«Niemand wird als Krimineller geboren»
Wie ich Kriminelle von jeder Schuld freisprach und wie mir mitten in einer Sommernacht der Schweinegeruch in die Nase stach. Aus der Serie «Als ich mich in die Welt verliebte. Chronik einer Leidenschaft» von Nicolas Lindt #45.
«Gestern, am Samstagnachmittag», schrieb ich am 2. Juli ins Tagebuch, «habe ich mich geschlagene sieben Stunden mit Mathematik befasst. Heute jedoch, einen Tag vor der ersten Maturprüfung, liess ich den Stoff links liegen und befasste mich stattdessen den halben Tag lang mit dem Thema Nordirland. Das ist viel wichtiger als die Mathematikprüfung.»
Mein Eintrag ins Tagebuch, am Vortag vor der schriftlichen Mathematur, klang vielleicht etwas zu salopp. Das Herunterspielen der gefürchteten Prüfung diente auch ihrer Entschärfung. Denn ich wusste: Wenn ich die Matur nicht bestand, dann wegen meiner Matheverweigerungshaltung, deren drohende Konsequenzen ich bis zuletzt leichtfertig abgetan hatte.
Einen Tag später lag die Prüfung schon hinter mir. Im Tagebuch notierte ich knapp und traumtänzerisch: «Es war ein Spass: zwischen zwei und drei.» Zwischen 2 und 3 bedeutete Zweieinhalb. Schon im Winterzeugnis hatte ich eine 2,5 kassiert. 2,5 als Schlussnote reichte nicht. Was ich brauchte, war eine 3. Nun konnten mich nur das Sommerzeugnis und die mündliche Prüfung retten, die nach den Ferien angesagt war. Ich flüchtete mich in meine notorische Zuversicht und sah mich in ihr bestätigt durch das generell gute Gefühl nach den Prüfungen an den folgenden Tagen. Auf den Deutschaufsatz hatte ich mich sogar richtig gefreut.
Unser Deutschlehrer legte uns folgende Aussage vor: Kriminalität ist eine Art von sozialem Protest. Wir hatten vier Stunden Zeit, aber nach drei Stunden gab ich den Aufsatz schon ab. Ich hatte nicht lange nachdenken müssen.
«Niemand», legte ich los, «wird als Krimineller geboren. Niemand hat eine «kriminelle Veranlagung». Denn der Mensch ist hauptsächlich ein Produkt seiner Erziehung und seiner Umwelt. Er ist ein Produkt der Gesellschaft, in der er lebt.»
Heute würde ich mir widersprechen. Heute bin ich der Meinung, dass ein Mensch nicht als unbeschriebenes Blatt zur Welt kommt. Heute bin ich davon überzeugt, dass jeder Mensch eine Lebensaufgabe, ein Schicksal mit auf die Welt bringt und deshalb für sein Handeln eine Verantwortung trägt. Doch damals, vor 50 Jahren, begann gerade die Zeit, als die Eigenverantwortung ausser Mode geriet. Der einzelne Mensch war auf einmal entschuldigt. Er wurde politisch freigesprochen. Für das aufstrebende 68er-Denken, das seinen intellektuellen Siegeszug antrat, gab es nur die gesellschaftliche Verantwortung. Die Leistungsgesellschaft war schuld. Der Kapitalismus war schuld.
Das fanden alle, die damals jung und politisch interessiert waren. Das fand auch ich. Und ganz besonders richtete sich meine Kritik gegen den herrschenden Strafvollzug. Gegen das Gefangenhalten von Menschen. In der Schule fühlte auch ich mich gefangen. Jede Form von Gefängnis war mir deshalb zuwider, und ich erklärte in meinem Aufsatz, was ein halbes Jahrhundert später noch immer so ist: Dass Kriminalität durch Freiheitsentzug nicht verhindert, sondern erzeugt wird.
«Der Kriminelle wird der Gesellschaft entzogen und kommt in die Isolation, zusammen mit anderen Menschen, die genauso gescheitert sind. So macht der Aufenthalt im Gefängnis alles noch schlimmer: Wird der Kriminelle entlassen, muss er seine aufgestauten Rachegefühle entladen – was sich in neuen Verbrechen äussert.»
«So gesehen», kam ich zum Schluss, «ist Kriminalität ganz sicher eine Form von Protest. Mit seiner Tat protestiert der Kriminelle gegen eine Gesellschaft, die nicht beim Aufstehen hilft, sondern fallen lässt und verurteilt.»
Das wäre ein schöner Schlusssatz gewesen, doch er genügte mir nicht. Während des Schreibens hatte ich mich vom Maturanden zum Aktivisten gesteigert: «Die Gesellschaft muss einsehen», so rief ich aus, «dass sie selbst an der Situation des Kriminellen schuld ist – und die Verantwortung hat, ihm zu helfen. Die Revolution des Strafvollzuges muss durchgeführt werden.»
Der Deutschlehrer verzieh mir den Schlachtruf im letzten Satz. Er liess ihn auch deshalb gelten, weil er selber hinter der Aussage stand, dass Kriminalität eine Form von Protest sei. Was ich geschrieben hatte, entsprach auch seiner eigenen Weltanschauung. Nicht zuletzt deshalb gab er mir eine 6 für den Aufsatz. Aber hätte ich auch mit der Bestnote rechnen können, wenn ich auf das gestellte Thema anders geantwortet hätte? Wenn ich zur Erkenntnis gekommen wäre, Kriminalität sei kein Protest, sondern eine Form von Verzweiflung? Ein Ausdruck von Selbsthass? Eine Verirrung des Schicksals?
Auch die andere Frage, die sich nach dem Lesen des Aufsatzes stellt, liess ich unbeantwortet: Was soll denn mit Mördern und Räubern geschehen, wenn man sie nicht mehr einsperren will? Etwas mehr Realitätsbezug hätte dem Aufsatz durchaus nicht geschadet. Aber als junger idealistischer Mensch muss man nicht realistisch sein. Man darf träumen – und der Traum einer Welt ohne Gitterstäbe wird vielleicht eines Tages doch Wirklichkeit.
*
«Die schriftlichen Prüfungen sind geschafft», schrieb ich erleichtert ins Tagebuch, «ich freue mich auf die Reise nach Irland!» Es war Freitag, die Sommerferien begannen, aber noch vor dem Abflug am Montag wollte unsere Klasse die hinter uns liegende Prüfungszeit ausgiebig feiern. Oberhalb des Zürichsees hatten wir eine Scheune gemietet, und einige meiner Klassenkollegen bereiteten alles vor. Alex, der Sohn eines Autoverkäufers, konnte schon Autofahren, und mit dem vom Vater geliehenen Pickup transportierte er den Grill und die Würste und was sonst noch zum Essen gehörte zur gemieteten Scheune. Vor allem aber fuhr er den Alkohol auf den Berg hinauf. Der Alkohol war für meine Kameraden gewissermassen der Sinn des Ganzen. Endlich, so fanden sie, konnten wir trinken und feiern, bis sich die Balken bogen.
Ein paar Brave und Streber blieben zu Hause, aber alle anderen waren dabei, und auch ich hatte Lust auf die Party, obwohl mein Hauptinteresse nicht das Saufen war. Mit einer einzigen Ausnahme, jenem Besäufnis während der Arbeitswoche – das ich in einem früheren Kapitel erwähnt und auch literarisch verewigt habe – war ich noch nie betrunken gewesen. Aber auch ich befand mich, vom Druck der Matura vorerst befreit, in einer enthemmten Stimmung, die sich keine Zügel mehr anlegen wollte.
Es kam, wie es kommen musste. Das Bier und der Wein flossen in Strömen, und wir flossen mit. Wir waren noch immer zu jung, um zu merken, wann es genug ist. Wir tranken – etwas voreilig noch - auf das Ende der Schulzeit, aufs echte Leben, das wir nicht kannten, und auf unsere Kameradschaft, die uns dank der Prozente in unserem Blut viel unzertrennlicher vorkam, als sie es je gewesen war.
Einer der Kameraden – einer mit guten Connections – hatte noch etwas mitgebracht. Etwas zum Rauchen, und ich meine damit nicht die Zigaretten, deren weggeworfene Kippen überall auf dem Boden lagen, wie das damals so üblich war. Ich meine Rauschgift. Mitten im Trinkgelage – inzwischen war es schon Mitternacht – wurden die ersten Joints in die Runde gereicht, und auch ich, obwohl ich nicht rauchte, nahm einen Zug. Einen zweiten. Und einen dritten. Dann weiss ich nichts mehr.
Es war eine warme Sommernacht, wir hatten alle draussen gesessen, und als ich erwachte, war es immer noch Nacht. Ich lag auf der Wiese neben der Scheune, über mir spannte sich das unendliche Sternenzelt. Alles war still, nur ein Feuer flackerte noch ein wenig – und mir war schlecht. Kotzelend. Die Übelkeit würgte mich. Und sie würgte mich noch viel mehr, als ich merkte, was für ein Geruch meine Nase erfüllte. Der Geruch eines Schweinestalls. Er befand sich ganz in der Nähe, und ich werde das nie vergessen: Wie ich da lag, berauscht und betrunken zugleich, kaum in der Lage, mich aufzurichten, das Würgen im Hals, der Blick in den nächtlichen Sternenhimmel – und vor allem dieser Geruch. Jedes Mal, wenn ich seither an einem Schweinestall vorbeikomme, sticht er mir in die Nase – der Geruch jener Sommernacht 1972, als ich Verrat an meinen eigenen Grundsätzen übte.
Am folgenden Tag, einigermassen wieder bei Sinnen, schrieb ich ins Tagebuch: «Nach meinem Absturz mit meiner Klasse gestern Abend schwöre ich mir: Nie mehr. Nie mehr will ich mich derart verlieren.»
Fortsetzung folgt am 2. April …
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