Die Brille, die dich kennt

Die Gesichtserkennung ist das Ende der Privatsphäre. Auch wer ohne Handy unterwegs, kann erkannt und lokalisiert werden. Grossflächige Tests sind angelaufen.

Blick durch die Microsoft Hololens, die von Cubera mit Gesichtserkennungssoftware ergänzt wurde. (Bild: Florian Wüstholz)

Im Westen Chinas wird in Xinjiang an der orwellschen Hölle getüftelt. Unzählige Kameras erkennen dort Passantinnen an ihrem Gesicht oder Gang. Wer sich auffällig verhält oder auf einer Fahndungsliste steht, wird automatische identifiziert. Auch in Europa hält diese neue Form der Massenüberwachung Einzug. So wurden 2017 in Cardiff am Champions League Finale alle Fans per Gesichtserkennung automatisch mit einer Liste von 500 000 verdächtigen Personen abgeglichen. Selbstverständlich im Namen der Sicherheit.

Kein Wunder, ist der Markt für Gesichtserkennungssoftware riesig. Die Systeme sind längst ausgereift und einsatzbereit. So bietet die deutsche Firma Cognitec bereits seit 2013 die Software «FaceVACS» an, die nun von der Hamburger Polizei für die Durchforstung von Videomaterial der G20-Proteste verwendet wird. Bei der Polizei lautet das Ziel: Möglichst viele der 5000 mutmasslichen Straftäter zu «kriegen».

Die Sache mit der Transparenz
Die Systeme bestehen gewöhnlich aus zwei Stufen. Ein erster Schritt erkennt, ob und wo ein Gesicht vorhanden ist. Der Bildausschnitt kann dann weiterverwendet werden, um das Gesicht mit einer Datenbank von gesuchten Personen zu vergleichen. Aber auch, um die gleiche Person auf anderen Videos wiederzufinden. Die lückenlose Überwachung ist so problemlos möglich.
Martin Steiger, Anwalt für Recht im digitalen Raum, weiss darum auch: «Technisch ist die Sache im Wesentlichen gelöst.» Staatliche Massenüberwachung per Gesichtserkennung sei ein schwerwiegender Eingriff in unsere Grundrechte. Gerade deshalb müsse die Verhältnismässigkeit geklärt und diskutiert werden. Doch das funktioniere nur, wenn Informationen über die Funktionsweise und Wirksamkeit der Software vorhanden seien. Dabei stellt er fest, dass «der gleiche Staat, der Private zur Transparenz zwingt, selbst nicht transparent ist. Das verhindert die notwendige Diskussion».

Noch keine gesetzliche Regelung
In der Schweiz verwenden die grossen Polizeikorps gemäss Auskünften keine systematische Gesichtserkennung. Zudem verweisen sie auf entsprechende Gesetzesgrundlagen. Das Problem: Gesichtserkennung ist nicht spezifisch reguliert. Das bestätigt auch Steiger: «Im Moment kenne ich keine speziellen Rechtsgrundlagen für Gesichtserkennung. Es ist klar, dass man unter bestimmten Bedingungen mit Kameras überwachen darf und ich gehe davon aus, dass man dabei auch Gesichtserkennung anwenden darf.»
Ein wenig Transparenz schafft die neue automatisierte Passkontrolle am Flughafen Zürich. Medienwirksam wurde sie im letzten Herbst vorgestellt und die Akzeptanz ist gross. Vielleicht auch deshalb, weil es sich um ein abgeschlossenes System handelt. Stefan Oberlin von der Kantonspolizei Zürich erklärt, dass keine Daten gespeichert würden. Nach der Kontrolle «vergisst das System die Person».

In die erweiterte Welt eintauchen
Interessant wird Gesichtserkennung in Kombination mit mit Augmented-Reality-Technologien wie der Hololens-Brille von Microsoft. Mit einer umfassenden Datenbank ausgerüstet, lassen sich damit im Vorbeigehen unauffällig Menschen auf der Strasse erkennen. Das bewies die Schweizer IT-Firma Cubera bei einem Experiment im Nationalrat. Ein Blick ins Gesicht des Gegenübers reichte und die gespeicherten Informationen wurden angezeigt.
Die Funktionsweise basiert auf öffentlich zugänglichen Diensten – erforderte aber einiges Tüfteln, um die verschiedenen Programme zu einem flüssigen Gesamtsystem zu kombinieren. Entwickler Dominik Brumm erklärt aber, dass dies mit dem nötigen Wissen jeder Person gelingen würde. Nun erkennt eine in der Brille eingebaute Kamera in einem ersten Schritt, ob sich im Blickfeld ein Gesicht befindet. Der erkannte Bildausschnitt wird dann mit einer in der Cloud angelegten Datenbank abgeglichen. Gibt es einen Treffer, wird der entsprechende Eintrag für die Benutzerin neben dem Gesicht auf die Brille projiziert.
Öffentlich zugängliche Datenbanken mit Gesichtsprofilen gibt es glücklicherweise noch nicht. Cubera erstellt jeweils manuell ihre eigenen Datenbanken, wenn Firmen ihre Technologie an Events verwenden möchte. Doch weltweit gibt es unzählige Datenbanken, die für Gesichtserkennung angezapft werden könnten. In der Schweiz ist das vor allem die Ausweisdatenbank mit den biometrischen Daten von 4.7 Millionen Schweizern. Der weltweit grösste Goldschatz liegt wahrscheinlich bei Facebook, wo über 2 Milliarden Profile vorhanden sind.

Die Privatsphäre bröckelt
Solche riesigen Datenbanken sind ein gewaltiges Problem. So zeigt die kürzlich aufgedeckte Vorgehensweise von Cambridge Analytica einmal mehr, dass Private wie Facebook mit den Daten ihrer Benutzer nicht besonders sorgsam umgehen.
Was bei Cubera als Jux begann, zeigt das erschreckende Potential neuer Technologien. «Wir möchten zum Denken anregen», sagt Brumm und erklärt, dass die Skepsis in der Schweiz noch sehr gross sei. Namhafte Firmen möchten sich nicht die Finger verbrennen.
In der Schweiz zerbröckelt die Privatsphäre. Seit März 2018 ist das revidierte BÜPF mit seiner obligatorischen Vorratsdatenspeicherung in Kraft. Dabei können Handys und ihre Benutzerinnen Schritt für Schritt verfolgt werden. Auch die Kabelaufklärung, die der Nachrichtendienst grossflächig einsetzen darf, erodiert die Grundrechte. Steiger meint entsprechend: «Wir entfernen uns immer mehr vom traditionellen Rechtsstaat und der Unschuldsvermutung.» Damit das Beispiel Xinjiang nicht in der Schweiz Schule macht, braucht es dringend politisches und gesellschaftliches Gegensteuer. Doch eine grossflächige Bewegung ist noch nicht in Sicht.  

Links:
https://www.digitale-gesellschaft.ch
https://bigbrotherwatch.org.uk
https://netzpolitik.gruene.ch