Initiativflut ist nicht Missbrauch der Volksrechte, sondern Ausdruck ihres Mangels

«Die politische Agenda sollte primär bestimmt werden durch den Bundesrat und das Parlament.» Dieser Satz zeugt nicht von einer besonders guten Kenntnis der Bundesverfassung, die das Oberhaupt im Schweizerhaus klar bezeichnet: Das Volk. Doch er stammt von einem älteren Herrn, der fast 30 Jahre in diesem Haus gedient hat, alt-Staatssekretär Jean-Daniel Gerber. Die Flut von Initiativen beanspruche die wertvolle Zeit des Bundesrats, der Verwaltung und des Parlaments – «auf Kosten der wahren Probleme», wie er in der heutigen NZZ sagt. Zur Remedur schlägt Gerber nicht eine Erhöhung der Unterschriftenzahl vor – das würde den Gemeinden mit der Beglaubigung nur noch mehr zu tun geben, sondern eine Halbierung der Sammelfrist und – man höre und staune – ein Quorum im Parlament. Das Parlament könnte dann selbständig entscheiden, welche Aufträge des Souveräns es in Gesetze giessen muss und welche nicht.


Es stimmt: Seit Beginn der 80er Jahre hat sich die Flut der Volksinitiativen markant erhöht, von durchschnittlich weniger als zehn pro Jahrzehnt auf rund 30. Der Boom hat nichts mit dem Internet zu tun und wenig mit der gestiegenen Bevölkerungszahl, die das Quorum von 100’000 etwas erleichtert hat.
Die verstärkte Einmischung des Souveräns in die Geschäftsführung der Staatsdiener ist vor allem ihren Versäumnissen geschuldet, die Teilhabe am Erfolg der Moderne gerecht zu gestalten und die damit verbundenen Lasten den Verursachern zu überbinden. Wenn die Politik nicht mehr dem Gemeinwohl dient, beteiligen sich gezwungenermassen vermehrt Menschen am politischen Prozess, die im Establishment nicht vertreten sind oder dieses sogar ablehnen. Die Mittel der Beteiligung sind aber beschränkt.
«Zwischen dem starken und einflussreichen, aber sehr aufwendigen, teuren und langwierigen politischen Recht eidgenössische Volksinitiative einerseits und dem vergleichsweise schwachen Petitionsrecht andererseits klafft auf nationaler Ebene ein grosses partizipatives Vakuum», schrieb Ständerat Minder vor einem Jahr in der Begründung seines Vorstosses für eine Volksmotion. Der Bundesrat anerkannte in seiner Antwort ausdrücklich, das in einigen Kantonen bereits bestehende Volksrecht habe sich «positiv auf die politische Debatte ausgewirkt», lehnte es aber mit der eigenartigen Begründung ab, es schwäche die Volksrechte.
Natürlich ist die Volksmotion weniger stark als die Initiative. Das ist es ja gerade. Man will doch als Souverän nicht jedes Anliegen gleich in schärfstem Befehlston vortragen. Damit entfernt sich die Politik zunehmend von der freien Debatte und verkommt zum Kampf. Der Missbrauch des Initiativrechts ist nicht Ausdruck der Dummheit des Souveräns, sondern Symptom des Mangels anderer Möglichkeiten. Wer keine Wahl hat, hat die Pflicht.


Wer ein politisches Anliegen habe, soll gemäss Gerber primär versuchen, genügend Parlamentarier dafür zu gewinnen. «Unsere Vertreter im Parlament wissen hoffentlich, was die Bevölkerung bewegt.» Richtig, sie wissen es. Aber sie nehmen sich nur der Themen an, mit denen man sich profilieren kann, bei denen leicht Mehrheiten zu erreichen sind oder mit denen man massgebenden Kreisen einen Freundesdienst erweisen darf. Wer schon versucht hat, Parlamentarier für ein Anliegen zu gewinnen, kann ein Lied davon singen.
Wenn das Initiativrecht schon eine Reform braucht, dann in Form der Volksmotion. Damit können Anliegen verbindlich in die Parlamente getragen und von diesen autonom behandelt werden. Bei einem entsprechend klaren Misserfolg werden es sich die Initianten mehr als zweimal überlegen, eine Volksabstimmung zu erzwingen. So dumm sind wir, der Souverän, nun auch wieder nicht.
22. Oktober 2013
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