ein wesentliches Stück Europa aufs Spiel zu setzen. Und dieses politische Denken“, sagte Herr K. weiter, „ist nicht lokalisiert auf die politische ‚Rechte‘; das findet sich in allen Parteien bis hin zu der Partei ‚Die Linke‘, die in Gestalt von Sahra Wagenknecht unter dem Namen ‚Kontingentierung‘ auch so etwas wie eine ‚Obergrenze‘ für die Aufnahme von Flüchtlingen gefordert hat.“

„Dem nähert sich die Kanzlerin inzwischen ebenfalls zielstrebig an, auch ohne das jemals eine ‚Obergrenze‘ nennen zu wollen“, meinte Herr G. „Doch im Unterschied zu vielen ihrer Kritiker setzt sie nach wie vor auf eine ‚europäische Lösung‘, mit der die Staaten gemeinsam die Aufnahme von Flüchtlingen drastisch einschränken und deren Verteilung auf die Länder regeln und zugleich den mit dem ‚Schengen-Abkommen‘ vereinbarten ‚offenen Grenzverkehr‘ retten sollen. Das ist für sie das in der aktuellen Lage gebotene nationale Interesse Deutschlands. Selbstredend in der Berechnung darauf, dass dieses Land der größte Profiteur der europäischen Geldunion ist und das auch bleiben soll.“

„Das sehe ich auch genau so“, sagte Herr K., „doch die Entscheidung über das beste nationale Vorankommen in und mit Europa ist – wie aktuell zu sehen – zu einer offenen und vehement ausgetragenen Machtfrage geworden. Für diese Auseinandersetzung ist das Elend der Flüchtlinge ohnehin nur das Material, aber eben diese Frage der Aufnahme von ‚Nicht-Dazugehörigen‘ hat den Nationalismus in den Ländern Europas ganz schön auf die Palme gebracht – vor allem in den Staaten, die zu den Verlierern der Konkurrenz um das europäische Geld gehören. Hier ist das ‚Wiedererstarken des Nationalismus‘ ein deutliches Indiz dafür, dass gerade am Mitmachen der Nation in der EU die Schuldfrage aufgeworfen wird, warum das nationale Interesse so sehr unter die Räder kommt. Also steht mit der ‚Flüchtlingskrise‘ für das europäische Bündnis einiges auf dem Spiel“, fuhr Herr K. fort. „Die nationalen Herrschaften streiten sich heftig – mit durchaus offenem Ausgang für die Zukunft ihres Bündnisses.

Für die Flüchtlinge ist der Ausgang dieser Auseinandersetzung nicht offen. Denn darin sind sich alle ‚guten‘ wie ‚schlechten‘ Europäer einig: Die Zahl der ‚Willkommenen‘ muss mit allen gesetzlichen Mitteln wieder ‚heruntergefahren‘ werden. Egal, was das für die Betroffenen bedeutet. Und nicht wenige, die wieder einen Fluchtversuch unternehmen, gehen damit einmal mehr das Risiko ein, im Mittelmeer, dem ausgelagerten Massengrab der Europäischen Union, ihrem Leben vorzeitig ein Ende zu setzen.“

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03. März 2016
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