«Ich wäre froh, wenn Sie mich einfach in Ruhe liessen»
Wie ich meinen Mathematiklehrer davon überzeugen wollte, mir keine Eins zu geben – und erkennen musste, dass die Macht des geschriebenen Wortes begrenzt ist. Aus der Serie «Als ich mich in die Welt verliebte. Chronik einer Leidenschaft» #33 von Nicolas Lindt.
Zurück von unserem Finnlandtrip, zurück im Alltag der höheren Bildung, musste ich zunächst mit Enttäuschung feststellen, dass meine Fernbeziehung mit dem Mädchen aus England die Sommerferien nicht überstanden hatte. Mein Versprechen, in der letzten Ferienwoche nach London zu kommen, um sie zu sehen, hatte ich nicht gehalten, denn für den Rückweg aus Finnland nahmen sich mein Reisegefährte und ich mehr Zeit als am Anfang geplant. So kam es nicht zum erhofften Wiedersehen zwischen Iris und mir, und der Briefwechsel zwischen uns begann abzukühlen, je mehr sich der Sommer zurückzog. Vielleicht waren wir noch zu jung für eine Liebe auf Distanz.
Ich wünschte mir natürlich schon eine Freundin, und sie musste ja nicht gleich in London wohnen. Doch eigentlich fehlte mir die Zeit für ein neues Verliebtsein. Die Schule nahm keine Rücksicht auf meine ausserschulischen Aktivitäten. Bis zur Reifeprüfung blieb noch ein knappes Jahr, und der Druck nahm zu. Prüfung folgte auf Prüfung, Sinnlosigkeit auf Sinnlosigkeit, und am liebsten hätte ich alles hinschmeissen wollen. Doch mein Ehrgeiz erwachte und liess es nicht zu, dass ich aufgab. Auch in den Fächern, die ich mit Leidenschaft hasste, bemühte ich mich, mitzuhalten und genügend zu bleiben.
Mit einer Ausnahme. In der Mathematik war ich auf der Strecke geblieben. Ich kam nicht mehr mit. Das einzige, was ich gut konnte, war Kopfrechnen, aber Geometrie, Logarithmen, Differential- und Integralrechnung - das alles blieb ein Buch mit sieben Siegeln für mich. Als wir eine weitere Prüfung hatten, kapitulierte ich schon bei der ersten Aufgabe. Also tat ich, was ich am besten konnte: Anstatt zu rechnen, schrieb ich. Ich schrieb dem Mathematiklehrer während der Prüfung die folgenden Zeilen:
«Lieber Herr Wyss
Mein Interesse an der Mathematik ist mir so verdorben, dass ich nichts mehr dafür tun kann. Ich möchte mich deshalb wirklich nur noch in jenen Fächern bemühen, wo mein Einsatz mir etwas nützt und wo meine Einstellung etwas positiver ist. Verstehen Sie das? Deshalb wäre ich froh, wenn Sie mich einfach in Ruhe liessen. Sie sagten uns einmal, dass Sie im Zeugnis nie unter die Note 3 gehen würden. Ich wäre Ihnen so dankbar, wenn wir uns darauf einigen könnten.
In den verbleibenden Mathematikstunden bis zur Matura würde ich mich darauf beschränken, die mathematischen Grundlagen aufzuarbeiten. Darf ich das?
Warum ich jegliche Lust auf die Mathematik verloren habe, ist leicht zu erklären. Ich habe mich immer mehr für Dinge zu engagieren begonnen, die für mich wichtig werden, sobald ich das Wirtschaftsgymnasium hinter mir habe. Deshalb empfinde ich die Schule seit bald zwei Jahren nur noch als eine unerträgliche Last.»
Herr Wyss, unser Mathematiklehrer, war ein netter Mensch, und ich glaube, er mochte mich, obwohl er wusste, wie schwer ich mich mit seinem Fach tat. Er mochte mich, weil er sah, dass ich mehr als nur keinen Zugang zu mathematischen Formeln fand. Er sah mich leiden an der Mathematik, und das stimmte ihn nachsichtig. Aber er konnte nicht gutheissen, dass ein Schüler an einer Matheklausur Worte statt Zahlen abliefert. Als die Klasse die korrigierte Prüfung zurückerhielt, stand mit rotem Filzstift auf meinem Blatt:
«Du erfüllst die Voraussetzung für die Note Drei nicht. Nicht einmal für die Note Zwei! Ich kann dir nur die Note Eins geben.«
Hatte ich ernsthaft geglaubt, ich könnte den Mathematiklehrer davon überzeugen, mich in Ruhe zu lassen? Ich musste die 1 zerknirscht einstecken und gefährdete ausserdem seine Gunst für mich. Nicht zum ersten Mal hatte ich mir mit der Macht des geschriebenen Wortes, das mir so leicht von der Hand ging, eigentlich nur geschadet. Dieser Versuchung bin ich noch viele Male in meinem Leben erlegen. Immer wieder glaubte ich, wenn ich nur das Richtige schrieb, würden mir alle Türen geöffnet. Und immer wieder musste ich lernen, dass die Türen erst dann aufgehen, wenn das Leben den Zeitpunkt für richtig hält.
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