Was bisher geschah: Die Hauptstadt der Steinzeit - Der Neandertaler - Das Hotel Cro Magnon - Die Grotte von Saint-Cirq
«Wir werden jetzt die Grotte besichtigen», sagt der Einheimische. Er spricht zu uns nun im routinierten Tonfall des Fremdenführers und bittet uns, mit ihm zu kommen. Hinter dem kleinen Museum befindet sich im Fels eine metallene Pforte, die uns vorher nicht auffiel. Der Verwalter, der eine Handlampe bei sich hat, öffnet das Schloss der Tür, und wir treten hinter ihm in die Dunkelheit ein.
Feuchtigkeit und Kühle umfängt uns. Der Lichtkegel der Lampe wandert über den Fels, und allmählich erkennen wir ein leeres, kellerartiges Gewölbe.
«Es ist eine kleine Grotte», erklärt uns der Mann. «Nur dieser eine Raum.»
Ebenso wie die Häuser von Saint-Cirq gehört auch die Höhle dem Gutsherrn, dessen Landsitz ganz in der Nähe liegt. Eines Tages vor vielen Jahren schon, so erfahren wir, führte der Vater des heutigen Gutsbesitzers einen Gast in die Grotte, welche damals noch als Weinkeller diente. Der Besucher, ein Herr, der sich privat mit Geschichte befasste, hatte Kenntnis davon, dass die Höhlen in dieser Gegend steinzeitliche Spuren enthielten. Er nahm die Gelegenheit wahr, liess sich eine Petrollampe geben und leuchtete den Wänden entlang.
Nach einer Weile des Suchens stiess er auf eine Gravierung im Fels, die den Kopf eines Bisons zeigte. Es war eine schöne und wirklichkeitsnahe Darstellung. Der einstige Zeichner hatte Unebenheiten im Gestein geschickt ausgenutzt, um die Konturen des Kopfes hervorzuheben, sodass der Eindruck eines plastischen Werkes entstand. Am auffälligsten war das grosse Auge der Kreatur - es hatte für den Steinzeitmenschen offenbar eine besondere Bedeutung gehabt.
Das Bild des Bisons sollte indes nicht das einzige sein, das der Besucher der Grotte entdeckte. Unweit davon war ein Pferd abgebildet, daneben ein zweites und drittes, etwas oberhalb tauchte ein Steinbock auf, und alle diese Gravuren waren gleichermassen gekonnt und zweifellos das Werk von Menschen mit künstlerischer Begabung. Prähistoriker untersuchten die Zeichnungen, verglichen, prüften und konnten danach bestätigen, dass die Bilder von Saint-Cirq aus der Altsteinzeit stammten und 15 000 Jahre alt waren.
«Wir befinden uns hier in der Grotte des Zauberers», hören wir hinter uns die Stimme des älteren Herrn. «Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit bitte auf die gegenüberliegende Wand.»
Der Lichtkegel des 20. Jahrhunderts streift suchend dem Fels entlang, um dann wie zufällig auf die Umrisse eines Körpers zu stossen. Eine merkwürdige Darstellung zeichnet sich ab. Die Gestalt ist nackt und sieht aus wie eine Missgeburt: Ein kahler, unförmiger Kopf, zu kurz geratene Arme, ein Bauch, der wie schwanger wirkt, und ein übergrosses steifes Glied. Die Augen scheinen geschlossen zu sein.
«Das ist der Zauberer.»
Der Verwalter von Saint-Cirq sagt es mit einem respektvollen Unterton. Er hat offenbar grosse Achtung vor diesem Wesen, das vielleicht wirklich ein Zauberer ist: Die ausgestreckten Arme und die geschlossenen Augen haben etwas Beschwörendes, das steife Glied mag ein Zeichen besonderer Macht sein. Wir stehen vor dem seltsamen Bildnis und versuchen es zu enträtseln. Wir kneifen die Augen zusammen, treten zurück, schauen von links und von rechts, der Verwalter lässt uns geduldig gewähren: Doch je länger sich unsere Blicke in den Fels der Grotte vertiefen, umso mehr verschwindet die Gestalt des Zauberers in einer verwirrenden Vielzahl von Spalten und Schattierungen, die uns narren und ihr täuschendes Spiel mit uns treiben.
Existieren andere menschliche Darstellungen - gibt es Bilder, die Genaueres sagen? Ich spüre, wie sich mein Interesse plötzlich belebt: Wie haben sie ausgesehen, die Menschen damals? Waren sie nackt? Waren sie schön? Wie sehr sind sie uns ähnlich gewesen?
«Es gibt keine richtigen Menschenbilder aus jener Zeit», enttäuscht mich der Verwalter von Saint-Cirq. «Sie können in sämtliche Höhlen gehen, Sie werden nichts finden. Ausser einigen Andeutungen, die man interpretieren kann, wie man will.» Der Lichtkegel kehrt ein letztes Mal zum Bild des Magiers zurück, und der Verwalter sagt: «Dies ist die einzige vollständige Darstellung eines menschlichen Wesens aus jener Zeit.»
Wir begeben uns zum Ausgang der kleinen Grotte. Heisses Licht prallt uns entgegen. Die Sonne nähert sich dem Zenit.
*
Als wir das Eintrittsgeld für die Besichtigung zahlten, fiel mir neben der Kasse eine Schachtel auf, die mit steinzeitlichen Faustkeilen gefüllt war, und der Grottenverwalter wies darauf hin, dass er die Stücke verkaufe. Er garantierte uns auch ihre Echtheit - um uns dann zu verraten, dass man den Feuerstein von damals eben heute noch finde. Ein junger Mann sammle die Steine und stelle daraus diese Faustkeile her.
Der junge Mann wohnt in einem einfachen Haus an der Landstrasse, nicht weit von Saint-Cirq entfernt. Wir erreichen es wenig später; und das erste, was wir sehen, sind zahlreiche Steinbrocken verschiedenster Grosse, die auf dem Vorplatz, in der brennenden Mittagssonne, am Boden aufgehäuft sind.
Nach einer Weile erscheint der junge Einheimische, und wir sagen anerkennend zu ihm, er sei wahrscheinlich der Einzige auf der Welt, der ein solches Handwerk betreibe. Wie er darauf gekommen sei, fragen wir ihn.
«Einfach so», ist seine knappe Antwort, «Interesse an der Vergangenheit!»
Ob er davon leben könne? «Damals hätte ich nicht schlecht gelebt!» meint er selbstsicher, als wüsste er, wie es damals war. Heute, so fährt er fort, mit einem leichten Ton des Bedauerns - heute brauche man keine Faustkeile mehr. Er mache das nur als Nebenverdienst, für die Touristen.
Der junge Mann sucht sich unter den Steinbrocken ein passendes Stück aus.
«Sehen Sie», beginnt er seine Demonstration, «das hier ist Feuerstein, mit einer Schicht von Kalk überzogen. Ich werde daraus einen scharfkantigen Schaber machen. Er diente den Cro-Magnon-Menschen zur Häutung der erlegten Tiere.»
Der junge Handwerker greift zu einem dicken Prügel und beginnt den Stein mit sorgfältigen, sicheren Schlägen zurechtzuhausen. «Man braucht Geduld, bis man es kann», kommentiert er sein Tun. «Niemand hat mir die Methode beigebracht. Ich musste alles selber herausfinden.»
Er zeigt uns den Prügel in seiner Hand. «Mein ganzes Werkzeug ist ein Stück Rentiergeweih. Das ist hart wie Stahl, damit konnte man vieles machen. Es ist dasselbe Werkzeug, wie es die Steinzeitmenschen benutzten. Damals gab es hier ganze Herden von Rentieren. Sie liebten das Klima der Eiszeit. Später dann, als es wärmer wurde, als hier die Wälder wuchsen, zogen sich die Rentiere in den Norden zurück.»
So erzählt uns der Einheimische, während er geduldig an seinem Feuerstein meisselt. Er habe es in der Schule gelernt, erklärt er sein geschichtliches Wissen.
«Aber dann habe ich mir auch meine eigenen Gedanken gemacht. Ich habe mir überlegt, wie hat es hier ausgesehen während der Eiszeit?» Er unterbricht seine Arbeit. «Versuchen Sie sich das vorzustellen: Der grösste Teil von Mitteleuropa befand sich unter der Eisdecke. Nur kleine Gebiete waren eisfrei, und dazu gehörte die Dordogne. Diese Gegend hier war ein kleines Paradies während der Eiszeit! Es herrschte ein kühles, aber erträgliches Klima. Es gab Pflanzen und Beeren und ausserdem viele Tiere. Die Menschen hatten genug zu essen. Im Schütze der Felsen konnten sie leben, in den Höhlen malten sie ihre Bilder. Haben Sie die Bilder gesehen? Sie sind wunderschön.»
Der junge Einheimische schwärmt von jener Zeit, als würde er sie vermissen. Seine Worte haben eine starke Wirkung auf mich - sie berühren etwas in mir. Ich spüre, dass mein Interesse mehr als nur eine kulturgeschichtliche Neugier ist.
Inzwischen hat sich der ungewöhnliche junge Mann wieder ganz seinem Werk zugewandt. Er kauert vor uns am Boden, in der zunehmenden Hitze des Mittags, sein Hemd hat er ausgezogen, am nackten, braungebrannten Oberkörper perlt der Schweiss.
Dann sagt er: «So. Ich bin fertig. Schauen Sie, bitte.»
Wir drehen und wenden den Faustkeil in unseren Händen und fühlen die Schärfe der Kante, die es mit einem heutigen Messer durchaus aufnehmen kann. Währenddessen hat der Steinzeithandwerker bereits die nächste Arbeit in Angriff genommen.
„Ich werde eine Axt herstellen. Die Prähistoriker behaupten zwar, die Cro-Magnon-Menschen hätten noch keine Beile gehabt, doch wie wollen sie das wissen? Die Axt, die ich hier fabriziere, besteht aus einem Faustkeil, der an einem Stück Holz befestigt wird. Wenn es damals noch keine Schnur gab, wurde vielleicht ein Lederriemen verwendet. Und nun, was geschieht?»
Der junge Mann schaut uns erwartungsvoll an: «Das Leder und das Holz verrotten im Laufe der Jahrtausende, somit finden wir heute nur noch den Stein. Und doch war es ursprünglich eine Axt!» Mit Genugtuung fügt er hinzu: «Die Menschen der Steinzeit, die damals hier gelebt haben, waren nämlich intelligenter als die heutigen Wissenschaftler es wahrhaben wollen.»
Der junge Einheimische spricht von den steinzeitlichen Bewohnern des Tales, als habe er die seltsame Pflicht, sie vor den Vorurteilen der modernen Menschen zu schützen. Während er sich erneut in sein Handwerk vertieft, damit beschäftigt, den Stein für die Axt zurechtzuhauen, gesellt sich sein sechsjähriger Sohn zu uns, setzt sich in die Nähe des Vaters, nimmt ebenfalls einen Feuerstein und einen Prügel zur Hand und beginnt es dem Vater gleichzutun.
«Er kann es schon ganz gut», meint der Einheimische, zu uns gewendet, «er hat sich noch kein einziges Mal auf die Finger gehauen!»
Ich sehe einen jungen Vater an eben dieser Stelle sitzen und eine Axt herstellen; ich sehe einen Knaben neben ihm weilen und dem väterlichen Vorbild nacheifern wollen: zur selben Mittagsstunde - an einem Sommertag vor 15‘000 Jahren.
Teil 3 folgt am 24. Juli: Die Höhle der 100 Mammute
«Im Land der Vergangenheit» stammt aus dem Buch von Nicolas Lindt «Die Freiheit der Sternenberger - Reiseberichte und Dorfgeschichten» (4. Auflage 2019). Der Autor unternahm die Reise in die Steinzeit Ende der 80er-Jahre, aber alles, was er beschreibt, ist in der französischen Dordogne auch heute noch zu entdecken.