Nachhaltige Nachbarschaft
Teilen, reparieren, Unterstützung geben und Hilfe bekommen direkt vor der eigenen Haustür: Wer sich auf die Leute «next door» einlässt, lebt nachhaltiger!
Heute dagegen kennen viele Menschen, die Leute kaum noch, mit denen sie Tür an Tür leben. Foto: Beth Macdonald
Heute dagegen kennen viele Menschen, die Leute kaum noch, mit denen sie Tür an Tür leben. Foto: Beth Macdonald

Es gab Zeiten, da war es üblich, sich überall im Haus vorzustellen, wenn man irgendwo neu einzog. Es könnte ja sein, dass man sich einmal einen Würfel Hefe leihen muss oder jemanden braucht, der ein wichtiges Päckchen annimmt. Heute dagegen kennen viele Menschen, vor allem in den Grossstädten, die Leute kaum noch, mit denen sie in derselben Strasse oder sogar Tür an Tür leben. Vielleicht vom Sehen, maximal vom Grüssen – aber es ist nicht mehr unbedingt Usus, sich auch einmal auf ein Pläuschchen zusammenzustellen. Für soziale Interaktion hat man ja Menschen, mit denen einen mehr verbindet als die Adresse: Kollegen, Freundinnen oder die virtuellen Bekanntschaften auf den verschiedensten Kanälen der sozialen Medien. 

Doch genau das, was uns vermeintlich trennt – das Internet in all seinen Erscheinungsformen – hilft uns jetzt zu Krisenzeiten, wieder näher zusammenzurücken, Hilfe anzubieten und anzunehmen und die Nachbarschaft kennenzulernen. Die Nachbarschaftsplattformen, die schon vor einiger Zeit entstanden, bewähren sich jetzt enorm. Online und gemeinsam werden hier Hilfsprojekte und Einkaufsdienste organisiert. Auf das Wesentliche reduziert, schlägt jetzt die Stunde der Nachhaltigkeit, die in den verschiedensten Projekten zum mehrwertigen Austausch im eigenen Viertel anregt: Bücherschränke, Repair-Cafés und Tauschbörsen.

Kein Mensch ist so reich, dass er nicht seinen Nachbarn braucht.

Ein bisschen Theorie vorneweg: Die grosse Transformation Richtung Nachhaltigkeit, die ansteht, muss nicht ausschliesslich global angegangen werden – ganz offensichtlich hat das bisher ohnehin noch nichts genutzt. Davide Brocchi stellt in seinem jüngsten Werk dar («Grosse Transformation im Quartier – Wie aus gelebter Demokratie Nachhaltigkeit wird»), dass man auf lokaler Ebene am besten ansetzen kann. Der Kölner Soziologe geht der Frage nach, warum es erfolgversprechender ist, wenn der notwendige Wandel auf lokaler Ebene initiiert wird, im eigenen Viertel, direkt in der Nachbarschaft. Dafür hat er sechs lokale Bürgerinitiativen genauer betrachtet und erkannt: Auch wenn moderne Nachbarschaften keine traditionellen Dorfgemeinden abbilden können, kann dennoch das Vertrauen, dass man dieser entgegenbringt, auf sie übertragen werden. Der Autor in einem Interview: «Wenn wir Vertrauen fördern, ergeben sich viele positive Effekte im Sinne der Nachhaltigkeit.» Das Potenzial für die Transformation »kann durch die Bildung unkonventioneller Allianzen am besten entfaltet werden», etwa durch Nachbarschaftsinitiativen, die sich transparent und demokratisch organisieren und die Beteiligten als mündige Menschen miteinbezieht. 

Die mittlerweile acht überregionalen und 13 regionalen Nachbarschaftsplattformen im Internet sind ein erster Schritt in diese Richtung – Tendenz steigend. Sie alle sind Manifestation des alten ungarischen Sprichworts: «Kein Mensch ist so reich, dass er nicht seinen Nachbarn braucht.» Die wohl bekannteste ist die Plattform «nebenan.de» mit mehr als 4.600 aktiven Nachbarschaften, auf die sich mehr als 600.000 Teilnehmer*innen verteilen. Die Plattform «Nachbarschaft.net» hat 200.000 Nutzer*innen, die sich auf den Seiten tummeln. 

Der Bundesverbandes für Wohnen und Stadtentwicklung e.V. war von dem, was sich hier online tut, so beeindruckt, dass er eine Studie in Auftrag gegeben hat, die das Ganze näher untersucht:  «Wandel von Nachbarschaft in Zeiten digitaler Vernetzung». Das damit beauftragte Forschungsinstitut hat ein Profil der Menschen erstellt, die diese Plattformen nutzen: Sie sind im Schnitt zwischen 25 und 70 Jahren alt. Bemerkenswert ist hierbei, dass bei einem Durchschnittsalter von Mitte 40 die etwas ältere Generation hier wesentlich stärker vertreten ist als in anderen sozialen Medien. Sehr viele Nutzer*innen sind Single, fremd im Ort oder in der Mobilität beeinträchtigt, etwa weil sie kleine Kinder haben oder älter sind. Sie leben meist in Grossstädten, gehören der Mittelschicht an, haben ein hohes Bildungsniveau und ersetzen die fehlende Möglichkeit an menschlichen Begegnungen durch den virtuellen Austausch. Doch auch mehr und mehr Menschen aus den Kleinstädten und dem ländlichen Bereich wissen die Reichweite zu schätzen, die hier eine Suche, ein Angebot oder eine Hilfeanfrage hat. (Quelle: vernetzte-nachbarn.de)

Christian Vollmann hat 2015 gemeinsam mit vier Mitstreitern die Plattform nebenan.de gegründet. Angeregt dazu wurde er von der amerkanischen Plattform nextdoor.com – und dem Gefühl, sich in Berlin, wohin er aus einer dörflichen Gemeinschaft gezogen war, recht isoliert und allein zu fühlen. Die Nähe, die gegenseitige Unterstützung und das Wissen, das in einer Dorfgemeinschaft jedem Mitglied zur Verfügung steht, sollte online abgebildet werden. So entstand die  grösste digitale Nachbarschaftsplattform Deutschlands. Was hier vor sich geht, liesse sich für die jüngere Generation vielleicht so beschreiben: wie Facebook, nur in echt. Will sagen: Hier postet, wer etwas sucht: einen Rasenmäher günstig kaufen, einen Hochdruckreiniger ausleihen, einen speziellen Handwerker finden möchte. Und hier postet auch, wer die alten Kinderschuhe abzugeben hat, seine Plattensammlung verkaufen oder gegen Stellung der Zutaten einen Kuchen backen möchte, weil man so gern backt und keine Familie hat, die die Erzeugnisse essen würde. Jemand hat einen Kirschbaum, der sich unter den Früchten biegt – aber keine Möglichkeit, sie zu ernten. Ein anderer bietet an, mit den Hunden der Nachbarn Gassi zu gehen. Wieder andere laden zum Brettspielabend ein, suchen jemanden, der mit ihnen Nordic Walking macht oder eine Veranstaltung besucht. Und in Zeiten von Corona zeigte sich zweierlei: Zum einen, wie gross die Hilsbereitschaft der Nachbarschaft ist. Und zum anderen, wie schnell eine virtuelle Plattform auf die Situation reagieren und Hilfsangebote und -gesuche in Sachen Einkauf, Apothekengang etc bündeln kann. Das ist dann nicht nur «Sharing Economy», wo man Dinge wie den Hochdruckreiniger nachhaltiger einsetzt, da man sie teilt, sondern geht tiefer, rein in die echte Menschlichkeit, die im analogen Leben oft durch Konventionen und soziale Hemmungen nicht wirklich zum Zuge kommt. 

Menschlichkeit und der Austausch von individuellen Fähigkeiten ist Schwerpunkt der Tauschringe. Diese sind in den jeweiligen Städten meist als Initiativen organisiert und vermitteln Dienstleistungen von privat zu privat: Die eine kann Apfelbäume schneiden, der andere ist ein begnadeter Hobbyfriseur, jene übernimmt lästige Schreibarbeiten und dieser hilft, das Regal zu montieren. Diese Unterstützung ist zwar bargeldlos, wird aber dennoch entlohnt, und zwar in Form von «Talenten», einer virtuellen Tauscheinheit. Eine Stunde Arbeit, gleich welcher Art, wird mit zehn oder 20 Talenten, je nach Tauschring, entgolten und in einem Büchlein gutgeschrieben. Von diesem Guthaben kann man dann eine andere Dienstleistung von einem anderen Tauschbörsenmitglied eintauschen – ohne zeitliche Vorgaben, wann dieser Tausch stattfinden muss. Viele Leute, die Tauschring nutzen, erzählen, dass sie so auf Dinge aufmerksam geworden sind, die sie sonst nie ausprobiert hätten. Andere freuen sich, dass sie so Fähigkeiten, die ihnen Spass machen, für andere Dinge, die sie sich sonst nicht leisten könnten, einsetzen können. Auch hier gilt: Durch das gemeinsame Nutzen von Ressourcen wie Werkzeuge oder eben auch Fähigkeiten gestaltet sich so der Austausch von Hilfeleistungen nachhaltiger.

Stichwort Ressourcen: Wer hat nicht daheim irgendein gebrauchtes Gerät herumliegen, das eigentlich noch zu gebrauchen wäre, wenn man es reparieren würde? Da meist die Handwerkskosten höher sind als eine Neuanschaffung, sieht man sich oft gezwungen, sie wegzuwerfen. Schade – und oft gar nicht nötig. Man könnte mit dem alten Maschinchen einfach in ein Repair Café gehen, wo man unter fachlicher Anleitung gezeigt bekommt, wie man das Teil überholen kann. Hier gibt es ehrenamtliche Helfer*innen mit handwerklichem Know How, das nötige Werkzeug und auch Material. Eine Hose flicken, einen Stuhl aufpolstern, einen Platten am Fahrrad flicken: Gemeinsam ist es machbar, schenkt alten Gegenständen ein neues Leben und den Besitzer*innen eine neue Erfahrung, vielleicht sogar neue Fertigkeit. Initiiert wurde das Ganze 2009 in Amsterdam und stiess auf grosse Resonanz. Martine Postma, die Ideengeberin, gründete deshalb eine Non-Profit-Organisation, die anderen Repair Café Betreiber weltweit professionelle Unterstützung anbietet. Den professionellen  Reparaturfachleuten gehen damit keine Kunden verloren, da hier meist nur Gegenstände repariert werden, die man sonst weggeworfen hätte.

Ein Nachbar in der Nähe ist besser als ein Bruder in der Ferne.

Tauschen, Verwerten, Reparieren, Verschenken; Hilfe anbieten und erhalten, Ressourcen gemeinsam nutzen: Das Leben in einer Gemeinschaft ist einfach nachhaltiger. Darüber hinaus kann man Wissen anzapfen, über das man selbst nicht verfügt, vorhandene Fähigkeiten zur Freude aller einsetzen oder neue Fähigkeiten erwerben. Ein sehr schönes Beispiel für Austausch in der Nachbarschaft stellen auch die öffentlichen Bücherschränke dar, von denen es mittlerweile fast 2000 bundesweit gibt: alte Bücher, die man nicht mehr liest, dort einstellen, und frische Bücher abholen. Dass eine solche Gemeinschaft auch virtuell zustande kommen kann, sogar eine grössere Reichweite bietet, ist umso erfreulicher. Die für alle bedrückende Sitation des «Social Distancing» hat gezeigt, wie sinnvoll und bereichernd das Leben in der Nachbarschaft sein kann, ob digital oder analog. So soll diesen Artikel ein biblisches Zitat beschliessen: Ein Nachbar in der Nähe ist besser als ein Bruder in der Ferne (Sprüche 27:10).  


Information & Inspiration:

nebenan.de 
repaircafe.org
Nachbarschaft.net
tauschringadressen.de
 

Martina Pahr

Martina Pahr

Martina Pahr ist Magister der Literaturwissenschaft, verausgabte Fernsehredakteurin, ehemalige Reiseleiterin und leidenschaftliche Schrebergärtnerin. Nebenher veranstaltet sie diverse Lesebühnen in München (wo sich kaum jemand etwas unter diesem Begriff vorstellen kann - im Grunde «Poetry Slam» ohne Wettbewerb.) Im Sommer schreibt sie gern in Schottland, im Winter in Asien und zwischendrin im Garten - wo sie sich überlegt, warum sie nichts Anständiges gelernt hat. 

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