Frühlingsweise
Was bis vor Kurzem noch nicht sichtbar war, bricht nun mit voller Kraft durch und ist nicht aufzuhalten. Selbst den Asphalt durchdringt das aufgehende Korn. Vielleicht nicht zufällig begannen die Corona-Lockdowns und einschränkende Massnahmen vor fünf Jahren genau zu dieser Jahreszeit. Die Samstagskolumne.
Foto: Meric Dagli
Foto: Meric Dagli

Der Lenz ist da, die Jahreszeit des beginnenden Wachstums und der Blüte. Mit der steigenden Lichtintensität werden vermehrt das sogenannte Glückshormon Serotonin und die Geschlechtshormone Östrogen und Testosteron ausgeschüttet. Nach den dunklen Wintermonaten kommen wir mit der Tag- und Nachtgleiche in eine euphorische Stimmung. Ab jetzt werden die Tage wieder länger als die Nächte. Wie in der Tierwelt, in der die Balz-, Brut- und Setzzeit beginnt, können auch beim Menschen Frühlingsgefühle erwachen. Ob gebunden oder nicht: Wir fühlen uns besonders leicht zu anderen Menschen hingezogen und treten mit ihnen in Kontakt.

Vielleicht nicht zufällig begannen die Corona-Lockdowns und einschränkende Massnahmen vor fünf Jahren genau zu dieser Jahreszeit. Dem Erblühen, dem freudigen Zusammenkommen, wurde ein Riegel vorgeschoben und die Menschen wurden in die Abschottung und in die Isolation gedrängt. Auch daran, wie sehr viele von uns darunter gelitten haben, können wir die Bedeutung des aufbrechenden Lebens erkennen und die Wichtigkeit, im Rhythmus der Jahreszeiten zu gehen. 

Die helle Zeit des Jahres bezeugt eine neue Phase des Wachstums in der Natur. In allen Formen steigt das Leben aus den Tiefen der Erde wieder auf und verdeutlicht, dass auf jedes Ende ein neuer Anfang erfolgt. Die Samen, die den Winter überstanden haben, gehen auf. Innerhalb kurzer Zeit entstehen aus winzigen Körnern üppig blühende Pflanzen. Was bis vor Kurzem noch nicht sichtbar war, bricht nun mit voller Kraft durch und ist nicht aufzuhalten. Selbst den Asphalt durchdringt das aufgehende Korn.

Vor allem in den vergangenen Jahren hat dieses Bild Trost gespendet. Besser ist die Welt seitdem freilich nicht geworden. Zu viele Menschen noch sind nicht aus dem Winterschlaf erwacht. Ein allgemeiner Zusammenbruch ist wahrscheinlicher denn je. Krieg steht vor der Tür. Der erblühenden Natur jedoch ist das egal. Aus den Tiefen der Erde steigt der Saft auf und nichts kann die Knospe daran hindern, sich zu entfalten und den Vogel, sein Nest zu bauen. Sie tun es einfach. 

In der Natur fragt sich niemand, ob er heute noch einen Baum pflanzt, wenn morgen die Welt untergeht. Heute geht die Welt nicht unter. Heute wird der Baum gepflanzt. Für die Wesen der Natur gibt es nur einen einzigen Zeitpunkt: jetzt. Es gibt nur einen Ort: hier. Allein wir Menschen haben die Gabe, uns per Gedankenkraft an andere Orte und in andere Zeiten zu transportieren. Damit haben wir auch die Fähigkeit, wieder ins Hier und Jetzt zurückzukommen, dorthin allein, wo wir etwas ausrichten können. 

Spiel mir das Lied vom Leben

Ja, es geschehen Katastrophen. Ja, viele Lebewesen leiden. Ja, es ist schlimm. Nichts kann das beschönigen. Ja, es muss aufgeklärt werden. Die Verbrechen müssen ans Licht. Die Lügen und Verdrehungen müssen allen vor Augen geführt werden und niemand soll mehr behaupten dürfen, «er hätte von all dem nichts gewusst». Doch machen wir es nicht noch schlimmer, indem wir das Licht, das sich jetzt durchsetzt, verdunkeln und die aufsteigende Lebensenergie abschwächen. 
Bauen wir das Nest. Pflanzen wir den Baum. Bewundern wir die erblühende Pracht und erfreuen wir uns an ihr. Schwingen wir uns in die Höhe. Lassen wir unsere Energie so hoch wie möglich vibrieren. Loben und preisen wir das Leben in den allerhöchsten Tönen. Lassen wir uns das nicht nehmen! Lassen wir uns nicht immer wieder neu in den Lockdown schicken und unsere Lebensenergie einfangen. 

Feiern wir den Frühling! Der Schnee ist gewichen, das vergilbte Gras wartet auf ein neues grünes Kleid. Gelb ist die vorherrschende Farbe, gelb wie der Dotter in den Eiern, in dem sich die Lebenskeime konzentrieren, gelb wie die Strahlen der Sonne, die die Erde erwärmen und überhaupt erst die Bedingungen für das Leben erschaffen. Einen Monat noch dauert die Fastenzeit, in der wir uns von den alten Schlacken trennen können, wie zum Beispiel dem Gedanken, alles sei verloren und es sei zu spät.

Was wissen wir schon? Was wissen wir noch über die Bedeutung der Zyklen und die Gesetze des Lebens, die durch künstliche Verordnungen ersetzt wurden? Was wissen wir über die kosmische Ordnung, zu der auch wir gehören? Etwas Altes geht zu Ende und etwas Neues beginnt. Das allein ist Wirklichkeit. Mit diesem Gedanken können wir wohl wahrnehmen, dass da draussen Kriegsszenarien in jeder nur erdenklichen Form ablaufen. Doch innen, hier, bei uns, da kann es ganz anders aussehen. 

Das Herz kann freudig klopfen angesichts der Schönheit und unerschöpflichen Vielfalt in der Natur. Wir können mit den klaren, harmonischen Tönen in Resonanz gehen und eine Wirklichkeit entstehen lassen, in der Frieden ist. Frieden ist dort, wo ein Mensch sich nicht vom Kriegsvirus anstecken lässt. Hierauf haben wir Einfluss! «Nicht die Mikrobe ist das Problem, sondern das Terrain», sagte der französische Arzt und Chemiker Antoine Béchamp, ein Zeitgenosse und Widersacher von Louis Pasteur.

Was auch immer da draussen passiert: Bestellen wir unseren Garten, so, wie es ein anderer berühmter Franzose anregte. Mit diesen Worten lässt der Dichter und Philosoph Voltaire, der vor allem für seine Tragödien bekannt ist, seine Erzählung Candide enden: «Il faut cultiver son jardin». Hier ist kein Rückzug in eine künstliche Oase gemeint, in der die Welt noch einigermassen in Ordnung ist, sondern das Kultivieren eines inneren Gartens, dessen Sonne in die Welt hinaus strahlt, ohne sich darum zu scheren, wen sie mit ihren Strahlen wärmt und erhellt. 

Sie tut es einfach. 

Kerstin Chavent

Kerstin Chavent

Kerstin Chavent lebt in Südfrankreich. Sie schreibt Artikel, Essays und autobiographische Erzählungen. Auf Deutsch erschienen sind bisher unter anderem Die Enthüllung,  In guter Gesellschaft, Die Waffen niederlegen, Das Licht fließt dahin, wo es dunkel ist, Krankheit heilt und Was wachsen will muss Schalen abwerfen. Ihre Schwerpunkte sind der Umgang mit Krisensituationen und Krankheit und die Sensibilisierung für das schöpferische Potential im Menschen. 

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