"Hunde sind auch nur Menschen"

Blindenführhunde schenken Sehbehinderten viel mehr als nur Selbständigkeit.

«Sie hat mein Herz im Sturm erobert», erinnert sich Arthur Leutwiler. Ein halbes Jahr ist es jetzt her, seit er seinen vierten Führhund auswählen durfte an der Blindenhundeschule Allschwil. «Am Morgen wurde mir und meiner Frau Edith eine äusserst sympathische weisse Labradorhündin vorgestellt. Doch als am Nachmittag Gin kam, war es um mich geschehen. Es war ein ganz starkes Bauchgefühl, kaum zu erklären. Ihr sensibles und gleichzeitig so offenes Wesen hat mich ungemein berührt.» Die Vorliebe seiner Frau Edith wäre eine weisse Hündin gewesen – gleich den Vorgängerinnen Albinca, Osra und Queen. Gin aber war schwarz – und hat inzwischen auch sie mit ihrem sanften Wesen um «die Pfote» gewickelt.

«Zuerst gilt es, als Team zusammenzuwachsen», sagt Arthur Leutwiler. Es brauche seine Zeit,  sich kennenzulernen, die Umgebung gemeinsam zu erkunden und wichtige Routen einzuüben. «Hunde sind auch nur Menschen», schmunzelt er. «Lärm, starke Gerüche, Ablenkung durch andere Tiere oder durch Menschen, die den Hund beobachten, ansprechen oder streicheln,  können die Führarbeit beeinträchtigen. Bei starker Hitze etwa ist der Hund nicht motiviert, vereiste Wege oder schneebedeckte Fussgängerstreifen verunsichern uns beide. Meine Verfassung und die des Hundes beeinflussen sich gegenseitig.» Ihre Verbundenheit ist immer wieder zu spüren in kleinen zarten Gesten oder diesem glücklichen Lächeln, wenn Gin ihn sanft mit ihrer Schnauze anstupft.

Ein sensibles Team
Im Alter von zehn Jahren ist Arthur Leutwiler vermutlich wegen einer Pockenimpfung völlig erblindet. «Das letzte, was ich noch sehen konnte, waren helle Blitze, dann war alles weg.» Er erinnert sich aber, wie die Welt aussieht und hat starke innere Bilder.

Der 77-jährige Psychologe und Vater zweier erwachsener Töchter ist immer noch aktiv in seiner Praxis. Seine langjährige Arbeit als Dozent und Supervisor am C.G. Jung-Institut, sowie bei der Dargebotenen Hand hingegen hat er abgegeben. Dank der jeweiligen Blindenführhündinnen konnte er neben den verschiedenen Routen durch Zürich auch  seine geliebten Waldspaziergänge selbständig unternehmen, und die Familie konnte einen Teil der Verantwortung an den treuen Vierbeiner abgeben.

«Dennoch kann ein Hund nicht alles einschätzen, die Geschwindigkeit der Autos und Trams etwa, oder wenn unbekannte Hindernisse auftauchen oder Baustellengeräusche, wo vorher nichts war.»  Er weiss, wovon er spricht. Nur ungern erinnert er sich an jenen Morgen, als er vom Hund geführt den gewohnten Weg nahm, als plötzlich aus dem Nichts eine «Wand» auf ihn zurollte. «Sie drückte mich zu Boden und donnerte über mich hinweg.» Was war geschehen? Ein von den Bremsklötzen entsicherter Lastwagen hatte sich die steile Strasse hinunter in Bewegung versetzt und rollte direkt auf Leutwiler und seinen Hund zu. «Wir hatten riesiges Glück. Eine Knieverletzung war alles, was ich davontrug. Mein Hund blieb gänzlich unverletzt.»

Vertrauen
«Gin macht ihre Arbeit sehr sorgfältig und gut. Bald können wir zusammen die Führhund-Prüfung ablegen.» Tatsächlich zeigt das schwarze Labradorweibchen viel Konzentration und Eifer bei der Arbeit und führt ihren «Job» voller Stolz aus. Zuverlässig zeigt sie ihm durch Anhalten, wenn eine Treppe kommt oder ein Hindernis auf dem Trottoir oder in Seiten- oder Kopfhöhe. Sie liebt es auch über alles, Gegenstände zu apportieren, die ihm herunterfallen.
In aufwändigem neunmonatigen Training hat Gin in Allschwil gelernt, auf etwa 30 italienische Hörzeichen entsprechend zu reagieren. Sie kann ihm problemlos Fussgängerstreifen, Ampeln, Türen, Billetschalter, öffentliche Verkehrsmittel oder freie Sitzplätze zeigen.

Doch immer wieder darf sie auch nur Hund sein und aus dem Führgeschirr, um mit Artgenossen zu spielen, im Bächlein herumzutollen oder durchs Dickicht zu strolchen. Ihren Freund aber will sie nicht aus den Augen verlieren. Ein Ruf und schon ist sie da.
Er müsse schauen, dass sie ihm nicht zuviel Arbeit abnehme. Habe sie doch in der Praxis schon manche Tränen zum Fliessen gebracht und seelische Schmerzen zärtlich mit weicher Schnauze und warmem Fell gestillt, sagt Leutwiler und in seiner Stimme schwingt die ganze Liebe zu diesem Tier.

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