Nichts-Nutz

Wer nichts tut ist nichts wert

Wer viel Zeit hat und diese auch geniesst, gilt wenig in unserer Gesellschaft. Dies will eine repräsentative deutsche Studie herausgefunden haben. Die meisten Befragten setzen Ruhe und Müssiggang offenbar mit Faulheit gleich. Wer nicht von einem Termin zum nächsten hetzt, hat offensichtlich nichts zu tun – und ist unserer Gesellschaft zu nichts nutz. Trotz des immensen technischen Fortschritts der letzten Jahrzehnte, der eigentlich mehr Mussezeit schaffen sollte, ist es heute tabu, sich diese zu gönnen. Warum?


Vielleicht hilft ein Zurückdrehen des Zeitrads zu den Wurzeln des Mussebegriffs im antiken Griechenland. Unser heutiges Wort für Schule (lateinisch schola von griechisch σχολή) bedeutet ursprünglich freie Zeit, Müssiggang, Nichtstun! Aristoteles schrieb: «Wir arbeiten, um Musse zu haben.» Eine Basis von Ruhe und Entspannung galt als entscheidend, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Somit wäre hier die ketzerische Frage angebracht, ob innovative Ideen überhaupt das Ziel unserer heutigen Gesellschaft – oder Schule – sind? Wahrscheinlich kaum! Eigene kreative Gedanken könnten gefährlich und subversiv sein – was würde passieren, wenn Menschen plötzlich weniger konsumieren und dafür mehr geniessen würden? Damit könnte unsere auf Dauerwachstum ausgerichtete Wirtschaft gar nicht funktionieren! Ein weiterer Grund könnte im abhanden gekommenen Glauben an ein Leben nach dem Tod liegen. Immer weniger Menschen erwarten ihr Glück in einem paradiesischen Jenseits, sondern möchten sich dieses im Hier und Jetzt schaffen. Als erstrebenswert gilt ein möglichst intensives Leben, wie im Supermarkt als Sonderangebot «zwei für eins» – inklusive Arbeitsüberlastung und Freizeitstress.



Wie ein erfülltes Leben auch anders aussehen könnte, zeigen die BewohnerInnen von Ikaria, einer kleinen griechischen Insel im Mittelmeer. Auf Ikaria wurden im griechischen Bürgerkrieg (1946 bis 1949) die SympathisantInnen der Linken verbannt, u. a. auch der Komponist Mikis Theodorakis, der später sogar Minister wurde. Entgegen der Anweisung der Regierung versorgten die IkariotInnen die Verbannten, weshalb die Insel kein Geld von Athen erhielt und dadurch von der touristischen Entwicklung weitgehend verschont blieb.
In der Regel werden die Ikarioten zehn Jahre älter als die übrigen Europäer und Amerikaner. Sie haben seltener Krebs oder Herzinfarkte und auch weniger Depressionen – dafür Sex bis ins hohe Alter. In den letzten Jahren gab es zahlreiche Studien, die sich für diese Besonderheit interessierten. Die meisten erforschten die Essgewohnheiten – die sich aber kaum von denjenigen anderer griechischer Inseln unterschieden. Viel plausibler scheint dagegen die Lebenshaltung dieser Menschen zu sein: Besuch ist wichtiger als Arbeit. Es gibt kein Konzept von Arbeitszeit und Freizeit; man verrichtet die nötige Arbeit, kümmert sich aber nicht darum, wann sie fertig ist. So ist es auf Ikaria durchaus üblich, zu einer Verabredung erst ein paar Stunden später aufzutauchen. Da sich niemand an einen Zeitplan hält, kommt auch kein Stress auf. «Wer ein langes Leben führen will, muss eine Arbeit tun, die Spass macht, und keinen Chef haben» – so die einhellige Meinung der BewohnerInnen.


Nach der eingangs erwähnten deutschen Studie würden die BewohnerInnen von Ikaria wahrscheinlich ebenfalls schlecht abschneiden. Für unsere Konsumgesellschaft haben sie einen geringen Nutzwert. Allerdings würden sie ihr Leben im Rückblick wohl kaum bereuen – im Gegensatz zu vielen anderen in unserer Gesellschaft. An ihrem Lebensende bedauern diese Menschen vor allem, zu viel gearbeitet und nicht den Mut gefunden zu haben, ihr eigenes Leben zu leben!

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Mehr zum Thema finden Sie im Heft 135 Musse und Müssen
20. Februar 2015
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