Loblied der Graustufen

Warum wir als Weisse weiss bevorzugen und weshalb wir die Wahrnehmung von Grautönen schulen sollten.

Nun sitzen wir wieder in dieser ewigen Nacht namens Winter. Dunkelheit und Kälte haben sich gegen uns verschworen. Zwischen den Jahren pfeifen heulende Geister ums eingefrorene Haus. Kein Wunder, dass die Farbe schwarz in unseren Breitengraden mit ihren langen dunklen Jahreszeiten für alles Negative, Kriminelle und Unheimliche steht, für Angst, Einsamkeit und Horror. Wir sehen es an vielen gängigen Begriffen: Schwarze Katzen. Schwarzes Loch. Schwarze Gedanken. Schwarzsehen. Schwarzer Freitag. Schwarzmärkte. Schwarze Kassen. Schwarze Geschäfte. Schwarzmalen. Schwarzarbeiten. Schwarzfahren. Sich schwarzärgern. Die Schwarze Hand. Der schwärzeste Tag im Leben. Schwarz ist der Sarg und der Tod. Wer trauert, trägt schwarz. Schwarz ist bedrohlich und böse.

Weiss hingegen steht für Leben und Licht, für Reinheit und Auferstehung. An Hochzeiten trägt die Braut weiss. Babys werden in weissen Kleidern getauft. Jesus fuhr in weissem Gewand gen Himmel. Friedensfahnen und Friedenstauben sind weiss. Unschuldige ebenfalls, sie tragen eine blütenweisse Weste. Weissblonde Weisskittel trinken Weissbier und essen Weisswurscht, jedenfalls in Arztromanen. Weiss scheint zudem mit Wissen verwandt zu sein, mit Weissheit und Weisheit und aufhellender Aufklärung. Aber weiss der Geier, wer da Genaues weiss. Jedenfalls gibt es kein Weissfahren und keine Weissarbeit und keine weissen Löcher. Weil weiss guuuuut ist.
Interessanterweise sehen das die Menschen in tropischen Ländern anders. Also da, wo sich helle Tage und dunkle Nächte im Gleichgewicht befinden und sich nicht zu ganzen Jahreszeiten ausdehnen. Wo es im Alltag mehr Licht gibt, scheint es weniger Angst vor langgezogenem Dunkel zu geben. In Asien und in buddhistischen Ländern ist weiss die Farbe der Trauer, im alten Ägypten war es gelb, und in Afrika wird bunt getrauert.
Dort haben Kinder auch keine Angst vor dem schwarzen, sondern vor dem weissem Mann, der ihnen Böses tut, wenn sie nicht brav sind. Als mein Bruder und ich vor vielen Jahren in Tansania herumreisten, erlebten wir, dass sich die Kinder vor uns versteckten. «Wazungu!», «Weisse!», war ihr Warnruf, wenn wir näherkamen.
Weisse wirken auf Schwarze tendenziell bedrohlich, und Schwarze auf Weisse. Das ist aber keine natürliche Farbenlehre, sondern Ergebnis der Geschichte, der Versklavung afrikanischer Völker durch europäische. Nach Schätzung des Historikers Joseph Ki-Zerbo aus Burkina Faso wurden ab dem 17. Jahrhundert mindestens 50 Millionen Menschen gefangengenommen, verschleppt, gedemütigt, vergewaltigt, verprügelt, verkauft und zur Arbeit in den Plantagen Amerikas gezwungen. 50 Millionen! Ein ganzer Kontinent blutete aus und hat sich bis heute nicht davon erholt. Ein Trauma, das in beide Richtungen immer noch nachwirkt: Schwarze werden an die Hölle der Erniedrigung erinnert, die ihre Vorfahren erlitten. Und Weisse haben Angst, an die Verbrechen ihrer Ahnen erinnert zu werden.


Schaut man sich die Historie genauer an, dann wird auch das vielgerühmte «weisse Licht der Aufklärung» zu einer dunklen Quelle des Rassismus. Aufklärerchef Nummer eins, Immanuel Kant (1724-1804), glaubte an eine Hierarchie der Rassen mit den Weissen auf der Spitze, wie das folgende Zitat aus Kants Vorlesung über Physische Geografie zeigt: «In den heißen Ländern reift der Mensch in allen Stücken früher, erreicht aber nicht die Vollkommenheit der temperirten Zonen. Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Teil der amerikanischen Völkerschaften.»
Sein Kollege Friedrich Wilhelm Hegel (1770-1831) war kein Deut besser. «Der Neger stellt den natürlichen Menschen in seiner ganzen Wildheit und Unbändigkeit dar», dozierte er in einer «Vorlesung über die Philosophie der Geschichte». Und weiter: «Es ist nichts an das Menschliche Anklingende in diesem Charakter zu finden.» Der Kontinent Afrika sei ein «Kinderland, das jenseits des Tages der selbstbewussten Geschichten in die schwarze Farbe der Nacht gehüllt ist».
Das sind, bewusst oder unbewusst, Rechtfertigungen für Verbrechen. Schwarze seien wie die Nacht, seien wilde Kinder, seien noch keine Menschen, ihnen müsse der weisse Mann Kultur beibringen, zur Not mit der Zuchtpeitsche. Der Aufklärer Montesquieu (1685-1755), geistiger Vater der französischen Revolution, schrieb 1748 unverhohlen: «Weil die Völker Europas diejenigen Amerikas ausgerottet haben, müssen sie die Afrikaner versklaven… Der Zucker wäre auch viel zu teuer, wenn man den Zuckerrohranbau nicht von Sklaven durchführen liesse.»


Die Aufklärung war eine elend ambivalente Angelegenheit; ihr weisses Licht warf schwere schwarze Schatten. Für weisse Männer brachte sie Fortschritte, aber schon für ihre Frauen sah das anders aus. Olympe de Gouges (1748-1793), die von den französischen Revolutionären öffentlich verlangte, die Menschenrechte auch auf Frauen anzuwenden, landete dafür unter der Guillotine. Für schwarze und dunkelhäutige Menschen bedeutete diese Zeit eine Rechtfertigung ihrer Versklavung, sie blieben ein dehumanisiertes Handelsobjekt namens «Neger». Der Kameruner Philosoph Achille Mbembe beschreibt in seinem hochgelobten Werk «Kritik der schwarzen Vernunft», wie der Rassismus von Beginn an dem globalisierenden Imperialismus Europas eingeschrieben war. Der heutige Neoliberalismus funktioniere als seine Fortsetzung, als «Rassismus ohne Rassen», und unterwerfe immer weitere Regionen der Welt.
In Afrika lebt die Angst vor Demütigung, Verschleppung, Vergewaltigung und Tod in Generationen fort und hat sich in die kollektive Erinnerung eingeschrieben. Das, was mein Bruder und ich in Tansania erlebten, war keine natürliche Reaktion der Kinder. Sie hatten echte Angst, dass der weisse Mann sie holt. Die pittoresken Narben, Mundpflöcke oder riesigen Lippenscheiben mancher Ethnien sind keine fröhlichen Volkssitten, sondern «Relikte des Glaubens, Hässlichkeit mindere ihren Tauschwert», schreibt der langjährige Afrikakorrespondent der «Zeit», Bartholomäus Grill.
Auch in den USA sind die bitteren Schaukelbewegungen der Geschichte spürbar. Bis zur Abschaffung der Sklaverei 1865 wurden Schwarze auf Sklavenmärkten wie Vieh versteigert, gepeitscht, gefoltert, vergewaltigt, verstümmelt. Und noch in den 1960ern herrschte in Schulen, Kliniken und Bussen Rassentrennung und Apartheid. Diese Verbrechen leben als kollektive Traumata fort, weil sie nie wirklich gesamtgesellschaftlich aufgearbeitet wurden (Details dazu in Erna Paris´ brillantem, leider vergriffenen Buch «Vergangenheit verstehen»). Die Angst der weissen Männer vor der Rache der Schwarzen ist mit Händen zu greifen. US-Professor John Delulio konstruierte in den 1990er Jahren die Theorie vom «Super-Raubtier», nach der ein zu hoher Anteil junger Männer – gemeint waren vor allem Schwarze in den USA – die Kriminalitätsrate in die Höhe schnellen lasse. Wer dunkelhäutig ist, landet viel schneller im Knast oder wird gar von der Polizei erschossen. Schwarze werden als «Bedrohung» angesehen und sind es in gewisser Weise auch, weil sie Weisse an die nie eingestandenen Verbrechen ihrer Vorfahren erinnern.
Das ist auch eine Teilerklärung für den Wahlsieg des Rassisten, Sexisten und Narzissofaschisten Donald Trump. Viele weisse US-Amerikaner haben die «Demütigung» nie verwunden, dass mit Obama ein Schwarzer ihr Präsident wurde, und radikalisierten sich unter ihm immer mehr. Während seiner gesamten Amtszeit setzten sie eine Verschwörungstheorie nach der anderen in die Welt: Obama sei gar kein Amerikaner, sondern Kenianer, Muslim oder gar «IS-Gründer», wie es Trump höchstselbst zu formulieren geruhte. Der Nichtweisse als Machthaber und Mächtiger durfte nicht sein, also wurde seine amerikanische Identität symbolisch ausgelöscht.


Der «Triump» ist die symbolische Rückeroberung der Macht durch den weissen Mann, der seine Vorherrschaft und seine vermeintlich angeborenen Privilegien bedroht sah – von Schwarzen wie Obama und Frauen wie Clinton, von Farbigen, Dunkelhäutigen, Moslems und Nichtchristen. Trumps Konterrevolution wird furchtbar werden, weil er und seine Anhänger von diesem Auslöschungswahn beseelt sind. Und sie wird eine ganz neue Art von Flüchtlingsströmen produzieren: US-Flüchtlinge.
Der Preis, den die ganze Welt dafür zu zahlen hat, wird vermutlich hoch sein. Aber letzten Endes wird der «trumphale» Durchmarsch doch vergeblich sein. Er wird den ökonomischen Niedergang der einst unangefochtenen Supermacht USA und das Aufsteigen Chinas zur grössten Wirtschaftsmacht der Welt nicht verhindern, vielleicht sogar beschleunigen. Und die demografische Entwicklung binnen der nächsten Jahrzehnte wird auch innerhalb der USA dafür sorgen, dass Weisse zur Minderheit werden. Die allmähliche Entstehung einer ethnisch durchmischten Weltgesellschaft und eines kulturell offenen Weltbürgertums ist nicht mehr aufzuhalten. Weder in Amerika noch irgendwo sonst. Das ist der eigentliche Grund der tiefsitzenden Statuspanik von Rassisten und Rechtspopulisten aller Art.


Was heisst das für unseren Umgang miteinander? Während einer akademischen Debatte gewann der US-Soziologe Michael Kimmel eine entscheidende Erkenntnis: «Eine weisse Frau und eine schwarze Frau diskutierten darüber, ob alle Frauen ‹Schwestern› seien, weil sie die gleichen Erfahrungen machten und die gleiche Unterdrückung durch Männer erführen. Die weisse Frau erklärte, dass die Tatsache, Frauen zu sein, sie trotz Rassendifferenzen zusammenführe. Die schwarze Frau war nicht einverstanden. ‹Wenn du morgens aufstehst und in den Spiegel schaust, wen siehst du?›, fragte sie. ‹Ich sehe eine Frau›, antwortete die weisse Frau. ‹Das ist genau das Problem›, antwortete die Schwarze. ‹Ich sehe eine schwarze Frau. Für mich ist Rasse jeden Tag sichtbar, weil sie der Grund ist, warum ich unterprivilegiert bin.›»
Weil Kimmel der einzige Mann im Raum war, wurde er gefragt, was er dazu meine. Und da wurde ihm schlagartig klar: «Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich ein menschliches Wesen. Ich bin universell generalisierbar. Als weisser Mittelklassemann habe ich keine Klasse, keine Rasse, kein Geschlecht.» Kimmel schlussfolgert: «Weiss, männlich und heterosexuell zu sein, das ist in dieser Kultur wie einen Rennen mit Rückenwind.» Und: «Es ist Zeit, diesen Wind sichtbar zu machen.»
Das ist genau der Punkt. Den Wind sichtbar machen. Die Privilegien als Privilegien sehen lernen. Und die Wunden, die die Geschichte schlug. Die Wahrheit und Verletzbarkeit des anderen Menschen wahrnehmen.


Es ist ein unendlich langer Weg. Niemand von uns, einschliesslich meiner eigenen Person, ist fähig, Fremden vollkommen vorurteilslos entgegenzutreten. Ob wir wollen oder nicht, wir ordnen Menschen unbewusst in Sekundenbruchteilen anhand von Gruppenmerkmalen ein. Einen Schwarzen oder auch einen muslimischen «Schwarzkopf» nehmen wir zuerst als Angehörigen eines Kollektivs wahr. Ganze Programme laufen rasend schnell in unserem Kopf ab: «Wo kommt der denn her? Von hier? Von dort? Ist er ein Macho? Ist er gefährlich? Oder bin ich gemein und rassistisch, wenn ich den als gefährlich sehe?» Wir kommen nur weiter, wenn wir uns diese unbewusste ideologische Tönung unserer Wahrnehmung bewusst machen und sie zu überwinden lernen. Wenn wir viele verschiedene Grautöne sehen lernen: das Schwarze in weissen Menschen, das Weisse in schwarzen Menschen.
Das ist die hohe Kunst der Differenzierung. Sie aufrechtzuerhalten und zu pflegen ist heute noch viel schwerer als vor einigen Jahren, als die Alltagsmacht der (a)sozialen Medien noch nicht so umfassend war. Der immer schnellere und kürzere Schlagabtausch über Twitter & Co fördert das Schwarzweiss-Denken. Trump ist die fleischgewordene Hatespeech auf Facebook, der zum Menschen gewordene Hass-Tag auf Twitter, eine Ver-Körperung der ideologischen Echokammern, die Silicon Valley mit seinen weltbildbestätigenden Algorithmen schuf.
In diesen finsteren Zeiten können wir nur versuchen, guten Journalismus zu retten und zu verteidigen. Einen Journalismus, der es sich bewusst zur Aufgabe setzt, Schwarz-Weiss-Muster aufzulösen. Der zeigt, wie Feindbilder entstehen und wie man sie auch wieder zum Verschwinden bringen kann. Der Polarisierungen entgegenwirkt. Der nicht aufhört zu differenzieren. Der viele verschiedene Grautöne aufzeigt und ihnen einen Wert gibt.
Wir können dem auch eine gute Geschichtsbildung entgegensetzen, die uns bewusst macht, dass unsere Wahrnehmung immer auch kulturell bedingt ist. Rechtspopulisten und Neonazis können sich nur in geschichtsblinden Milieus bewegen, die die blutige Vergangenheit entweder verleugnen oder als Beweis der biologischen Überlegenheit der Weissen rechtfertigen.


Und wir können dem gute Herzensbildung entgegensetzen. Im Verein mit anderen Vordenkern der »Tiefenökologie« glaubt etwa die US-Autorin Zhiwa Woodbury, dass wir Einwohner reicher Länder sehr wohl Schuldgefühle für unseren privilegierten Lebensstil empfinden, aber oftmals abwehren und verleugnen. Wir wüssten genau darum, doch «noch fühlen wir es zu wenig in unseren Herzen und Knochen».
Täter-Opfer-Traumata seien aber nur dann überwindbar, wenn als erster Schritt die Wahrheit ausgesprochen werde. Der jetzige Papst mache das, sagt sie, und deshalb seien seine Stellungnahmen so wertvoll und so heilend. Wie er in seiner Umwelt-Enzyklika «Laudato Si» schreibt, sei der jetzige Weltenzustand letztlich «eine Krise der Beziehungen: der Art, wie wir uns aufeinander und auf den Planeten beziehen».
Wenn wir das in der Tiefe anerkennen, dann würden wir endlich jeden Menschen mit seinen vielen grauen Schatten sehen können. Jeder und jede einzelne ein unersetzliches Individuum.

 
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22. Januar 2017
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