Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Damanhur! 50 Jahre – vor einem halben Jahrhundert seid ihr aus Turin in dieses Tal gezogen, damals zu 25 jungen Menschen. Ihr wolltet nicht nur spirituell forschen, sondern auch materiell etwas bewegen! Ihr habt eine Föderation gegründet, seid nicht nur eine Gemeinschaft, sondern ein Volk mit mehreren hundert Menschen, einer eigenen Sprache, eigener Währung. Ihr habt heimlich einen unterirdischen Tempel gebaut und viele andere unglaubliche Dinge erreicht. Ihr habt aber auch Krisen durchlebt – und seid teilweise noch mittendrin. Trotzdem empfangt ihr uns mit grosser Herzenswärme und lasst uns an eurer überschäumenden Kreativität teilhaben. Mögen wir gemeinsam eine weltweit wirksame Gemeinschaft der Gemeinschaften aufbauen.
Ich habe selbst fast mein ganzes Erwachsenenleben in Gemeinschaft verbracht, davon 18 Jahre lang in Tamera in Portugal. Fast ebenso lang, seit 35 Jahren, bin ich Journalistin. Ich lernte spätestens beim Irak-Krieg, wie sehr die Medien Teil der Kriegsgesellschaft sind – Journalismus wurde bei allen Kriegen eingesetzt, um Ängste, Spaltung und Aggression zu verstärken. Ich recherchierte dann zum Begriff Friedensjournalismus. Johan Galtung, ein norwegischer Friedensforscher, der den Begriff prägte, sagte mir in einem Interview: «Jede Friedensentwicklung ist eine Gemeinschaftsentwicklung.»
Das ist wahr, genauso wie das Umgekehrte: Kriege beruhen auf der Zerstörung von Gemeinschaft. Vor jedem Krieg wird ein Feind geschaffen, das Gemeinsame mit einem Volk, einer Gruppe, einem Personenkreis negiert. Ist der Krieg vorbei, müssen sich die so genannten Feinde nach und nach wieder aufeinander zubewegen, einander begegnen, ihre Gemeinsamkeit wieder entdecken. Sie müssen sich gegenseitig vergeben, Kontakt aufnehmen, die gemeinsamen Bedürfnisse und Ressourcen erkennen, verstehen, wie sehr man einander braucht, dass man gemeinsame Ziele hat – und wieder eine Gemeinschaft schaffen. Das ist unsere Aufgabe seit der Zerstörung der ursprünglichen Gemeinschaften, immer wieder und wieder. Ich kann deshalb Falco, dem verstorbenen Gründer von Damanhur, voll und ganz zustimmen, wenn er sagt: Die Zukunft der Menschheit liegt in der Gemeinschaft.
Mein Eindruck von Damanhur im Video:
Ich bin mir ziemlich sicher: Die Menschheit ist dabei aufzuwachen. Wir werden in naher Zukunft zu der Einsicht erwachen, dass wir bereits eine Menschheitsfamilie sind und es immer waren. Alle Menschen sind Teil eines Ganzen, Organe in einem Organismus. Und nicht nur wir Menschen, sondern alle Wesen, alles Leben. Wir sind mehr als abhängig voneinander, wir sind Eins.
Wir werden dabei auch zu der Einsicht erwachen, wie sehr wir einander verletzt haben. Wie sehr wir an die Illusion der Trennung geglaubt haben. Wie sehr wir uns benachteiligt fühlten – und glaubten, uns einen Vorteil verschaffen zu können, indem andere einen Nachteil hatten. Das Erwachen wird also auch schmerzhaft sein. Möge unsere Liebe stärker sein als der Schmerz!
Wir kennen das vom Nachtschlaf: Kurz vor dem Aufwachen zeigen sich noch einmal alle Albträume drastischer und intensiver als zuvor. Da stehen wir jetzt als Menschheit, mitten im globalen Alptraum. Das ist die Polykrise mit all ihrem Leid, ihrer Zerstörung, ihrer Orientierungslosigkeit.
Die kapitalistisch-patriarchale Geschichte hat die ursprünglichen Stämme und Gemeinschaften und ihr Wir-Gefühl immer weiter zerstört und voneinander getrennt – bis zu dem Irrglauben, dass das, was anderen dient, uns schade. Was andere bekämen, gehe uns verloren.
Was wir teilen, macht uns reich.
Existierende Gemeinschaften verstehe ich als Übungsfeld, um das Gegenteil zu erfahren: Was wir teilen, macht uns reich! Das gilt für materielle Dinge, aber auch für Wissen, Verantwortung – und für die Liebe. Ich denke, wenn eine kritische Anzahl von Menschen diese Erfahrung macht, könnte dies die Kernbotschaft der spirituellen Terroristen sein, die Orango in seiner Einleitungsrede erwähnt hat. Denn diese Erfahrung, wenn sie von einer kritischen Masse gemacht werden kann, hat die Kraft, das kapitalistisch-patriarchalische System an immer mehr Stellen zu durchbrechen und zum Erliegen zu bringen.
Aber noch bekämpft das System seine mögliche Heilung. Es bekämpft daher auch Gemeinschaften. So befinden sich viele grosse und lang bestehende Gemeinschaften derzeit in Dauerkrisen. Waren die vielen Ökodörfer weltweit, die Kommunen und Ansätze zu selbstverwalteten Regionen vielleicht zu erfolgreich? Jetzt grassieren in vielen von ihnen Konflikte um Generationswechsel, Rechtsstreitigkeiten mit Behörden, wirtschaftliche Schwierigkeiten – und Meinungsstreits. Das Virus der Spaltung hat vor den Gemeinschaften nicht Halt gemacht: Das Prinzip «Teile und herrsche» erfährt noch einmal eine Aktualisierung. Die Meinungsverschiedenheiten rund um Covid, um Israel-Palästina, um Migration, um die Gendersprache, die gerade vielerorts Freundeskreise spalten, führen auch in Gemeinschaften zu schmerzhaften Prozessen. Bisher scheinen aber die meisten Gemeinschaften die Ressourcen zu haben, um immer wieder zusammen zu finden. Davon können andere Teile der Gesellschaft viel lernen.
Dieter Duhm, der Mitbegründer von Tamera, sagte einmal sinngemäss:
Auch am Neuen hängt noch die Last des Alten.
Also auch die Versuche, eine neue Kultur aufzubauen, sind noch mit den Schatten der Vergangenheit belegt. Sie werden mit den gleichen Schwierigkeiten konfrontiert und dieselben Fehler machen wie die normalen Gesellschaft. Aber da Gemeinschaften klein genug sind und über viele Feedbackschleifen verfügen, können sie diese Fehler leichter korrigieren, Neues erproben und das Lösungswissen in das grössere System zurückfüttern.
Das ist ein schöner Gedanke. Doch einige der grösseren Gemeinschaften mit ihren legendären Errungenschaften – das Wassersystem von Tamera, der unterirdische Tempel von Damanhur, die Millionen Bäume von Auroville, die Riesentomaten von Findhorn – sind in dieser turbulenten Zeit zu Angriffsflächen geworden, so dass sie kaum noch frei ihre Wirkung nach aussen entfalten können. Sie haben genug damit zu tun zu überleben. Ich glaube, wir brauchen noch eine weitere, ergänzende Gemeinschaftsstrategie. Ich nenne sie die Strategie der 1000 Mikrogemeinschaften. Und ich möchte erzählen, wie ich dazu gekommen bin.
Nach 18 Jahren in Tamera hätte ich nicht geglaubt, dass ich noch einmal meine Heimat wechseln würde. Viele turbulente Entwicklungen haben mein Leben auf den Kopf gestellt und führten dazu, dass ich heute mit einer kleinen Gruppe von fünf Personen in einem Gutshaus in der Nähe der Ostsee in Deutschland lebe, das wir als Biohotel und Begegnungsstätte betreiben. Wir nennen es Terra Nova Begegnungsraum.
Wir sind immer noch Teil der Gemeinschaftsbewegung. Und wir geniessen es, nach Jahren in grossen Gemeinschaften so intim und nah zusammen zu leben. Das macht vieles einfacher. Wir müssen unsere Treffen nicht organisieren, denn wir sehen uns sowieso ständig. Wir brauchen uns. Wir lernen uns immer besser kennen, auch in schwierigen Situationen. Wir sind zu klein und zu gleich, um jemandem die Verantwortung abgeben. Unser gegenseitiges Feedback zu unseren Verhaltensmustern ist direkt und mitten aus dem Leben. Ich weiss, dass ich mich auf alle verlassen kann. Unsere Vertrautheit untereinander ist ein Schatz, den wir mit unseren Gästen, Mitarbeitern, Besuchern, Helfern und Nachbarn teilen, als Begegnungsraum.
Begegnungsraum: Was bedeutet das? Martin Buber, ein wunderbarer jüdischer Philosoph, sagte einmal: «Alles wirkliche Leben ist Begegnung.» Für mich ist dieser tiefe Moment einer Begegnung mit einem anderen immer die Möglichkeit für etwas ganz Neues. Begegnung ist der Kontakt von Seele zu Seele und findet in einer Tiefe statt, wo Vorurteile, Status und Meinungen schweigen. Man zeigt sich und erkennt sich, man lässt jemand anders ins eigene Innere schauen, und für einen Moment weiss man, wer der oder die andere ist.
Ich glaube, echte Begegnung ist die Grundlage von Gemeinschaft. Erinnern wir uns, wie die Gemeinschaften entstanden sind, denen wir so viel Zeit unseres Lebens gewidmet haben – oder warum wir uns ihnen angeschlossen haben. Meistens lag am Anfang nicht eine rationale Erwägung, weil etwas besser war als etwas anderes. Sondern es war die tiefe Begegnung mit einer Person, einer Gruppe oder einem neuen Gedanken, die alles verändert hat.
Unser Dokumentarfilm (30 min.) über Tamera / Portugal
Nach 18 Jahren Aufbau einer neuen Kultur in Portugal finde ich mich in einem Deutschland wieder, das sich auf einen Krieg vorbereitet. Unser kleiner Wahlkreis hat die höchste Quote an AfD-Wählern in ganz Deutschland. Sind es also alles Rechtsradikale? Sicher nicht. Die Menschen in unserem Dorf sind so freundlich, entgegenkommend und hilfsbereit, wie man es sich nur vorstellen kann. Wir begegnen täglich «ganz normalen» Menschen – Familien, die in unserem Hotel Urlaub machen, Mitarbeiter, Nachbarn… alles Menschen, die nicht in eine Gemeinschaft gehen würden, um von ihr zu lernen. Viele von ihnen fühlen: Irgendwas hier ist anders, aber was? Wir belehren sie nicht. Aber wir versuchen, Räume zu bieten, in denen man sich begegnen kann.
Was bedeutet das – zum Beispiel, wenn man in wichtigen Bereichen unterschiedlicher Meinung ist? Ein Beispiel: Eines Morgens sprachen wir mit einigen Menschen über Waffenlieferungen in die Ukraine – eines der Themen, bei denen ehemalige Freunde in den letzten Jahren so radikal unterschiedlicher Meinung sind. Es gelang uns, einen Raum für intensiven Austausch zu schaffen. Ich konnte meine Wut darüber zeigen, dass Menschen, die ich sehr mag, in diesem Thema so anders denken. Wir blieben aber nicht beim Streit stehen, sondern hörten uns zu und tauschten uns über die Informationen und Ängste aus, die unseren Meinungen zugrunde liegen. Wir gingen tiefer – und konnten erkennen, dass wir dieselben Werte teilen.
Nach dem Gespräch hatten alle noch dieselbe Meinung wie zuvor. Niemand hat die anderen von seiner eigenen Meinung überzeugt. Und das war auch nicht das Ziel. Doch wir haben alle einen Moment der Begegnung gespürt: Worte und Gefühle aus der tieferen Schicht unterhalb der Meinungen. Was sich von dort aus ändern wird, liegt nicht in unseren Händen.
Das gehört für mich zur Strategie der Mikrogemeinschaften. Wie wäre es – wenn Tausende von ihnen entstünden, überall, in allen Regionen? Sie sind beweglicher und unbelasteter als die grossen Gemeinschaften, und sie laufen unter dem Radar der medialen Aufmerksamkeit, der Projektionen und gesellschaftlichen Gegenkräfte. Sie können nicht dieselben, teilweise spektakulären Dinge realisieren wie die grossen Gemeinschaften. Aber sie leben und wirken mitten in der Gesellschaft. Sie müssen sich nicht so viel damit beschäftigen, die Überzeugten zu überzeugen. Sie leisten überhaupt keine Überzeugungsarbeit, sondern begegnen allen möglichen Menschen und leben dabei schlicht und selbstverständlich das, was sie jahrelang in Gemeinschaften gelernt haben. Darin liegt eine Kraft, an dich ich glauben kann.
Vielleicht werden wir auf diese Weise eines Tages erfahren: Eine andere Welt ist nicht nur möglich. Es gibt sie schon. Nicht nur in Damanhur. Sondern an tausend weiteren Orten.