«Meine Mutter darf nicht wissen, dass wir uns verstehen»

Sie mischen sich in Streitigkeiten auf dem Schulhof. Und verbieten ihren Kindern den Umgang mit anderen. Helikoptereltern 2.0. Die Samstagskolumne.

Erscheinen ungebeten auf dem Schulhof und greifen in das natürliche Konfliktlösungsverhalten ihrer Kinder ein. (Bild: shutterstocks)

«Ich bin sicher, dass wir unsere Freundschaft wieder pflegen können, Sergio», liest Leon laut vor. Er steht, der Klasse zugewandt, vorne an der Wandtafel. Die Fünftklässler haben die Aufgabe, einem zugelosten Kind einen Brief zu schreiben. Darin sollten sie ihren Kameraden auch Komplimente machen. Die meisten lieben die Aufgabe, basteln Blumen oder abstrakte Formen, dekorieren ihre Brieflein liebevoll und wollen ihr Schreiben unbedingt vorlesen. Zufällig habe ich Leons Brief ausgewählt.

«Seid ihr wieder Freunde?», frage ich Sergio, als Leon seinen Brief zu Ende vorgelesen hat, «das ist aber schön!» Ich bin eine der Klassenlehrerinnen.

«Ja», sagt Sergio ganz aufgeregt, erhebt sich halb von seinem Pult, «aber meine Eltern dürfen nichts wissen, bitte sagen Sie Ihnen nichts.»

Leon, der Sergio inzwischen den Brief zugesteckt hatte, wedelt aufgeregt mit den Armen: «Ja, es muss unser Geheimnis bleiben!»

«Was passiert, wenn eure Eltern erfahren, dass ihr euch wieder vertragt?», frage ich.

«Also», sagt Sergio, «ich kann es nicht so gut erklären, aber meine Mutter würde explodieren.»

Leon nickt: «Meine auch. Sie hat mir verboten, mit Sergio zu sprechen.»

Ich lächle. 

Aber in mir tobt Ohnmacht.

Vorgestern war Leons Mutter kurz vor der Stunde bei mir aufgekreuzt und wünschte, mit vier Jungs zu sprechen, die ihrem Sohn das Leben zur Hölle machten.

«Ich musste ihn heute vom Turnen abholen», sagte sie. «Er traute sich nicht, alleine nach Hause zu kommen.»

Ich bin nicht stolz darauf, dass ich mich darauf mit ihr, ihrem Sohn und den vier Jungs, darunter Sergio, in den Gang vor das Klassenzimmer begeben habe. Professionell wäre es gewesen, sie abzuweisen und zu bitten, ihr Anliegen dem Schulleiter oder der Schulsozialarbeiterin vorzulegen. So war meine Kollegin, die andere Klassenlehrerin vorgegangen, als am darauffolgenden Morgen Sergios Vater auftauchte und begehrte, mit Leon ein Wörtchen zu sprechen.

«Ich spreche mit den Jungs», sage ich und denke vielleicht, damit der Mutter demonstrieren zu können, wie man mit Konflikten umgeht. Nacheinander möchte ich von den fünfen wissen, was geschehen war. 

Doch die Mutter mischt sich immer wieder ein, schimpft auf die vier Beschuldigten ein. Ich konnte noch knapp anbringen, dass ihr Sohn auch kein Engel sei und ihr ein paar Müsterchen von seinen Rempeleien erzählen. 

«Ja, ich weiss», sagt sie, aber sie bleibt unbeeindruckt. 

«Ich habe deine Mutter bereits informiert!», wirft sie dem einen vor dem Kopf, bevor sie geht. 

Und kaum einen Tag (und ein Briefchen) später: Die Jungs vertragen sich wieder. Aber dürfen ihren Eltern nichts sagen, weil diese in ihrem Kampfmodus verharren wollten. 

Ich denke an Allan Guggenbühls zahlreiche Publikationen zur Psychologie der Kindheit, vor allem der männlichen Jugend, zum Beispiel sein Buch Für mein Kind nur das Beste. Schon der Anrisstext sagt alles: 

Kindheit wird verwehrt, Jugendliche werden entmündigt. Eine Art Goodwill-Diktatur, die das Glück unserer Kinder mit dem «Little Nanny»-Ortungsapp überwacht.

Ja, das Handy. Leon konnte nur deshalb seine Mutter kurz vor zwölf herbeirufen und sich aus einer scheinbar ausweglosen Situation retten.

Es ist nicht das erste Mal, dass sich Eltern in Streitigkeiten ihrer Sprösslinge mischen. Oft genug tauchen Mütter oder Väter auf dem Pausenhof auf und bedrängen vermeintliche Gegner ihrer Kinder verbal und manchmal auch körperlich. Ein Betretungsverbot nützt wenig.

Es ist, als ob viele heutige Eltern ihre Kinder wie Schachbrettfiguren auf dem Brett herumschieben. Sie scheinen null Vertrauen in die Resilienz und die Entwicklung ihrer Sprösslinge zu haben. Dafür sind sie überzeugt von der Feindlichkeit seiner Umwelt.

Allerdings: Wer möchte es ihnen vorhalten? Unsere Welt baut immer mehr auf Kontrolle anstatt Vertrauen. Die überhandnehmenden Administrativaufgaben in Schulen, Heimen, Spitälern künden davon. Ebenfalls die eng regulierten Zertifikate, die den Weg zu einem begehrten Job ebnen.

Nur: Aus eigener Erfahrung als Mutter weiss ich, dass sich Kinder je besser in der Arbeitswelt zurechtfinden, je eigenständiger sie sich gegen andere Kinder oder auch Lehrerinnen zur Wehr setzen konnten. Oder, je nachdem, verbünden konnten.

Allerdings weiss ich nicht, wie ich diese komplexe Haltung des Zulassens, Gebietens, Nachbesprechens und des Vertrauens in die Kräfte des Kindes «meinen» Eltern vermitteln soll. Abgesehen davon, ist es auch nicht meine Aufgabe als Lehrerin an einer öffentlichen Schule.

Also fahren wir mit dem bisschen Friedensarbeit fort, das mir ihm Klassenverband möglich ist. 

«Ich finde dich schön und hilfsbereit», liest nun Cemil vor. Die Briefempfängerin lächelt. Erstaunte «Ohs» der andern sind zu hören. Eine Viertelstunde zuvor hatte sich Cemil geweigert, Leila, deren Namen auf einem Zettelchen stand, das er aus einem Täschchen gezogen hatte, einen Brief zu schreiben.

«Ach komm, das kannst du doch», hatte ich nur gesagt.

 

 

03. Februar 2024
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Kommentare

Angst und Vertrauen

von MS
Danke für den schönen Bericht. Ja viele Menschen/Eltern haben Angst und wollen alles kontrollieren. Wie kommen wir wieder ins Vertrauen?