«Immer nach dem Warum fragen»
Wie ich das ICH und das ES entdeckte, mit einer Theologiestudentin philosophischen Austausch pflegte, Sonntagsschule erteilte und Aufsätze schrieb, die ich nicht schreiben wollte. Aus der Serie «Als ich mich in die Welt verliebte – Chronik einer Leidenschaft» von Nicolas Lindt #40.
Am Jahresende, an der Schwelle zum Jahr 1972, schrieb ich ins Tagebuch: «Meine Lebensdevise: Immer nach dem Warum fragen.»
Dieses Forschen nach dem Warum, nach dem Hintergrund einer Sache, nach ihrer Geschichte, diese eine, elementare Frage hat mein ganzes Leben begleitet und bestimmt noch heute mein Denken. Ich war ein junger, 17-jähriger Suchender und ich ahnte voraus, dass ich es immer bleiben würde.
Aber schon damals stellte ich nicht nur Fragen – ich formulierte auch eigene Antworten. An einem der ersten Tage im neuen Jahr schrieb ich: «Gerade zu Weihnachten bin ich mir wieder über vieles, das mit Religion zu tun hat, im Klaren geworden. Jede Predigt, jede religiöse Schrift ist für mich nur dann erträglich, wenn unterschieden wird zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein. Das Bewusstsein – unser ICH – ist der Mensch in der Welt, das Unterbewusstsein – unser ES – der Mensch in Gott. Jesus Christus kommt die Rolle des Vermittelnden zu. Heute wird das ES vom ICH stark zurückgedrängt, denn was wir fühlen, ist oft manipuliertes und damit verfälschtes Gefühl. Wir fühlen gesellschaftlich orientiert.»
«Wollen wir überleben, müssen wir dem ES erneut die Macht über das ICH gewähren. Das kann nur durch eine Entlastung des ICH geschehen. Indem wir die Gesellschaft ändern, machen wir unser ICH freier und selbständiger, sodass eine Übereinstimmung mit dem letztlich entscheidenden ES wieder hergestellt werden kann – wir ‹besinnen uns›. Andernfalls würden wir dem Chaos entgegenstreben. Das ICH würde schliesslich ganz überhandnehmen und das ES wäre ausgelöscht. Die Rolle von Jesus Christus besteht deshalb darin, dass er in einfachen symbolischen Worten fordert, dem ES eine neue Chance zu geben.»
Was ich damals mit rascher Handschrift, im Zimmer meiner Kindheit sitzend, in mein Tagebuch Heft Nr. 6 eintrug, hat für mich immer noch Gültigkeit. Mehr denn je geht es heute aus meiner Sicht um die Notwendigkeit, sich ‹zu besinnen›, unser materialistisches Dasein wieder mit Sinn zu erfüllen. Und die Quelle der Sinnhaftigkeit ist das ES, die in uns wohnende spirituelle, göttliche Kraft.
Obwohl mich die Politik und das Weltgeschehen mehr und mehr fesselten, war ich noch nicht an den Punkt gelangt, wo Religion mich nicht mehr interessierte. Die Lehre des Christentums gehörte noch immer zu meinen Gedankengängen.
Auch die Kirche, trotz ihrer Mauern und Dogmen, hatte ich noch nicht abgehakt. Mit Elisabeth, einer Theologiestudentin aus unserem Dorf führte ich lange Gespräche über die Frage, ob es sich lohne, gesellschaftliches Engagement auch in die Kirche hineinzutragen. Bereits viele junge Theologen und Geistliche setzten sich für eine zeitgemässere christliche Botschaft ein. Elisabeth war eine von ihnen. Sie wünschte sich mehr Frauen auf den protestantischen Kanzeln, und auch sie selber amtete später als Pfarrerin. Ich dagegen argumentierte, die Kirche werde sich erst bewegen, wenn die Gesellschaft geändert sei.
Elisabeth war zehn Jahre älter als ich, doch sie lud mich gerne zu sich ein, und ich nahm ihre Einladung jedes Mal ebenso gerne an. Wir sassen dann brav im Wohnzimmer ihrer Eltern und hielten Konversation. Heute denke ich, dass unser philosophischer Austausch auch deshalb so anregend war, weil er uns auf subtile Weise über zarte Gefühle hinweghalf, die vor allem für mich recht verwirrend gewesen sein müssen.
Während ich diese Zeilen schreibe, überlege ich mir, mit Elisabeth wieder Kontakt aufzunehmen, damit wir unser angeregtes Beisammensein ein halbes Jahrhundert später vielleicht wiederaufnehmen könnten. Doch mit Bedauern erfahre ich, dass die verdiente Alt-Pfarrerin 2021 gestorben ist. Ich werde also nicht mehr herausfinden können, was sie für mich, den zehn Jahre Jüngeren damals empfand.
Immerhin konnte sie mich dafür begeistern, meine Kritik an der Kirche konstruktiv umzusetzen – und Sonntagsschullehrer zu werden. Warum nicht, sagte ich mir wie so oft, wischte alle Kirchenkritik hinweg und war Feuer und Flamme. Nur wenige Wochen später stand ich an einem Sonntagmorgen bereits vor einer Gruppe zehnjähriger Buben und Mädchen und vertrat eine langjährige Lehrerin, die vorübergehend in Afrika weilte.
«Wir haben einfach geredet», beschrieb ich im Tagebuch meine Eindrücke, «und was diese Zehnjährigen schon in der ersten Stunde über Gott gesagt haben, hat mich extrem erstaunt. Gleichzeitig merkte ich aber, wie schlecht der Einfluss der bisherigen Sonntagsschule auf die Kinder war. Sie bekamen von der Lehrerin Sätze zu hören wie ‹zu Jesus beten, ist schöner als Skifahren oder draussen sein›, was ein Kind sehr verwirren kann. Ich werde deshalb mit ihnen nie ein Gebet sprechen, denn das kirchliche Beten ist leer und formelhaft.»
«Beten heisst für mich, eine persönliche Stimmung in möglichst ehrliche Gedanken zu fassen. Dann wird das Gebet zum Dank für diese Stimmung, zum Dank an das Es in mir drin, das mir zu dieser Stimmung verholfen hat. Dann wird das Gebet zum Dank an meinen Gott. Ein Gebet kann auch ein Gedicht, ein Bild, ein Musikstück sein, es kann auch ein Spaziergang im Wald sein, das Streicheln eines Hundes, das Essen eines Apfels, ein Kuss, ein Berühren. Beten heisst Liebe weitergeben – Liebe erwidern.»
Was ich hier als 17-Jähriger so bildhaft in Worte zu fassen versuchte, sollte für Jahrzehnte das letzte Mal sein, dass mich Beten interessierte. Auch mein Gastspiel in der Küsnachter Kirche war vermutlich nicht mehr als ein sentimentaler Schritt zurück in die Kindheit. Mehr als die Sonntagsschule, die ich bald wieder hinter mir liess, beschäftigte mich im Tagebuch die Veränderung der Gesellschaft. Immer wieder kam ich darauf zu sprechen, und einmal, spätabends fasste ich meine Erkenntnis zusammen in einem einzigen Satz:
«Alle Menschen sind gut. Nur die Gesellschaft ist schlecht.» Mit anderen Worten: Solange die Gesellschaft «schlecht» ist, können die Menschen nicht «gut» sein. Die gesellschaftliche Veränderung erschien mir als Schlüssel für die Lösung aller Probleme, obwohl ich nach wie vor nicht genau wusste, wie ich mir diese Veränderung vorstellen musste. Von Revolution und Sozialismus sprach ich noch nicht – als hätte etwas in mir noch immer davor gezögert, den Weg des Kommunismus zu gehen. Als gäbe es dann keine Umkehr mehr.
Eines jedoch war mir schon lange klar: Die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse musste in der Schule beginnen. Noch immer in ihr gefangen, war sie sozusagen mein Hauptfeind. Am 28. Januar 1972 nahm ich sie einmal mehr aufs Korn: «Ich habe mein erstes Tagebuch durchgelesen, das ich in der fünften Klasse begann. Es ist so geschrieben, wie ich es in der Schule gelernt habe. Ich zählte den Hergang des Tages auf, schilderte, was wir in der Schule behandelten, welche Noten ich hatte, welche Erfolge wir im Turnen erzielten, was ich zu Hause zu Mittag ass, was wir spielten und was ich mir aus dem Taschengeld kaufte. Nur ganz selten zeigte ich, was ich dachte und fühlte. Man lehrte uns, einen unpersönlichen Bezug zu den Dingen zu haben. Dem entsprach auch die schulaufsatzmässige Art, wie ich schrieb. Etwas Erlebtes zu reflektieren, hinter die Oberfläche zu sehen, lernten wir nicht.»
«Auch von meinen Schulaufsätzen bin ich enttäuscht. Wenn der Lehrer jeweils ein Thema für einen Aufsatz gab, wusste ich, was er erwartet. Ich schrieb also nicht für mich, sondern für ihn, und meine Phantasie war deshalb auf ihn und auf die Norm des Aufsatzes – Erlebnis, Beurteilung, Schilderung – abgestimmt. Meine Schulaufsätze sind deshalb alle sehr förmlich und von sprachlichen Klischees geprägt.»
Auch der schon etwas ältere und sehr strikte Deutschprofessor in der ersten Klasse des Wirtschaftsgymnasiums hätte mir das Schreiben in seinen Stunden gründlich verdorben. Doch das Schicksal war mir gnädig. Ein Fehler in der jährlichen Planung des Stundenplans führte dazu, dass uns im zweiten Jahr versehentlich ein anderer, jüngerer Deutschlehrer zugeteilt wurde. Ich habe von ihm schon gesprochen. Er hiess Hans Hehlen, brachte den frischen 68er-Wind in den Deutschunterricht, las mit uns moderne Autoren und ermöglichte mir auch im Schulaufsatz die Entfaltung meiner Experimentierlust.
Wenige Jahre nach meiner Zeit am Wirtschaftsgymnasium wurde Hans Hehlen entlassen. Sein eigenwilliger Unterricht ebenso wie seine nonkonforme, etwas störrische Art hatten der Schule von Anfang an nicht gepasst. Doch genau damit hatte er mir geholfen. Er ermöglichte mir, in meinem Schreiben mich selbst zu verwirklichen und einen eigenen Stil zu entwickeln. Die Nachricht von seiner Entlassung empörte mich. Und sie bestätigte mir, was ich schon während der Schulzeit leidenschaftlich vertreten hatte: Dass das herrschende Schulsystem nicht nur geändert – sondern abgeschafft werden müsste.
Finde ich übrigens heute noch.
Die nächste Folge der Serie «Wie ich mich in die Welt verliebte» erscheint am 22. Januar.
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