Im Auftrag der Bibel?

Die geistigen Grundlagen des Zionismus verhindern den Frieden in Nahost

Der Zionismus ist das Problem, seine Beseitigung die Voraussetzung für Frieden im Nahen Osten und für arabisch-jüdische Versöhnung. Zu diesem Schluss kommt John Rose, Dozent für Soziologie der London Metropolitan University und selber Jude, in seiner Analyse der «Mythen des Zionismus». Das Buch öffnet die Augen für die spirituellen Wurzeln der Politik Israels und zeigt, was im Nahen Osten am dringendsten nötig ist: eine jüdische Befreiungstheologie.

Die These von John Rose ist, «dass die zionistische Ideologie durch eine Reihe von Mythen zusammengehalten wird. Die Untersuchung dieses Pakets falscher Vorstellungen [zeigt], dass der Zionismus sich zu Unrecht auf die jüdische Religion und Geschichte beruft, ebenso wie er zu Unrecht seine Existenzberechtigung aus dem europäischen Antisemitismus ableitet.

Ben Gurion, ein «Faktenverdreher»

Neben Theodor Herzl, dem Gründer des Zionistischen Weltkongresses, war David Ben Gurion, Israels erster Ministerpräsident, der «grösste Mythenbildner des Zionismus». «Dieser Faktenverdreher», schreibt Rose, «erklärte einst stolz, ein Mythos könne zur Tatsache werden, wenn die Menschen stark genug daran glaubten.» In seinem Buch nimmt Rose u.a. «Ben Gurions abscheulichste Verwendung eines religiösen Mythos auseinander», wonach die Bibel ihm den Auftrag zur Ausrufung des jüdischen Staates in Palästina gegeben habe. Nach Darstellung im Alten Testament soll von 1000 bis 922 v.Chr. ein altes jüdisches Königreich unter der Führung von David und Salomo bestanden haben, das sich vom Euphrat in Syrien bis Wadi al-Arisch im Norden der Halbinsel Sinai erstreckt habe. Seine Grenzen decken sich mit denen aus der Verheissung der Genesis, in der Gott Abraham verspricht: «Und ich werde dir und deinen Nachkommen nach dir das Land deiner Fremdlingsherrschaft geben, das ganze Land Kanaan, zum ewigen Besitz, und ich werde ihnen Gott sein.»
Dazu schreibt Rose: «Das ist die Grundlage für das berüchtigte utopische Geografiekonzept des Zionismus von Eretz Israel, dem Land Israels als Grundstein der zionistischen Ideologie. Es stellt eine hochwirksame Mischung aus historischem Judaismus und modernem Nationalismus dar, indem die Verheissung an Abraham gefeiert und das vereinte Königreich als ihr politischer Ausdruck in Anspruch genommen wird, um als modernes Legitimationsmodell zu dienen. […] Ben Gurion glaubte nicht unbedingt an diese oder andere biblische Geschichten. Was für ihn zählte, war – seiner eigenen Aussage zufolge –, dass viele Juden daran glaubten. Es war gleichgültig, ob es dabei um Wahrheit oder Unwahrheit ging.»
Nach heutiger archäologischer Erkenntnis ist der Mythos eines grossen Königreichs von David und des von Salomo erbauten Tempels eindeutig eine Unwahrheit. Die eminenten israelischen Historiker Finkelstein und Silbermann beschreiben in ihrem Buch «Keine Posaunen vor Jericho» (2004) das Resultat von jahrzehntelangen Grabungen im biblischen Jerusalem, die keine «nennenswerten Beweise für eine Besiedlung im 10. Jahrhundert v.Chr. zutage» förderten: «Es fehlt nicht nur jegliches Anzeichen einer monumentalen Architektur, auch einfache Tonscherben fand man nicht.» Tatsache bleibe, dass «die David- und Salomo-Erzählungen herausragendes Ergebnis menschlicher Einbildungskraft im Altertum» seien. Und trotzdem konnte Ben Gurion 1936 der britischen Kolonialverwaltung schreiben: «Die Bibel ist unser Auftrag.» «Die Dreistigkeit dieses Mannes nötigt einem Bewunderung ab», schreibt John Rose. Und: «Das Schmunzeln über die Dreistigkeit vergeht uns allerdings, wenn wir in Betracht ziehen, wie leicht es Ben Gurion gefallen ist, seinen politischen Messianismus zur Unterstützung von Israels politischen und militärischen Unternehmungen einzusetzen. Das messianische Volk konnte rechtmässig aggressive und nationalistisch-expansionistische Ziele in Palästina und darüber hinaus verfolgen, denn es allein konnte sich auf eine Schrift des Alten Testamentes berufen.»´

Der Mythos vom Leiden – «Heuchelei»

Der Mythos vom Exil ist für John Rose «besonders aberwitzig». Angeblich erstreckt sich das «Exil» auf fast 2000 Jahre Geschichte, von der Niederschlagung des Judenaufstands durch die Römer 70 n.Chr. bis zur Gründung des Staates Israel 1948. Dabei lebten bereits 70 n.Chr. die meisten Juden ausserhalb Palästinas, freiwillig und meist recht gut assimiliert. Im römischen Reich waren sie sogar Teil des Herrschaftssystems in den Kolonien, in den arabischen Gebieten bildete sich eine arabisch-jüdische Kultur und Babylon entwickelte sich zum geistigen Zentrum des Judentums. Der babylonische Talmud, noch immer geistige Anleitung für alle religiösen Juden, ist Zeugnis für die Bedeutung dieser Gemeinden.
Dem Leidensmythos mit dem Holocaust als realem, schrecklichem Höhepunkt, stellt Rose den Aufstieg der jüdischen Kaufmannsklasse gegenüber. Dabei sei unbestritten, dass die wirtschaftliche Rolle der Juden im mittelalterlichen Europa den traditionellen christlichen Antisemitismus sowohl verstärken als auch entfachen konnte. Rose: «Der Zionismus erzählt jedoch nur die eine Seite der Geschichte. Christliche Herrscher waren häufig bereit, ihre oft sehr erfolgreichen und wirtschaftlich aktiven jüdischen Untertanen zu schützen. In jedem Fall geht der Zionismus jeder ernsthaften Debatte über die wirtschaftliche Rolle von Juden in der Frühgeschichte Europas aus dem Weg. Das ist Heuchelei.»
So demontiert John Rose Mythos um Mythos, die der Zionismus benutzt, um die Juden tatsächlich zum auserwählten Volk Gottes zu machen, das sie genauso wenig sind, wie die USA «God‘s own Country» oder nur die Christen von Jesus erlöst wurden. Ein Gott, der tatsächlich Gott ist, wird die Tür zum Heil allen Menschen gleich weit öffnen, egal welcher Rasse, Kultur oder Herkunft.

Gewissensbürgerkrieg im Judentum

Der Zionismus als politischer Arm des Judentums wird auch unter Juden zunehmend in Frage gestellt. Der amerikanisch-jüdische Theologe Marc Ellis sieht sogar Symptome eines «Gewissensbürgerkriegs», einer Schlacht, die in den jüdischen Gemeinden unter der Oberfläche brodelt. Die kritischen Stimmen innerhalb von Israel werden stärker, vor allem aus dem Kreis ehemaliger hochrangiger Zionisten der Arbeitspartei. So schrieb Avraham Burg, 1999 bis 2003 Präsident der Knesset, in einem Aufsatz 2003: «Die heutige israelische Nation beruht auf einem Gerüst von Korruption und einem Fundament der Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Deshalb ist das Ende des zionistischen Unternehmens bereits abzusehen. […] Der zionistische Überbau bricht bereits zusammen wie ein billiger Hochzeitssaal in Jerusalem. Nur Wahnsinnige tanzen in der obersten Etage weiter, während die Säulen unter ihnen einstürzen. […] Israel, das aufgehört hat, sich um die Kinder der Palästinenser zu kümmern, sollte nicht überrascht sein, wenn diese sich dann voller Hass dort in die Luft jagen, wo Israeli der Realität zu entfliehen versuchen. Sie vertrauen sich Allah dort an, wo wir Erholung suchen, weil ihr Leben zur Folter geworden ist.»

Absehbar: Das Ende der israelischen Apartheid

Oder Meron Benvenisti, langjähriger stellvertetender Stadtpräsident von Jerusalem: «So wie die südafrikanischen Herrscher zu einem bestimmten Zeitpunkt wussten, dass sie keine andere Wahl mehr hatten, als ihr Regime abzuschaffen, so muss auch das israelische Establishment begreifen, dass es seine hegemonialen Vorstellungen nicht 3,5 Millionen Palästinensern im Westjordanland und im Gazastreifen und 1,2 Millionen Palästinensern, die Bürger Israels sind, überstülpen kann. Unsere Aufgabe ist es, eine Situation individueller und kollektiver Gleichheit unter einem gemeinsamen Regime für das ganze Land herzustellen. […] Ich bin jetzt 70 Jahre alt und ich habe das Recht, ein Resümee zu ziehen. Und ich war Teil all der Entwicklungen in diesem Land: der Jugendbewegung und der Armee und dem Kibbuzz und der Politik. Ich bin das Salz der Erde und schäme mich nicht dafür. Ich bin ein stolzer israelischer Pilgervater der Mayflower. Niemand hat das Recht, mich einen Verräter zu nennen. Niemand hat das Recht, mir zu sagen, dass ich nicht von hier bin – einschliesslich der Palästinenser. Ich bin genau das geworden, das mein Vater sich gewünscht hat: ein Einheimischer. Er wollte, dass ich wie ein Baum aus der Erde des Landes wachse. Er wollte, dass ich zu einem natürlichen Teil der Landschaft werde. Und er könnte Erfolg gehabt haben: Ich bin ein Sohn des Landes. Dies ist jedoch auch das Land, in dem immer Araber lebten. Dies ist ein Land, in dem die Araber die Landschaft sind, die Einheimischen. Deshalb habe ich keine Angst vor ihnen. Ich kann mir nicht vorstellen, ohne sie zu leben. In meinen Augen ist dieses Land ohne die Araber ein ödes Land. […] Darum glaube ich, die Zeit ist gekommen zu erklären: Die zionistische Revolution ist am Ende. Vielleicht sollte sie sogar offiziell für beendet erklärt und zugleich ein Datum festgelegt werden, an dem das Rückkehrrecht aufgehoben wird. Wir sollten beginnen, die Dinge mit anderen Augen zu sehen und anders zu sprechen. […] Denn letztlich werden wir hier eine jüdische Minderheit sein.»

Emanzipation des Judentums vom Zionismus


Es tut gut, dass das Buch von Paul Rose mit klaren und versöhnlichen Stimmen wie die von Benvenisti schliesst. Denn Roses Analyse der geistigen Grundlagen des Nahost-Kon­flikts zeigt, dass wir trotz wiederholter Kriege, wachsenden Elends und Unterdrückung hoffen können: auf eine spirituelle Erneuerung und eine Emanzipation des Judentums von seinem politischen Arm, dem Zionismus. Denn wer immer im Namen Gottes Krieg führt, hat ihm nicht richtig zugehört, sei er nun Jude, Moslem oder Christ.
 
Wer den Nahost-Konflikt verstehen will, – und das sollten wir wirklich alle – findet in den «Mythen des Zionismus» von Paul Rose ein zügig geschriebenes, prägnantes Buch über seine wirklichen, nämlich die geistigen Grundlagen. Gehet hin und leset es.

John Rose: Mythen des Zionismus – Stolpersteine auf dem Weg zum Frieden. Rotpunkt-Verlag, 2006. 334 S. Fr. 38.- / Euro 24.-.
01. September 2006
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