Nach Zufriedenheit oder nach Glück streben?

Zufriedenheit – oder das Wissen, dass die Dinge genau so in Ordnung sind, wie sie jetzt sind – wird von vielen Kulturen hochgeschätzt.

/ zvg

Es war im Jahr 2014, und mein Forschungsteam untersuchte eine abgelegene Gruppe ehemaliger Nomaden hoch im Himalaya in Ostbhutan. Dies war ein Ort, den noch nie ein Außenstehender zuvor bereist hatte. Wir standen kurz vor der ersten Begegnung mit einem der drei letzten unkontaktierten Dörfer auf der Erde. Wir reisten durch den Dschungel, wanderten einen Berg hinunter, durchwateten einen Fluss und wanderten dann einen weiteren Berg hinauf zu einer kleinen Siedlung mit etwa 200 Familien. Familien, die dort seit wer weiß wann gelebt hatten.

Mit einer einzigen Akkuaufladung unseres Laptops führten wir das letzte Stück einer fünfjährigen Studie durch, um die menschlichen Gefühle zu identifizieren, die kulturübergreifend universell sind. Wir brachten eine lange Liste potenziell universeller Emotionen mit, von Scham über Freude bis hin zu Verlegenheit. Wir wollten sehen, ob sie von Menschen erkannt werden können, die keine Erfahrung mit der Außenwelt hatten. Das bedeutet: kein Strom, kein Internet, keine Handys, keine gedruckten Medien – nichts.

Es war unglaublich: Als wir den Dorfbewohnern Dutzende von Gesichts- und Stimmausdrücken zeigten, erkannten sie die meisten Emotionen mit relativ hoher Genauigkeit. Aber es gab eine Emotion, wo es anders verlief. Die Emotion war Zufriedenheit

Bereits während wir unsere Studie übersetzten, hielt unser Führer Dorji Wangchuk für einen Moment inne, als wir das Wort Zufriedenheit erreichten. Er sagte: "In unserer Kultur ist diese Emotion etwas ganz Besonderes. Sie ist die höchste Errungenschaft des menschlichen Wohlergehens. Und es ist das, worüber die größten erleuchteten Meister seit Tausenden von Jahren schreiben."

Ich bat ihn um eine Übersetzung. Wangchuk antwortete: "Es ist schwierig, es genau zu übersetzen. Aber das naheliegendste Wort ist wohl chokkshay, was ein sehr tiefes und spirituelles Wort ist, das 'das Wissen von Genügsamkeit' bedeutet. Es bedeutet im Grunde genommen, dass genau hier, genau jetzt, alles perfekt ist, so wie es ist, unabhängig davon, was Sie draußen erfahren.

Das war der Moment, wo ich mich fühlte, als ob bei mir ein Blitz eingeschlagen wäre. Ich empfand Schüttelfrost am ganzen Körper. Mir wurde klar, dass ganz egal, wohin ich auf dem Planeten Erde gegangen war, alle Kulturen, mit denen ich interagierte, verehrten die Zufriedenheit als einen der höchsten Zustände, die es im Leben zu kultivieren gilt. Doch im Westen sind wir vom Glück besessen – und fühlen uns ängstlicher, deprimierter und gestresster. Ich beschloss nachzuforschen, was für uralte Geheimnisse enthüllt werden können, wenn man mit einer wissenschaftlichen Studie dem am meisten unterschätzten Gefühls der Geschichte nachgeht: der Zufriedenheit.

Ich begann mit den Untersuchungen, nachdem ich an der Yale University eingestellt worden war. Mein neues Forschungsteam tauchte in über 5000 Jahre Philosophie des Menschen und 200 Jahre wissenschaftliche Forschung über die Natur des Verstandes ein. Schließlich kristallisierten sich zwei verschiedene Strategien heraus, die die Menschen seit Tausenden von Jahren anwenden, um irgendeine Form des Wohlbefindens zu erlangen.

Die Mehr-Strategie kostet eine Menge Zeit, Energie und Ressourcen, um sie aufrechtzuerhalten.

Die erste ist die "Mehr Strategie", bei der die Menschen versuchen, mehr Geld, mehr Macht, mehr Zeug, mehr Bestätigung und mehr Erfolg von der Welt außerhalb ihrer selbst zu finden. Wenn ich Ihnen jetzt 1000 Dollar anbieten würde, wären Sie sicher sehr glücklich. Es ist in Ordnung, es zuzugeben – ich wäre auch glücklich. Das einzige Problem ist die nächste Frage: Wie lange dauert das Glück an? Sobald Sie das Geld in die Tasche gesteckt haben, beginnt das Glück nachzulassen, und schon bald werden Sie einen weiteren Erfolg brauchen. Es ist zwar nichts Falsches daran, das Wohlbefinden vorübergehend zu steigern, aber das Problem mit der Mehr-Strategie ist, dass sie einfach nicht nachhaltig ist.

Wenn Sie die unendlichen Seiten von Amazon.com durchstöbern, finden Sie über 20´000 Selbsthilfebücher mit dem Wort "Glück" im Titel. Jedes von ihnen verspricht eine bessere, positivere Zukunft durch Übungen und Methoden, die das beliebteste Gefühl der Welt hervorrufen. Das Glück hat etwas, das alle in seinen Bann gezogen hat, aber gleichzeitig scheinen nur wenige es tatsächlich zu finden.

Und nun zur zweiten Strategie: Eine Strategie, die es wert ist, sie gründlich zu untersuchen. Es ist die "Genug-Strategie", bei der die Menschen ihre Aufmerksamkeit nach innen richten, um das Glück zu finden, das bereits in ihnen steckt. Während wir durch Tausende von Jahren alter Weisheitstraditionen stöberten, stellten mein Team und ich schockiert fest, dass die Alten fast nie das Wort Glück verwendeten, wenn sie darüber sprachen, was es bedeutet gesund zu sein. Mehr als 90 Prozent der Zeit benutzten sie das Wort Zufriedenheit und beschrieben es als einen Zustand "bedingungsloser Ganzheit", unabhängig davon was äußerlich geschieht.

Die Wurzel des Wortes Zufriedenheit stammt aus dem Lateinischen contentus, was "zusammengehalten" oder "intakt, ganz" bedeutet. Ursprünglich wurde contentus zur Beschreibung von Behältern verwendet, von Dingen wie Tassen, Eimern und Fässern. Später entwickelte sich das Wort zu etwas, das eine Person beschreibt, die sich vollständig fühlt und keine Wünsche außerhalb ihrer selbst hat. Contentus stellt die Frage: "Wie vollständig fühlen Sie sich innerlich? Wie vollständig sind Sie als Mensch?"

Mit dieser zweiten Strategie verschiebt sich im Grunde genommen die Perspektive respektive die gesamte Geschichte der Menschheit von der Suche nach etwas Größerem. Alle anderen Emotionen erfordern einen Input von Außen. Sie sind Reaktionen auf die Außenwelt. Zufriedenheit hingegen erfordert keinen Input von Außen und wird vollständig aus dem Inneren gespeist. Anstatt nach äußeren Quellen für das Glück zu suchen – die immer außerhalb unserer Kontrolle liegen werden –, bietet Zufriedenheit eine unglaubliche Kraft und Stabilität.

Zufriedenheit entsteht aus unserer Beziehung zu dem, was um uns herum passiert, und nicht aus unserer Reaktion darauf.

Tatsächlich können wir Zufriedenheit sogar dann empfinden, wenn unsere äußere Umgebung völlig verrückt ist. Denken Sie an die unerschütterliche Ruhe eines Formel-1-Piloten, der mit 180 Meilen pro Stunde in die Kurve fährt, oder an das Gefühl der Ganzheit, wenn die Familie zusammen am Esstisch sitzt, selbst wenn die Kinder wieder streiten. Zufriedenheit ist die friedliche Erkenntnis, dass wir ganz und vollständig sind, so wie wir sind, trotz der Wut, der Traurigkeit, der Freude, der Frustration und der Aufregung, die von Zeit zu Zeit ein- und ausgehen können.

Wie man Zufriedenheit pflegt

Anstatt nach vorübergehendem Glück zu streben, können wir uns in einem nachhaltigen Gefühl der Zufriedenheit niederlassen. Eines, das uns niemand nehmen kann und das uns auch niemand geben kann. Die Zufriedenheit ist bereits in uns, und es braucht nur ein wenig Übung, um sie selbst zu erfahren.

Es gibt viele großartige Praktiken, die einem helfen, Zufriedenheit zu pflegen und fördern, und sie sind alle überraschend einfach. Sie sind durch Hunderte von wissenschaftlichen Studien belegt und sie erfordern keine außerordentliche Ausrüstung. Diese Strategien sind sehr nachhaltig. Sie müssen sich lediglich ein wenig Zeit während des Tages nehmen, um dann etwas Frieden und Ruhe zu finden.


1. Üben Sie Achtsamkeit

Der erste Punkt wird Sie wohl nicht überraschen. Denn alle, von Ärzten über Sportler bis hin zu Oprah, haben dies in den letzten Jahrzehnten bejaht und empfohlen. Achtsamkeit ist das Kultivieren der bewussten Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment. Ohne die Erfahrungen, die man dabei macht, als gut oder schlecht zu bewerten. Es ist eine der am besten erforschten Methoden, um den Körper zu beruhigen und den manischen Wirbelsturm des Verstandes zu überwinden. Es gibt buchstäblich Tausende von Websites, Videos und Apps, von welchen Sie lernen können, wie man Achtsamkeit praktiziert. Etwa aufmerksames Atmen.


2. Ermitteln Sie die Bedingungen für Ihr Wohlbefinden

Eine Wohlfühlmöglichkeiten sind externe Faktoren, von denen Sie glauben, dass sie erforderlich sind, damit Sie sich als Mensch vollständig fühlen können. Einige übliche Wohlfühlermittlungen sind:

  • Wenn ich x Dollar auf meinem Bankkonto habe, dann werde ich glücklich sein.
     
  • Wenn ich bei der Arbeit ein … erreiche, dann werde ich mich bei meiner Arbeit endlich wohl fühlen.
     
  • Wenn X mir die Bestätigung gibt, die ich suche, dann werde ich zufrieden sein.
     
  • Wenn ich x materielle Gegenstände kaufe, dann werde ich gut zurechtkommen.
     
  • Wenn ich x Jahre alt bin, dann kann ich mich zur Ruhe setzen und endlich das Leben genießen.
     
  • Wenn meine Kinder … erreichen, dann werde ich wissen, dass ich ein erfolgreicher Elternteil war.


Es ist zwar in Ordnung, Ziele zu haben. Aber ungesunde Bindungen an Wohlfühlbedingungen können problematisch sein. Weil sie Abhängigkeiten schaffen, die sich Ihrer Kontrolle entziehen. Sie bestärken auch die Vorstellung, dass es im Moment nicht in Ordnung ist und dass Selbstliebe und Akzeptanz bis später warten müssen.

Wie wohl jeder Mensch haben Sie einige dieser Wohlfühlbedingungen in der Hintergrundprogrammierung Ihres Unterbewusstseins am Laufen. Nehmen Sie sich etwas Zeit, um darüber nachzudenken und um sie festzuhalten. Behalten Sie diejenigen, die Ihnen gefallen, und denken Sie intensiv über die anderen nach, die Sie von Ihrem idealen Leben abhalten.

Fragen Sie sich, wie Sie beginnen können, sich jetzt vollständig zu fühlen und selbst bedingungslos zu akzeptieren. Anstatt jahrelang darauf zu warten, dass diese Wohlfühlbedingungen erfüllt werden – wenn sie überhaupt jemals erfüllt werden. Das wird Sie in die Lage versetzen, die Verantwortung für Ihr persönliches Wohlergehen zu übernehmen, anstatt es anderen Menschen und Faktoren zu überlassen, die sich Ihrer Kontrolle weitgehend entziehen.


3. Akzeptieren Sie radikal alle Emotionen

Das ist eine harte Praxis, und es wird Ihnen wahrscheinlich zunächst nicht gefallen. Stellen Sie sich eine Welt vor, in der jede Emotion, die Sie erleben, kommt und geht wie eine Welle auf dem Ozean. Wie ein Besucher, der eine Weile bleibt und sanft wieder geht, wenn er bereit ist. Es gibt nur sehr wenige Garantien im Leben, aber eine, die ich mit absoluter Sicherheit geben kann, ist, dass sich das, was Sie jetzt fühlen, bald ändern wird. Emotionen haben eine Lebensspanne. Sie haben einen Auslöser, sie steigen bis zu ihrem Höhepunkt und dann laufen sie aus, bevor sie durch eine neue Emotion ersetzt werden. Das ist ein Teil dessen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.

Das erscheint alles gut und schön. Das Problem entsteht, wenn wir anfangen, ungesunde Beziehungen zu unseren Emotionen herzustellen. So gibt es einige Emotionen, die wir so sehr mögen, dass wir sie mit einem starren Todesgriff festhalten. Emotionen wie Glück, Freude, Hochgefühl, Gelassenheit und andere wirklich angenehme Gefühle. Dagegen gibt es andere Emotionen, die wir so sehr verachten, dass wir sie am liebsten nie wieder fühlen möchten, solange wir leben. Emotionen wie Scham, Traurigkeit, Verzweiflung, Verlegenheit, Wut und andere wirklich unangenehme Gefühle.

Welche Emotionen möchten Sie immer fühlen? Welche möchten Sie lieber nie fühlen? Es stellt sich heraus, dass am Ende des Tages alle Emotionen da sind, um uns zu orientieren und um wertvolle Informationen über die Welt um uns herum zu liefern. Was wäre, wenn Sie alle Gefühle kommen und gehen lassen würden, ohne sie ändern zu müssen?

Diese radikale Würdigung aller unserer Erlebnisse ist ein Eckpfeiler der Zufriedenheit. Der Idee, dass hier und jetzt alles in Ordnung ist, so wie es ist. Ja, das bedeutet, dass wir mit unserer Traurigkeit, mit unserem Ärger, mit unserer Scham zufrieden sein können. Wir können mit unserer Freude, unserem Frieden und unserem Glücksgefühl zufrieden sein – und mit allem, was dazwischen liegt.


Zufriedenheit ist die grundlegende Akzeptanz dessen, was es bedeutet, Mensch zu sein: eine bedingungslose Liebe zu allen Lebenserfahrungen, ohne dass wir mehr brauchen als das, was hier und jetzt ist. Wenn wir lernen, dies regelmäßig in unser Leben zu integrieren, können wir anfangen zu verstehen, was die Alten meinten mit dem Wissen über Genügsamkeit und vom wahren Glück.


Daniel Cordaro ist Gründer und CEO der Contentment Foundation, einer gemeinnützigen Organisation, die sich für das geistige Wohlbefinden von Schülern auf der ganzen Welt einsetzt.

Kommentare

Zufriedenheit, Glück, oder Sicherheit

von Phil
guter Artikel. Ich denke, in der Deutschen Sprache können Zufriedenheit und Glück als synonyme Ausdrücke verwendet werden. Welche Worte im Original des Textes (vermutlich Englisch) verwendet wurden weiss ich nicht. Was jedoch eher selten auftaucht, sei es in alten Schriften oder in neueren Texten, ist das Verhältnis von Glück und Sicherheit. In der Psychologie und Verhaltensforschung ist es bekannt, dass der Mensch Sicherheit dem Glück vorzieht. Das macht auch Sinn, denn Glück ist immer auch mit Risiko verbunden. Sicherheit hingegen ist per Definition mit minimalem Risiko behaftet, also wird Sicherheit bevorzugt. Es gibt aber auch eine irrationale Haltung, die Glück bevorzugt. Ich selber gehöre zu dieser Gruppe. Das Leben ist dann nicht so sicher, nicht so vorhersehbar, aber man erlebt derart phantastische Sachen, dass es das Risiko wert ist. Sicherheit hat ja nicht nur mit Vernunft und Vorsicht zu tun, sondern meiner Meinung nach vor allem mit Vertrauen. Wer der "Welt", und vor allem sich selber vertraut, möglichst jeden Schritt mit Achtsamkeit ausführt, ist ja auch in Sicherheit. Eine aus sich selbst geschöpfte Sicherheit, gepaart mit dem Urvertrauen in eine höhere Barmherzigkeit. Eine vollständige Zufriedenheit ist ein Glückszustand, der lange anhalten kann, ja sogar fast unbezwingbar ist. Die Gewissheit, dass die Welt genau so ist, wie sie sein soll, dass alle Wünsche jedes Menschen vom Universum erfüllt werden, erlöst einem auch von der Pflicht, die Welt verbessern oder gar retten zu müssen. Aus höherer Warte aus gesehen ist eben die Welt genauso wie sie sein soll. Aus individueller Sicht ist die Welt ungerecht, schmerzhaft und grausam. Das ist auch völlig in Ordnung, wenn man das aus der "Bodenperspektive" so sieht und sich jeden Tag Sorgen macht. Das ist normal. Mit Schritten der Achtsamkeit kann man das Leid bei sich und um sich herum vermindern, und mit mehr und mehr Übung immer öfter die Vogelperspektive einnehmen, und das Wagnis der Glücklichkeit eingehen.