Für eine kindgerechte Schule in einer kinderfeindlichen Welt

Die meisten von uns haben eine Schulzeit mit Osterhasen-Pädagogik verbracht: Die Lehrperson versteckte uns das Wissen in mehr oder weniger nett gestalteten Aufgaben und wir mussten darin die gefragte, einzig richtige Lösung suchen. Wie viel wertvolles Wissen, das uns auf diese Weise vermittelt werden sollte, konnten wir mit auf unseren Lebensweg nehmen?

Wenn ich unter Gleichaltrigen nachfrage, was sie denn in der Schule gelernt haben, kriege ich mehrheitlich frustrierende Antworten wie: «Ich habe gelernt zu schlafen, ohne dass es der Lehrer vorne merkt», oder: «Neun Jahre Schule hiess neun Jahre gelangweilt darauf warten, endlich selber was Richtiges machen zu können.»
Ich persönlich habe das gelernt, was immer noch ein Hauptziel der Schule zu sein scheint: Ich habe gelernt, wie das System funktioniert und wie man am besten durchkommt. Wenn man seine Pflichten erfüllt und still ist, kriegt man keine Schwierigkeiten. Das ist der bequemste Weg. Ich habe so beispielsweise  gelernt in welchem Stil man einen Aufsatz schreiben muss, damit der Deutschlehrer Freude daran hat. Nachhaltig gewirkt hat auch die Lektion, dass was mich selber interessieren und begeistern würde, jetzt gerade nicht wichtig und auch nicht von Belang ist. Ich war immer ein guter Schüler, bis ich dann mitten im Gymnasium überhaupt keinen Sinn mehr darin sah, mein Hirn mit Vokabelbergen und abstrakten Formeln zu füllen, die ich sowieso immer wieder vergass. Ich wusste aber auch nicht mehr, was mich überhaupt interessierte, was Sinn machen würde. Was ich werden wollte? Wie sollte ich auf diese Frage eine Antwort finden, nachdem mir über so viele Jahre abgewöhnt wurde, meine Bedürfnisse und Interessen ernst zu nehmen? Der Sohn eines Landarztes in meiner Klasse, der keinen genügenden Notendurchschnitt hatte, schied mit 17 freiwillig aus dem Leben und auch sonst hat so mancher aus diesem privaten Elitegymnasium den Lebenssinn und die Lebensfreude nicht so schnell wieder gefunden.

Mittlerweile weiss ich, dass ich mit solchen Erfahrungen in Kindheit und Schulzeit nicht zu einer Minderheit gehöre. Statt gelernt zu haben, auf unsere Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen und Raum und Unterstützung zu bekommen, um unsere Interessen und Fähigkeiten zu entwickeln, wurde uns eine hohe Anpassungsleistung abverlangt. Neben den Unannehmlichkeiten solcher Erfahrungen wurden uns damit auch lebenslängliche Hausaufgaben aufgebrummt: herauszufinden, wer wir eigentlich sind, was wir in diesem Leben wollen und was wirklich wichtig ist. Falls wir dann überhaupt noch je auf einen für uns Sinn-vollen Weg kommen, der unsere Stärken herausfordert und unsere Schwächen fördert, haben wir bereits einen rechten Teil unserer Lebensenergie für die Suche danach aufwenden müssen.


Wie müsste denn Lernen und Schule funktionieren, dass wir uns nicht entfremden und vom Weg abkommen? Antworten auf diese Frage finden wir im Vorschulalter: Am meisten, am schnellsten und mit der grössten Hingabe lernen wir in den ersten Lebensjahren. Sitzen, krabbeln, essen, gehen, unsere Hände und Sinne gebrauchen und noch Vieles mehr. Auch unsere Muttersprache lernen wir inklusive Grammatik ganz ohne Lehrer, der uns den Satzbau erklärt oder Wörter auswendig lernen lässt - auch mehrere Sprachen sind kein Problem.
Kleinkinder sind mit ihrer Aufmerksamkeit und all ihren Sinnen ganz im gegenwärtigen Moment. Alles wird von allen Seiten betrachtet, betastet, geschmeckt, erprobt, was man alles damit anstellen kann – Forschergeist in Reinkultur. Sobald dann etwas zum ersten Mal gelingt, wenn beispielsweise der dreieckige Klotz zum ersten Mal durchs dreieckige Loch passt, ist so ein Kind ganz begeistert und wiederholt diesen Vorgang unzählige Male.
Laut dem Hirnforscher Gerald Hüther ist Begeisterung das A und O beim Lernen. «Begeisterung ist die Giesskanne, die unser Gehirn düngt» erklärt er.
«Je mehr Sinne beim Lernen einbezogen sind, desto mehr lernt man», wiederholt Peter Struck, Professor für Erziehungswissenschaften aus Hamburg, seit Jahrzehnten unermüdlich.
Je mehr Sinne einbezogen sind, umso mehr Zentren im Hirn werden aktiviert, folglich wird der neue Impuls mit einer Vielzahl bereits vorhandener Eindrücke, Wissen und Emotionen verknüpft. So hinterlässt eine (Lern-)Erfahrung eine nachhaltige Spur im Gehirn.



Kraftvolle, stärkende Erfahrungen mit einem nachhaltigen Lernerfolg müssen also folgende zwei wichtige Bedingungen erfüllen: Sie müssen Begeisterung wecken beim Kind und möglichst viele Sinne ansprechen. Das heisst nun zum Glück nicht, dass nur die besten Showmaster den Lehrerberuf wählen sollten. Solange hauptsächlich die Lehrkräfte tätig sind im Unterricht, springt der Funken nur in seltenen Sternstunden zu den Kindern.
Viel einfacher wecken wir bei Kindern Begeisterung, wenn sie selber tätig sein dürfen. In einer Welt, in der man alles downloadet, fertig kauft, konsumiert und wegwirft, sollten unsere Kinder vor allem in der Schule erfahren, was sie alles selber oder gemeinsam herstellen, gestalten, sich ausdenken und umsetzen können. Solche Erfahrungen der Selbstwirksamkeit beflügeln ihr Selbstvertrauen, lassen sie spüren warum sie hier sind und wozu sie fähig sind. Kein Redner und kein Gerät kann uns dies bieten. Aber das sind alles keine neue Erkenntnisse.

«Kinder wollen nicht wie Fässer gefüllt, sondern wie Fackeln entzündet werden», sagte Francois Rabelais 500 Jahre bevor ein Hirnforscher uns von einer Begeisterungsgiesskanne erzählte. Neu ist aber, dass unsere verbaute, naturferne, bewegungsarme, virtuelle Lebenswelt eine gesunde Entwicklung der Kinder immer mehr gefährdet.
Dass wir ein Bewusstsein für kindliche Bedürfnisse entwickeln, wird so für unsere Kinder existenziell. Wir sind gefordert, ihnen gezielt die Lebens- und Lernräume zu schaffen, die sie brauchen.

Schulen können sich nicht mehr länger auf ihren eingegrenzten Bildungsauftrag beschränken. Schulen müssen zu kindgerechten Lebens- und Lernorten werden, wo das Gemeinschaftsleben erübt und erlebt wird und auch für den Freizeitbereich geeignete Innen-, aber vor allem auch Aussenräume vorhanden sind. Individualisierender Unterricht in altersdurchmischten Gruppen, Ganztagesbetreuung, pädagogisch sinnvolle Freizeitangebote und ein stärkerer Einbezug von Eltern und ihren Fähigkeiten gehören in solche Schulkonzepte.
Nicht nur die gesellschaftlichen Veränderungen verlangen nach solchen Schulmodellen. Auch von wissenschaftlicher Seite wird immer deutlicher, dass normiertes Lernen unter Gleichaltrigen und der damit einhergehende enorme Leistungsdruck den Lernprozess der Kinder eher behindern denn fördern und dass eine gelungene sensorische und motorische Entwicklung die Voraussetzung für die Entfaltung des geistigen und intellektuellen Potenzials sind.

Um kindgerechte Schulen zu schaffen, können wir von Vielem profitieren, das bereits gedacht, geschrieben und erprobt wurde:
«Die Erziehungskunst müsste wesentlich und in allen Teilen zu einer Wissenschaft erhoben werden, die aus der tiefsten Kenntnis der Menschennatur hervorgehen und auf sie gebaut werden müsste.» postulierte Johann Heinrich Pestalozzi bereits 1818.
Und Rudolf Steiner 1907: «Die Kindesnatur soll einfach beschrieben werden; aus dem Wesen des werdenden Menschen heraus werden sich wie von selbst die Gesichtspunkte für die Erziehung ergeben.»
Die Aufforderung «Hilf mir, es selbst zu tun» fasst die Erkenntnis Maria Montessoris zusammen, dass jede Belehrung eine gestohlene eigene Lernerfahrung ist.
Neben diesen beiden weltweit bekanntesten alternativen Schulmodellen, haben sich in den letzten 100 Jahren zahlreiche Pädagogen aufgemacht, die Schule nach ihren Vorstellungen zu verändern.
Die Vielfalt soll uns nicht verwirren – lassen wir uns davon inspirieren. Die Frage, welches Modell richtig ist, ist falsch. Lernen geschieht weder nach einer bestimmten Methode, noch auf Befehl. Wenn wir uns bemühen, den uns anvertrauten Kindern die möglichst besten Voraussetzungen zu schaffen, dann kann Lernen gelingen.

Was richtig ist, soll jedes Kind, jeder Erziehende, jede Schule, jede Gemeinde für sich und seine individuellen Bedürfnisse entscheiden. Alle sind persönlich gefordert ihre Vision zu entwickeln, sich auf ihren Weg zu machen der immer weiter geht. Wenn wir uns mit den ersten Antworten auf unseren Fragen nicht zufrieden geben, sondern daraus immer mehr Fragen wachsen, dann bleiben wir selber Lernende: Wir leben den Kindern vor, was es heisst, begeistert zu sein und zu bleiben, Herausforderungen zu bewältigen, manches richtig und anderes falsch zu machen. Solche Menschen braucht unsere Welt, solche Vorbilder brauchen unsere Kinder.         
    
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Christian Wirz, 46, verheiratet, Vater von 2 Söhnen. Beruflich seit 25 Jahren als Pädagoge unterwegs: als Primarlehrer, Jugendarbeiter, Fachperson und Mediator zu Jugendgewalt und Rassismus. Aktuell freier pädagogischer Berater und Co-Geschäftsleiter des «Freien Pädagogischen Arbeitskreises FPA», ein Kompetenzzentrum für innovative Pädagogik, das sich seit 40 Jahren mit Weiterbildungen, Tagungen und Fachliteratur für eine kindgerechte Schule engagiert.

Mehr Infos/Kontakt:
www.arbeitskreis.ch , Tel: 033 534 31 34

25. September 2014
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