«Nach Nordirland also»

Wie mich Nordirland magisch anzog, wie wir ungewollt zu Komplizen der IRA wurden – und in Belfast in die Ruhe vor dem Sturm gerieten. Aus der Serie «Als ich mich in die Welt verliebte – Chronik einer Leidenschaft» #46 von Nicolas Lindt.

Dublin interessierte mich plötzlich nicht mehr. Ich wollte nach Belfast. / © Nicolas Lindt

Juli 1972. Am Montag der ersten Ferienwoche, irgendwann gegen Abend, wanderten zwei junge Schweizer vom Dubliner Flughafen hinüber zur Überlandstrasse, um von dort aus per Autostopp in die Stadt hinein zu gelangen. An der Strasse angekommen, wies ein Schild nach rechts Richtung Dublin City. Doch ein zweites Schild zeigte – nach Belfast.

Dass ich auf unserem Irland-Trip auch Nordirland sehen wollte, hatte ich Elias schon angekündigt. Und als ich jetzt diese Tafel sah, wusste ich, dass ich mich nicht gedulden konnte. Dublin interessierte mich in diesem Moment überhaupt nicht. Im Innersten ahnte ich wohl bereits, wie wichtig dieses Nordirland für mich sein würde. Zum Glück konnte ich Elias dazu überreden, den Norden zuerst zu besuchen. Ich hätte sonst in Dublin die ganze Zeit das Gefühl gehabt, am Leben vorbei zu leben.

Bedenken, was uns in Belfast erwarten könnte, hatten wir keine – was im Grunde erstaunlich war, denn in Nordirland herrschte Krieg. Seit dem «Bloody Sunday» im Januar desselben Jahres rollte eine unaufhörliche Welle der Gewalt über den Norden hinweg. An jenem traurigsten Sonntag in der Geschichte Irlands hatte in der Stadt Londonderry eine Kundgebung gegen die Präsenz der britischen Armee stattgefunden. Die anrückenden Soldaten hatten darauf in die Menge geschossen und 13 der Demonstranten getötet. In der Folge erhielt die «Irish Republican Army» (IRA) grossen Zulauf, und fast täglich kam es in den Städten zu Bombenanschlägen und Schiessereien zwischen den Brigaden der IRA, den britischen Truppen und militanten protestantischen Gruppen.

In dieser angespannten, von Gewalt erschütterten Situation hätte man Elias und mir davon abraten müssen, in den Norden zu reisen. Doch mit dem Kopf voran stürzten wir uns ins Abenteuer. Jahrzehnte später, in meinem Buch «Im Schulzimmer des Lebens» versuchte ich zu beschreiben, wie wir uns damals, an jenem Abend an der Ausfallstrasse nach Belfast fühlten: «Wir waren vom Feuer des Lebens noch unversehrt. Wo etwas brannte, da zog es mich hin. Ich musste dabei sein. Ich hielt das Aussergewöhnliche, das Gefährliche für das Leben selbst, und ich war schon zu weit von meiner Kindheit entfernt, um mich zu fürchten.»

Zurück in der Schweiz durfte ich im Tages-Anzeiger auf eineinhalb Zeitungsseiten unsere Erlebnisse schildern. Der Titel der Reportage, aus der die folgenden Auszüge stammen, lautete: «Nach Nordirland also – Notizen einer ungewöhnlichen Reise per Autostopp».

«Bis Belfast», begann ich meinen Bericht, «sind es 160 Kilometer, doch wenn wir Glück haben, schaffen wir die Distanz bis zum Einbruch der Nacht. Wir haben Glück. Ein Möbelhändler bringt uns bis kurz vor die Grenze zu Nordirland. Dass wir uns tatsächlich nach Belfast wagen, erstaunt ihn, doch gibt er uns gute Ratschläge und meint dann ironisch: Wenn ich von eurem Tod lese, erzähle ich allen Leuten, dass ich euch getroffen habe – und bekreuzige mich!»

Der Galgenhumor des Möbelhändlers hätte uns vielleicht doch etwas unsicher machen sollen. Doch wir hörten wir nicht auf die freundliche Warnung. Und schon Minuten später konnten wir nicht mehr zurück.

«Der kleine rote Kastenwagen holpert zunächst an uns vorbei, hält dann aber doch noch, zwei junge Männer sitzen darin, die uns über die Grenze mitnehmen wollen. Wir steigen hinten im Laderaum ein und teilen den engen Platz mit unseren Rucksäcken und einem großen unförmigen Sack, dessen Inhalt – wie wir nicht ohne Erschrecken feststellen – aus Waffen besteht. Die beiden Männer, so wird uns klar, schmuggeln für die IRA Waffen über die Grenze, und wir sitzen mit in der Falle. Vor dem letzten Pub im unabhängigen Irland halten die Männer an. Es ist 23 Uhr, ein erstes, gewöhnungsbedürftiges Guinness wird uns spendiert, der Fernseher bringt gerade Nachrichten, und der Ältere will von uns wissen: Was ist denn eure Meinung zu Nordirland?

Ich glaube, versuche ich ihm zu antworten, es handelt sich nicht um einen religiösen Konflikt. Es geht um Politik. England hält Nordirland wirtschaftlich von sich abhängig und vermittelt der protestantischen Mehrheit deshalb ein Herrschaftsbewusstsein, was eine Versöhnung zwischen Katholiken und Protestanten verhindert.»

Theoretisch hatte ich alles im Griff. Aber dies war das wirkliche Leben, und eigentlich hätte ich zittern müssen angesichts dessen, was uns wohl gleich erwartete. Wir dienten Waffenschmugglern als menschliche Schutzschilde. Doch das Ausmass der Gefahr war uns nicht bewusst.

«Nachdem wir unseren Standpunkt dargelegt haben, merken wir, wie das Vertrauen der beiden wächst. Wir diskutieren, bis die Lichter im Pub ausgehen und der Fernseher ausgeschaltet wird. Noch eine halbe Stunde bis Mitternacht.

Die beiden wollen noch von uns wissen, ob wir katholisch sind. ‹Ok, you’re a Protestant›, sagt der Jüngere beim Hinausgehen – er komme mit Protestanten gut aus. Immer wieder werden wir bei den katholischen Nordiren diese Offenheit spüren, trotz der ganzen Feindseligkeit. Bereits fällt es mir schwer, nicht für sie Partei zu ergreifen.

Wir erreichen die Grenze. ‹Patrol 150 yards ahead› steht auf dem Schild. Durch das Fenster zur Fahrerkabine blenden uns grelle Lichter, dann die ersten Soldaten, Maschinenpistolen im Anschlag. Gespannte Ruhe im Auto. Der Fahrer öffnet das Fenster, Ausweise werden verlangt, dann wird die Tür zum Laderaum aufgerissen, und ein noch sehr junger Soldat leuchtet uns an mit der Taschenlampe. Das Licht der Lampe streift auch den Sack hinter uns, und einen kurzen Moment lang schaut uns der junge Bursche in Uniform unschlüssig an. Dann schliesst er die Tür, als habe er nichts bemerkt. Vielleicht wollte er nichts bemerken. Die Briten wissen wohl nur zu gut, warum sie nicht zu streng kontrollieren. Hätte der Soldat die Waffen entdeckt, wäre die Lage ausser Kontrolle geraten. Die beiden IRA-Leute hätten sich nicht kampflos ergeben.»

«Kaum liegt der Grenzposten hinter uns», fuhr ich fort in meinem Bericht, «fangen die Beiden zu singen an. Sie singen Rebellenlieder, pathetisch und sehr zufrieden mit dem geglückten Grenzübertritt.»

Trotz aller Abgebrühtheit waren sie wohl auch erleichtert. Elias und mir jedenfalls stand der Schweiss auf der Stirn. Doch die Rebelsongs, welche die beiden Iren nun schmetterten, rissen mich bereits wieder mit. Sie triumphierten über den erfolgreichen Schmuggel, und mein jugendlicher Eifer feierte mit ihnen. Wozu die Waffen verwendet würden – nämlich zum Töten –, überlegte ich mir keinen Moment. Meine Sympathie für die IRA und die katholische Sache wuchs von Stunde zu Stunde.

Es herrschte bereits tiefe Nacht, als uns die beiden Rebellen zu einem Bauernhof brachten, wo wir bei den Grosseltern des Jüngeren eine Welt vorfanden, die friedlicher nicht hätte sein können. Wir schliefen tief und fest in einer Art Gästekammer; am Morgen wurden wir von den alten Leuten mit Tee und Biskuits bewirtet, streichelten Kühe und schauten dem Bauern beim Scheren der Schafe zu. Das Leben wollte uns offenbar stärken für die Erlebnisse, die vor uns lagen.

***

Ein weiterer junger Mann, auch er mit Sicherheit ein Angehöriger der verbotenen Provisional IRA – dem «militärischen» Flügel der Rebellenarmee – nahm uns in seinem klapprigen, tintenblauen Lastwagen mit nach Belfast. Er fuhr direkt nach Ballymurphy, dem katholischen Arbeiterviertel, das noch vor dem «Bloody Sunday» in Derry eine ebenso traurige Berühmtheit erlangte, als am 9. August 1971 britische Soldaten in das Quartier eindrangen, um Mitglieder der Provisional IRA festzunehmen. Ein neues Gesetz ermöglichte es den Truppen, Verdächtige ohne Gerichtsurteil zu verhaften. Bereits am Eingang des Viertels stiess die Armee auf eine protestierende Menge. Als die vorrückenden Soldaten das Feuer eröffneten, wurden zehn zumeist unbewaffnete Menschen erschossen – unter ihnen ein Priester, der einem Getroffenen beistehen wollte, und eine Mutter von 8 Kindern, die ebenfalls Erste Hilfe zu leisten versuchte. Die britischen Soldaten blieben unverletzt.

Nach jenem Unglückstag im August 1971 wurde Ballymurphy zu einer verbarrikadierten republikanischen Zone, einer No-go-area, in die sich das Militär nur noch schwerstbewaffnet hineingetraute. Das alles hatte auch ich in der Presse verfolgt. Der Name Ballymurphy war mir bekannt. Aber hatte ich die Nachricht noch mitbekommen, dass am Tag vor unserer Ankunft Gespräche zwischen der Provisional IRA und britischen Regierungsvertretern über einen Waffenstillstand gescheitert waren? Der bewaffnete Arm der IRA zog sich von den Gesprächen zurück, weil die Engländer weder ihre Truppen zurückziehen noch politische Häftlinge freilassen wollten. Es war vorauszusehen, dass die IRA ihren Waffenstillstand beenden würde. Und genau in diesem Moment, in der die Zeitbombe bis zum nächsten Gewaltausbruch schon zu ticken begann, erreichten wir Ballymurphy.

Ich spürte die Stimmung, die in der Luft lag. «Die Strasse durch die Aussenquartiere ist von zerstörten Häuserfronten und Schmutz gesäumt. Nur wenige Leute sind unterwegs. Die Stadt an diesem Sommermorgen erscheint uns wie tot. Doch nach der offenen friedlichen Landschaft wirkt die Ruhe hier undurchsichtig und tückisch.»

«In Ballymurphy biegen wir in eine Seitenstrasse ein: Verrusste niedere Reihenhäuser, Abfälle, Dreck, Überreste von Barrikaden, Steine und andere Wurfgeschosse – und ein paar Jugendliche, die an der Ecke stehen und darauf warten, dass etwas passiert. Dann der erste Eindruck, der mir bestätigt, wovon ich schon in der Schweiz las: Ich sehe Kinder, die mit Plastikgewehren, Stöcken und viel Geschrei Krieg spielen. Sie imitieren, was sie täglich erleben – und nachts können sie nicht mehr schlafen.

Wir betreten die enge Wohnung der Mutter des Lastwagenfahrers. Sie entscheidet, dass wir zur Sozialarbeiterin Janet gebracht werden sollen. Ihr Sohn fährt mit uns um die Ecke und bringt uns bis vor die Haustür. Die Freundlichkeit dieser Menschen ist überwältigend, aber ich glaube, sie spüren unsere Anteilnahme, unser echtes Interesse an ihrer bedrückenden Lage als Minderheit unter der englischen Fuchtel.

Der letzte Eindruck, den der freundliche junge ‹Provo› von sich hinterlässt: Er umfasst im Vorbeigehen ein Mädchen, besitzergreifend und ziemlich frech, macht eine anzügliche Bemerkung und steigt dann, mit einem fröhlichen Grinsen, in seinen Lastwagen. Immer wieder werden wir diese versteckte Gewalt bei jungen Männern in den Arbeitervierteln erleben. Selbst wenn die Unruhen einmal aufhören sollten – diese Grobheit in kleinen Dingen werden sie nicht so bald überwinden können.

Janet, die von unserem Kommen schon benachrichtigt wurde, öffnet die Tür für uns. Sie ist eine spontane, gemütliche junge Frau, seit Jahren engagiert in der Jugendarbeit mitten im Getto, wo sie im Community Center, einer Art Kirchgemeindehaus den Jugendlichen, die meist arbeitslos sind, bei der Bewältigung ihrer Probleme hilft. Sie führt uns ins Wohnzimmer und entschuldigt sich für den Uringeruch; ihre Hauskatzen sind nicht ganz stubenrein. Wir entledigen uns unserer Rucksäcke und fühlen uns bei Janet und ihren Katzen sicher – obwohl draussen Krieg herrscht.»

 

Fortsetzung folgt am 16. April …