Licht aus. Kopf an.
Iberische Halbinsel offline. Die Samstagskolumne.
Foto: Otto von Eulenspiegel
Foto: Otto von Eulenspiegel

Es gibt Ereignisse, deren Ausmass der Kopf erst ganz langsam und dann mit wachsendem Bewusstsein für ihre Konsequenzen begreift. Bei denen sich die Bedeutung anfangs harmlos tarnt und sich dann als existenzbedrohendes Monster entpuppt.

Von einer solchen möchte ich Ihnen erzählen, denn sie betrifft uns alle. Vorausgesetzt, wir sind es gewöhnt, dass zum Leben nicht nur der Atem, sondern auch Steckdosen gehören, an die man sorgenfrei einen Fön anschliessen kann.

Seit einigen Monaten genoss ich schon den herrlichen Tagesanbruch unter portugiesischem Himmel. Frohen Mutes sass ich eines Morgens am Schreibtisch, schaute auf meine Lieblings-Korkeiche im Garten und hatte einen Pott Kaffee in der Hand. Er hat übrigens den Aufdruck «Chef». Klar. Der bin ich. Und auch noch mein eigener.

Gerade hatte ich den Laptop angestöpselt, der Akku war auf 7%, was ungefähr dem Sauerstoffvorrat bei einem Marsspaziergang entspricht, da ging er plötzlich aus. Einfach so. Bling. Schwarz. Kein Piepen, kein Warnsignal, nur ein plötzlicher digitaler Tod.

«Oh nein! Da ist doch mein ganzes Leben drin!», hörte ich einen riesigen weissen Angsthasen mit Frack und Zylinder flehen, in der linken Pfote ein Fähnchen mit der Aufschrift: Na? Backup gemacht?

Oke, dachte ich, gehen wir das Protokoll durch, das alle durchgehen, die beten und hoffen, dass es nicht (!) der Laptop ist.

Lichtschalter an. Lichtschalter aus. Nichts. Auch in anderen Räumen. Klick, Klack, Klick, Klack. Sicherungskasten? Alles drin. Hauptsicherung im Carport? Drin. Aber: Zähler tot. Display mattgrau, ohne Zahlen und blinkende Icons, die sowieso niemand ausser dem Ablesedienst versteht.

Ich ging zum Nachbarn. Er kam gerade aus der Tür mit einem elektrischen Pürierer in der Hand, an dem halb angefräste Stücke einer Zucchini klebten.

«Hast du auch keinen Strom?», fragte er.

«Hast du auch keinen Strom?», fragte ich und bemerkte unser gutes Timing. Wir waren fast synchron. Dann kratzten wir uns am Kopf. Auch fast synchron.

Der Handwerker, der im Anbau gerade seine Arbeit mit der Flex unterbrochen hatte (sie war ohne Vorwarnung verstummt und steckte nun halb in einer Metallplatte), kam dazu und verriet uns, dass seine Frau 30 km weiter ebenfalls im Dunkeln sass.

Ein anderer Handwerker kam vorbei und meinte: «Die ganze iberische Halbinsel ist ohne Strom!»

Ich dachte: Klar. Der nächste erzählt mir, ganz Europa sei betroffen, dann der Planet. Irgendwann wird jemand sagen: «Ich habe gerade mit Alpha Centauri telefoniert, auch dort funktionieren die Kaffeemaschinen nicht mehr.»

Immerhin, mein Handy hatte noch LTE. WLAN war futsch. Der erste Trost: Datenflat. Der zweite: noch 43 % Akku. Der dritte: ein Live-Ticker einer Nachrichtenagentur.

Und tatsächlich! Sie berichteten alle 15 Minuten Updates vom Untergang des zivilisierten Stromnetzes auf einem Viertelkontinent, der mal die ganze Welt beherrscht hatte. Gegen 15:00 Uhr schrieben sie: «Es kann bis zu drei Tage dauern.»

Meine Fantasie ging auf Reisen. Ich dachte sofort an Supermärkte. Kühltruhen. Fischstäbchen! Ich stellte mir vor, sie für 50 Cent pro Packung schnappen zu können, bevor sie davonschwimmen. Oder auch Erdbeertörtchen von Portofrost, die man gleich nach dem Erwerb aufschlingen muss, da sie in dem durchgeweichten Zustand den Transport bis nach Hause in einer handelsüblichen Einkaufstüte nicht überleben würden.

Ich dachte an die Leute in der Metro von Madrid. Zwischen zwei Stationen irgendwo im Tunnel. Der Fahrer spricht ins Mikrofon, aber niemand hört ihn, hinter seiner kleinen Panzerglasscheibe.

In Wagen zwei fangen die Menschen an, seine Worte zu erraten. «Stille Post». In Wagen fünf hat sich die Botschaft «Stromausfall, bewahren Sie Ruhe!» bei einer Touristin aus Wanne-Eickel in «Ich bin Norbert und suche eine Frau» verwandelt. Sie versteht es als Heiratsantrag und freut sich.

Ein paar Kids mit Smartphone in der Hand neben ihr posten – mit absehbarer Akkuladezeit – auf Instagram das Wort «HELP» mit einem Vintage-Filter.

Während ich so vor mich hin komödierte, schrieb ein Freund, er hinge mit dem Moped im Alentejo fest. Kein Benzin mehr, weil die Zapfsäulen nicht funktionieren. Ich stellte mir vor, wie er versucht, seinen Tank mit Roséwein aufzufüllen. Besser als gar nichts.

Wie labil ist eine Welt, die innerhalb weniger Stunden aus den Fugen gerät, nur weil eine Steckdose nichts mehr hergibt?

Eine Journalistenkollegin funkte mich an und fragte, ob alles oke wäre. Auch wir schrieben uns in einen kleinen Witze-Pingpong. Sie fragte: «Was machen eigentlich bei Stromausfall die Elektriker?» Ich antwortete: «Die liegen am Strand. Mit den Elektrikerinnen.» Sie schickte mir daraufhin noch das gelbe Emoji, das diese Tränen lacht – und schwupps, dann fiel das LTE aus. Ohne Vorwarnung.

Nach fünf Stunden war nun auch das letzte digitale Lebenszeichen üblicher Messenger dahin. Sieben Stunden später ging auch das Telefonnetz flöten, und ich war tatsächlich ganz real in the middle of nowhere.

Ein uralter Witz huschte über meine interne Festplatte: Aus Spass wurde Ernst und Ernst kann heute schon laufen. Dann wurde mir aber bewusst, dass es mit jeder weiteren Stunde immer unlustiger werden würde.

Wasser! Kein Strom gleich keine Pumpen gleich kein Wasser.

Mir dämmerte langsam, dass nach drei Tagen der Ausfall eines Funksignals für sinnlose Postings das geringste Problem der Menschen hier war. In dystopischen Mad-Max-Szenen würden Leute mit leeren PET-Flaschen durch die Strassen ziehen, auf der Suche nach etwas, ohne das man keine Woche überlebt.

Ich hingegen war ein Glückspilz. Hier gibt es einen Brunnen mit Schöpfkelle. Ich war quasi der Highlander mit Trinkwassermonopol.

Zwei Stunden später. Es kam der Moment, in dem ich feststellte: Ich lese ein Buch. Ein echtes! Mit Seiten! Aus Papier. Bei Kerzenlicht.

Draussen rief eine Eule. Zwei Kilometer weiter antwortete eine zweite. Etwas Friedliches kam in mir auf. Nicht nur draussen wurde es still, auch in mir drin. Kein Blinken, kein Summen, kein nächster Termin. Kein Fenster, das aufpoppt. Kein Ping, der meine Aufmerksamkeit zerrt. Nur das Rascheln der Seiten, das Atmen des Windes im Garten, das leise Flackern der Kerze.

Wie wohltuend, dass jetzt einfach mal Pause war. Ich hatte Wasser, wusste, wie man Feuer macht, ein Bett, ein Buch und vor der Tür einen reichen Gemüsegarten. Eine lebendige Kraft war da plötzlich, fernab von Benutzerkonten.

Wow, rief die eine Eule. Sag ich doch, antwortete die andere.

Und dann, mitten in einem Kapitel über Nikola Tesla, zack! Licht an. Ich erschrak fast zu Tode und fühlte mich wie ein Neandertaler - versehentlich aufgewacht in einem Wohnzimmer. Der Kühlschrank brummte. Der Router blinkte. Die «Welt» war zurück.

Aber sie wirkte für mich irgendwie seltsam. Ich war fast enttäuscht. Als hätte jemand die Magie gelöscht. Alles wieder verfügbar, aber nicht bedeutungsvoll.

Was bleibt, ist ein Gedanke, der sich nicht mehr abschalten lässt: Wie labil ist eine Welt, die innerhalb weniger Stunden aus den Fugen gerät, nur weil eine Steckdose nichts mehr hergibt?

Was passiert nach 12 Stunden? Nach 24? Nach drei Tagen? Wer weiss denn noch, wie man Wasser findet, Brot backt, Feuer macht oder schlicht kommuniziert, ohne Bildschirm, ohne Netz, ohne Akku? Wir haben uns eingerichtet in einer Welt, die mit einem Wimpernschlag verstummen kann. Und wir nennen es Fortschritt. Vielleicht ist das die eigentliche Katastrophe.

Aber vielleicht liegt genau darin die Chance: zu erinnern, was wir verlernt haben. Wie Stille klingt. Wie Papier riecht. Und wie viel in einem einfachen Moment steckt, wenn das Licht aus ist und der Kopf an.

Henry Sperling

Henry Sperling
Henry Sperling

Henry Sperling ist Autor, Maler, Illustrator, Filmemacher, Produzent, Verleger und Musiker. 
Henry ist an den Stränden des Arbeiter- und Bauernstaates groß geworden und hat dort u.a. Aufrechtgehen, Schreiben, Sprechen und Segeln gelernt. In der Sportschule traf er auf Kati Witt und einige schwergewichtige Schwimmerinnen mit tiefen Stimmen. Bereits mit sechzehn entsagte Henry dem plagenden Leistungs- und Kaderleben – und lernte nebenbei was Anständiges, nämlich Elektromechaniker. Der nächste biografische Bruch: Nach pflichtgemäßem NVA-Aufenthalt wurde Henry bekennender Pazifist und verlieh seinem Protest jahrelang und lautstark als Metal-Schlagzeuger Ausdruck. Als die Mauer gefallen war, frönte er kurz seinem eigenen Turbo-Kapitalismus und wurde Vertreter bei – ausgerechnet! – Nestlé. Kurze Zeit später erkannte er den Wahnsinn und flüchtete – diesmal über eine innere Mauer. Er entfleuchte dem potentiellen Geldheuhaufen und machte sich auf den Weg nach Hamburg, um sich dort zunächst als Kabelfernsehverleger durchzuschlagen. Danach als Praktikant in einem großen Tonstudio. Schließlich baute er das eigene Tonstudio „Gentle Art“ auf, um selbstständiger Produzent für Musik, Radio und TV zu werden und reifte im Zuge dessen auch zum Autor für verschiedene Medienformate und zum kreativen Filmemacher. Er war sieben Jahre lang  mitverantwortlich für die kultige Miniserie „Neulich im Bundestag“ bei Extra3 (ARD/NDR). 
Das TV-Talkformat „Tiefsehtauchen“ trägt seine Handschrift in der Bild- und Schnittästhetik. 
„Wullefump- Die Reise ans Meer“ ist Henrys Debut als Kinderbuch-Autor. Das Buch wurde mit dem „Buchkönig“- Buchpreis ausgezeichnet. Zuvor schrieb und produzierte er bereits Kinder-Hörspiele unter anderem um „Käpt´n Wattenschnack“. 
Henry ist und blieb und bleibt außerdem Drummer, Zeichner, Musik- und Buchverleger, erfolgreicher Gemüsezüchter und Sinnsucher.

www.schwarzweissradio.de

www.gentleart.de

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