«Mein Verhältnis zu ihnen wird sich ändern müssen.»

Wie ich mich von der Meinung der Eltern emanzipierte. Als ich mich in die Welt verliebte – Chronik einer Leidenschaft #17

Das ehrwürdige Zürcher Schauspielhaus vor der 68er-Zeit (Bild: zvg)

Während ich in meiner Kolumne noch immer nur über Musik schrieb, wuchs mein Interesse am Zeitgeschehen von Woche zu Woche. Das hatte schon im Vorjahr – 1968 – begonnen, als im August die Sowjetunion in die Tschechoslowakei einmarschierte und den demokratischen Aufbruch des «Prager Frühlings» gewaltsam beendete. Die allgemeine Empörung hatte auch mich erfasst.

Doch es war einfach, empört zu sein, ich musste mich nicht entscheiden zwischen verschiedenen Weltanschauungen. Die Flugblätter, die uns am Schulhauseingang verteilt wurden, und die «Neue Zürcher Zeitung», die meine Eltern abonniert hatten, sagten im Wesentlichen dasselbe. Alle verurteilten die sowjetische Okkupation.

Einige Monate später hatte das Rektorat des Nachbargymnasiums beschlossen, den Schüler Peter Niggli von der Schule zu weisen, weil er in einer Wandzeitung einen Schülerstreik propagiert hatte. Diesmal fanden nicht mehr alle dasselbe. Die NZZ unterstützte natürlich die Haltung des Rektors, und meine Eltern waren der gleichen Meinung. Und was fand ich? Ich klebte das Flugblatt, das sich gegen den drohenden Ausschluss wandte, ins Tagebuch. Kommentarlos. Es war ein erstes, noch stummes Bekenntnis.

Nigglis Ausschluss wurde dann mit Hinweis auf die «Unbescholtenheit» des Schülers von der kantonalen Aufsichtskommission nicht bestätigt – er durfte bleiben. Doch die Schulleitung hatte richtig vermutet: Niggli war nicht einfach nur ein kritischer Schüler.

In ihm wuchs der Agitator heran, dem ich einige Jahre später wieder begegnen sollte, als ich der «Revolutionären Aufbauorganisation Zürich» RAZ beitrat. An der ersten Vollversammlung, an der ich teilnehmen durfte, sass vorne, von anderen Führungsfiguren flankiert, Chefideologe Peter Niggli und führte mit klarer, Autorität beanspruchender Stimme souverän durch die Sitzung.

Völlig frei und ohne Unterbruch referierte er über revolutionäre Strategie und Taktik, dazu rauchte er ohne Pause und wusste zu jedem Argument aus dem Plenum die richtige politische Antwort. Alle im Volkshaussaal versammelten Genossinnen und Genossen hörten ihm aufmerksam zu, manche schienen völlig in seinem Bann, und auch ich war beeindruckt. Am tollsten fand ich aber nicht, was er sagte, sondern dass er mitten in seinen hochtheoretischen Ausführungen bemerkte, wie die Genossin an seiner Seite ebenfalls eine Zigarette aus ihrem Päckchen zog.

Peter Niggli – vom rebellischen Schüler und Kommunisten zum späteren Lobbyisten der Entwicklungshilfe bei «Alliance Sud»

Weitersprechend und die eigene Zigarette kurz deponierend, griff er zu seinem Feuerzeug und bot der Kommilitonin Feuer. Die Geste war virtuos und galant zugleich, gerade weil sie so nebenbei geschah, und ich wünschte mir, obwohl ich nicht rauchte, eines Tages ein Publikum mit derselben Abgeklärtheit gewinnen zu können.

Doch zurück zum Jahr 1969, wo ich meinem Tagebuch wenige Seiten weiter ein zweites Flugblatt hinzufügte. Darin riefen die Progressiven Mittelschüler unmittelbar vor dem 1. Mai zur Solidarität mit der Arbeiterklasse auf. Ebenso wie die Lehrlinge und die Arbeiter seien auch die Gymnasiasten Opfer des Gesellschaftssystems. Auch sie müssten sich dem System unterwerfen, um später weiterzukommen.

Diesmal liess ich das Flugblatt nicht unkommentiert. «Vieles in diesem Artikel stimmt, doch ebenso vieles ist überspitzt. Dass man Schüler, Studenten, Lehrlinge und Arbeiter in einen Topf werfen will, finde ich nicht richtig, denn jeder ist doch ein Individuum für sich!«

Weiter wurde argumentiert, dass nur Schüler aus höheren Kreisen den entsprechenden Hintergrund hätten, um weiterzukommen. Aber auch dieses Argument liess ich nicht gelten: «Mir scheint, dass wir in unserer Schule nach unserem Fleiss und nicht nach der Stellung des Vaters beurteilt werden.»

Die Flugblattverteiler vor unserem Schulhaus standen mir, nur schon altersmässig, inzwischen näher als die NZZ lesende Generation meiner Eltern. Aber ich gab meinen Altersgenossen nicht einfach recht. Irgendwo zwischen ihnen und meinen Eltern stehend, entwickelte ich immer mehr meinen eigenen Standpunkt.

In den folgenden Monaten fanden einige weitere Flugschriften ihren Weg in mein Tagebuch. Doch dann wurde mir klar, dass fremde Texte nicht in das Heft gehörten. Nur mit meinen eigenen Worten wollte ich formulieren, was mich beschäftigte. Nur auf diese Weise konnte ich ein unabhängiges Denken entwickeln – ganz im Sinne meiner Erkenntnis, dass doch jeder ein Individuum für sich war.

*

In meinem Popcorner hatte ich unterdessen zum ersten Mal das Hoheitsgebiet der Musik verlassen und mich in die Welt des Theaters begeben. Das Zürcher Schauspielhaus wurde – ganz im Sinne des revoltierenden Zeitgeists – neu von zwei Theatermachern geleitet, die den Staub, der sich auf der traditionellen Bühne angesetzt hatte, mit experimentellen Stücken wild durcheinander wirbelten.

Ich besuchte eine avantgardistische Aufführung des «Prometheus» von Aischylos, weil das Stück von der deutschen Popgruppe «Can» musikalisch begleitet wurde. «Der harte, laute Beat» kommentierte ich, «entsetzt manche gutbürgerlichen Theaterbesucher und lässt andere mitleidig lächeln. Die Jungen aber sind begeistert.»

Zu den Jungen gehörte natürlich auch ich. Doch ich war noch immer bemüht, auch die Generation meiner Eltern für uns zu gewinnen. Deshalb argumentierte ich: «Wenn das Theaterpublikum, zu dem auch gesetztere Besucher gehören, sich mit der Musik der Jungen auseinandersetzen soll, dann müsste es mit Bands konfrontiert werden, die nicht nur ihren Verstärkern, sondern vor allem ihrem Talent vertrauen. Popmusik, wie sie die Beatles oder die Kinks machen, würden auch bei der Elterngeneration mehr Verständnis finden.»

Das war ein hartes Verdikt: Ich unterstellte der deutschen Experimentalband, ihrer Lautstärke mehr zu vertrauen als ihrem Können. Der Sound von «Can» war offenbar ziemlich laut. Als ich die Band interviewte, verschwieg ich ihnen mein Urteil: «Experimente sind notwendig», schrieb ich danach, «aber sie können misslingen».  

Nur zwei Monate später, kurz vor Weihnachten 1969, beschloss der Verwaltungsrat des Zürcher Schauspielhauses, den beiden progressiven Theatermachern zu kündigen, mit der Begründung, durch ihre Beschränkung auf politisches und experimentelles Theater gehe der Geist des Schauspielhauses verloren.

Obwohl ich mit avantgardistischen Experimenten ohne erkennbaren Sinn schon damals im Grunde nichts anfangen konnte, war ich dennoch darüber entrüstet, dass die Regisseure entlassen wurden. Und als namhafte Schweizer Autoren eine Protestveranstaltung im Volkshaus lancierten, stand für mich fest: Zusammen mit meinem Schulkameraden Elias wollte ich an der Veranstaltung teilnehmen.

Die Eltern reagierten darauf nicht erfreut. Mein Engagement für meine Kolumne hatten sie stets unterstützt, solange darunter nicht die Leistungen in der Schule litten. Doch mein zunehmendes Interesse an Politik beobachteten sie nicht ohne Sorge. Sie kannten meine Begeisterungsfähigkeit. Mit 11, als ich die Welt von Karl May entdeckte, wollte ich nicht nur einige seiner Werke lesen. Ich wollte sie ALLE lesen, und das waren immerhin 70 Bände. So lebenswichtig fand ich das damals – und ebenso wichtig fand ich nun diesen Anlass im Volkshaus. Ich musste da unbedingt hingehen.

Meine kritische Mutter versuchte nicht, es mir zu verbieten – was auch schwierig gewesen wäre. Doch sie warnte mich, ich solle mich hüten vor «diesen Linken«. Und als ich abends nach Hause kam lag ein Zettel auf meinem Bett. In der Handschrift meiner Mutter stand auf dem Zettel:

«Werde nicht fanatisch. Du wirst da in etwas hineingerissen, das nicht gut für dich ist. Mit Fanatismus verliert man die Fähigkeit, logisch zu denken.»

Ich klebte den Zettel ins Tagebuch ein, weil ich spürte, dass er nicht ohne Folgen blieb. Mit ihren Worten hatte meine Mutter ein Band zerschnitten. Ein Band zwischen ihrer und meiner Haltung. Ihre Mahnung erreichte mich nicht mehr. Unter den Zettel schrieb ich:

«Auch wenn meine Eltern immer noch die Verantwortung für mich tragen – ich bin kein Primarschüler mehr! Mein Verhältnis zu ihnen wird sich ändern müssen.»

 

 

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