Non forgiving society

Ob Hartz IV, staatliche Verbotswut oder immer weiter gehende Einschränkung der Bürgerrechte – Politik zeigt sich in unseren Tagen im wahrsten Sinne des Wortes „gnadenlos gut“. (Von Roland Rottenfußer)

In der Kategorie „Englische Fremdwörter, die uns gerade noch gefehlt haben“ stieß ich vor kurzem auf einen faszinierenden Neuzugang: „Non forgiving design“ hieß das Wort-Ungetüm, das ich in einem Buch über Autos vorfand. Wenn „design“ so viel bedeutet wie „Gestaltung, Entwurf, Formgebung“, dann ist „Non forgiving design“ also die „nicht vergebende Formgebung“. Wie kommt ein Design dazu, uns die Vergebung zu verweigern? Laut Auto-Experte Tom Levine handelt es sich dabei um einen Fachbegriff, der bei der Gestaltung der Inneneinrichtung von Luxusklasse-Wagen angewandt wird: „Ein Design, das keine Qualitätsmängel zulässt. Sitzt ein einziger Schalter auch nur um Millimeterbruchteile schief, dann sieht die ganze Leiste plötzlich schäbig aus. Es muss also klappen.“



Von „No Mercy“ bis „Zero Tolerance“



An diesem Begriff aus der Autohersteller-Sprache wäre an und für sich nichts einzuwenden, wenn er nicht ein Symptom wäre für etwas viel Umfassenderes. Vergebung, jener ursprünglich einer religiösen Terminologie entstammende menschliche Wert, ist ein seltenes Gut geworden. Wir befinden uns auf dem Weg in eine „Non forgiving society“. Was gestern noch erlaubt war, also als zwar nicht erwünschte, aber verzeihliche Sünde galt, wird in unserer Verbots-Demokratie zunehmend streng geahndet. Das reicht von Handy-Benutzung auf dem Schulhof, Rauchen in Gaststätten und Alkoholgenuss bei Jugendlichen über das Mitführen kleiner Fläschchen mit Flüssigkeit in Flugzeugen bis hin zu Baller-Videospielen und dem Besitz einiger keineswegs immer beißwütiger Hunderassen.



„No Mercy“ heißt eine 1996 gegründete, noch immer erfolgreiche Popgruppe. Als „Richter Gnadenlos“ feierte Ronald Schill in Hamburg zunächst einen furiosen Wahlerfolg. Und „Erbarmungslos“ war der Titel eines Oscar-gekrönten Filmerfolgs mit Clint Eastwood. Die New Yorker Polizei versuchte seit den 90er-Jahren mit dem Slogan „Zero Tolarance“ gegen Graffiti-Künstler und Schwarzfahrer vorzugehen. „No Mercy“ gab es auch für den RAF-Terroristen Christian Klar, dessen Begnadigung Bundespräsident Köhler – vielleicht auch mit Rücksicht auf die Law and Order-Mentalität der veröffentlichten Meinung – verweigerte. Kein Zweifel: Gnadenlosigkeit boomt. „Gnadenlos gut“ ist zur stehenden Redewendung geworden. Gemeint ist damit nichts anderes als „sehr gut“, das Fehlen von Gnade ersetzt also den grammatikalischen Superlativ.



„Härter, enger, strenger“



Noch verräterischer ist die Formulierung „gnadenlos billig“, die unter Google 198.000mal im Internet zu finden ist, meist in Form ernst gemeinter Produktwerbung. Wer seine Produkte außergewöhnlich billig anbietet, der muss in der Tat eine gewisse Gnadenlosigkeit mitbringen – für seine Lieferanten, die er im Einkaufspreis bis an die Schmerzgrenze drückt. So überrascht es nicht, dass ausgerechnet der Turnschuhriese Nike in seiner neuesten Werbekampagne allen Ernstes mit dem Slogan „Wer Mitgefühl will, muss woanders suchen“ wirbt. „No Mercy“ ist mehr als nur ein saisonaler Modeslogan, es ist der Schlachtruf der dominierenden geistigen Strömung unserer Epoche, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Gnade und Mitgefühl aus ihren letzten kulturellen Reservoirs zu vertreiben. Seit Adam Smiths Wirtschaftstheorie (18. Jh.) den Eigennutz akademisch geadelt hat – mit Folgen, die bis in die heutige ökonomische Praxis hineinreichen – hat es noch keine schlechte menschliche Eigenschaft zu solchen Ehren gebracht wie die Gnadenlosigkeit.



Kann sich jemand erinnern, dass in letzter Zeit einmal Verbote gelockert, Bestimmungen großzügiger gehandhabt wurden oder dass Politiker mit der Forderung nach „weicheren Strafen“ hervorgetreten sind? Das Gegenteil ist der Fall. Die Parole heißt: „immer härter, enger, strenger“. Die Obrigkeit präsentiert sich nicht als Partner, geschweige denn als „Diener“ der Bürger, sondern zunehmend als rigides Zerrbild von „Vater Staat“, der seinen „Kindern“ mehr als polternder Knecht Ruprecht denn als gütiger Nikolaus gegenübertritt. Gerade bei kleinen Vergehen (etwa bei Verkehrssünden) ist Strafe keineswegs ultima ratio (letztes Mittel), sondern das erste, ja einzige Mittel, von dem die Obrigkeit Gebrauch macht. In der Vergangenheit markierte das Lockern von Vorschriften und Verboten sowie das Abmildern von Strafen stets den zivilisatorischen Fortschritt in einem Land. Man ächtete Folter, Prügelstrafe und Todesstrafe, führte den humanen Strafvollzug ein, strich das Verbot der Homosexualität aus dem Strafgesetzbuch und eliminierte den Kuppelparagrafen, der es für Vermieter strafbar machte, unverheiratet Kopulierende in ihrer Mietswohnung zu dulden. Heute geht der Trend in die Gegenrichtung.



Strafen als Wirtschaftsfaktor



Eine mögliche Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Strafe ergibt sich mit Blick auf die gängige Praxis von Polizeirevieren, ihre Revierkasse durch besonders scharfe Kontrollen von Verkehrssünden aufzubessern. Da gibt es offensichtliche Missstände wie die „Knöllchen-Quote“, eine bestimmte Anzahl von Strafzettel, die jeder Ordnungshüter auf Teufel komm raus ausstellen muss, um sich nicht den Vorwurf laxer Arbeitsmoral gefallen lassen zu müssen. Schuldigsprechen am Fließband als höchste Pflicht jeder Ordnungsmacht. Wenn Strafverfolgung zum Geschäft wird, könnte man schlussfolgern, müsste die Legislative die Gesetze immer so streng gestalten, dass eine ausreichende Anzahl von Gesetzesverstößen generiert wird. Der Bürger könnte dem Ideal völliger Unbescholtenheit dann hinterher jagen wie der berühmte Esel der Mohrrübe. Wer überzogene, ungerechte oder gar grausame Strafen kritisiert, muss sich also zunächst mit dem (finanziellen oder psychologischen) Gewinn auseinandersetzen, den der Strafende aus dem Strafsystem zieht.



Ebenso wie die Revierkassen gefüllt sein wollen, braucht der Gefängnisbetrieb – Verwaltung, Wachpersonal, Verpflegung, Sicherheitstechnologie – Gefangene. Werden zusätzlich zum öffentlichen Interesse an Gefängnissen auch noch ökonomische Kriterien in einem Strafvollzugssystem eingeführt, so bedeutet das, dass immer genügend Beklagte und Bestrafte da sein müssen, um den Betrieb aufrecht zu erhalten und alle daran Beteiligten zu ernähren. Ein privatisiertes Gefängnissystem, wie es in den USA herrscht, braucht verurteilte Kriminelle wie die Luft zum Atmen. Ein plötzliches Ausbleiben jeglicher krimineller Energie wäre der Super-Gau, der größte anzunehmende Unfall für die Gefängnis-Betreiber. Ist es da nicht logisch, dass sie auf Gesetzgeber und Richter Einfluss nehmen, gegenüber Gesetzesübertretungen stets so viel Strenge walten zu lassen, dass die nötige Insassenquote erreicht oder womöglich „Wachstum“ generiert wird? In den USA etwa sitzen 25 % aller Häftlinge der Welt hinter Gittern. Der Anteil des Landes an der Weltbevölkerung beträgt aber nur 5 %. In den Vereinigten Staaten sitzen mehr Menschen ein als in China, das über die fünffache Anzahl von Bewohnern verfügt und oft wegen seiner Demokratiedefizite kritisiert wird.



Menschenwürde unter Finanzierungsvorbehalt



Auch in Deutschland führen Gnade und Menschlichkeit ihre vielleicht letzten Rückzugsgefechte gegen die alles überwuchernde Macht ökonomischer Sachzwänge. Menschenwürde, so scheint es, ist nicht länger Naturrecht (also ein Recht, das jedem Menschen aufgrund seines Menschseins zusteht), sondern etwas, was von den politischen und wirtschaftlichen Eliten je nach Kassenlage gewährt werden kann. Selbst das Recht auf Leben (das eigentlich vor der Würde kommt, weil es ohne Leben niemanden mehr gibt, der seine Würde genießen kann) steht zunehmend unter Finanzierungsvorbehalt. Hartz IV wurde vom Gründer der Drogeriekette dm, Götz Werner, nicht umsonst als „offener Strafvollzug“ kritisiert. Auch der unlängst von der Presse hochgejubelte Schein-Linksruck der SPD war in Wahrheit nichts als ein durchsichtiges PR-Manöver. Die Mainstream-Medien dienen heute überwiegend dem Zweck, die Bevölkerung so zu manipulieren dass sie ihrem eigenen Missbrauch willfährig zustimmt.



Der Zugang zum Existenzminimum wird in einer kälter werdenden Gesellschaft zunehmend von Qualitäten wie Intelligenz, Durchsetzungsfähigkeit und Frustrationstoleranz abhängig gemacht, die aber naturgemäß nicht jedem Bürger gleichermaßen gegeben sind. Wenn also der Staat kein bedingungsloses Grundeinkommen gewährt, wie es Götz Werner fordert, wenn er vielmehr das Recht auf Leben von einer „Mitwirkungspflicht“ abhängig macht, dann müssen die von Behörden verhängten Bedingungen zumindest für jedermann ohne Schwierigkeiten erfüllbar sein. Das sind sie aber keineswegs. In Speyer verhungerte unlängst ein psychisch labiler junger Mann, weil sein Hartz-IV-Satz von den Behörden stufenweise auf 0 reduziert wurde.



Ein Volk unter Generalverdacht



Neben der Sozialpolitik ist auch die gegenwärtige Innenpolitik Symptom dafür, dass wir uns auf dem Weg in eine Non-forgiving-Society befinden. Mit der Amtszeit des dritten hoch effizienten Bundesinnenministers in Folge, findet sich der Bürger nun in einer für ihn ungewohnten Rolle wieder: als potenzieller Terrorist unter Generalverdacht. So als hätte er nur auf eine Gelegenheit gewartet, das lästige Korsett demokratischer Bürgerrechte zu sprengen, schärft Wolfgang Schäuble (wie vor ihm Otto Schily) beständig die polizeistaatlichen Werkzeuge, mit denen Bürger gegängelt und kontrolliert werden sollen. Vormals außergewöhnlichen Verdachtsfällen vorbehaltenen Maßnahmen wie das Nehmen von Fingerabdrücken oder das Eindringen in Computer und Telefonleitungen sollen nun zum Normalfall werden. Im Zeitalter der „Präventivkriege“ muss schließlich auch der Kampf gegen das Verbrechen präventiv geführt werden. Selbst den in zivilisierten Nationen bisher unabdingbaren Grundsatz der Unschuldsvermutung stellt der umtriebige Minister in Frage. Der Paradigmenwechsel hin zur Schuldvermutung ist in vollem Gange. Im religiösen Kontext gibt es die Schuldvermutung ja bekanntlich schon lang, sie heißt dort „Erbsünde“.



Friedrich Nietzsche behauptet in seiner Schrift „Zur Genealogie der Moral“, dass „der Verbrecher gerade durch den Anblick der gerichtlichen und vollziehenden Prozeduren selbst verhindert wird, seiner Tat, die Art seiner Handlung an sich als verwerflich zu empfinden: denn er sieht genau die gleiche Art von Handlungen im Dienst der Gerechtigkeit verübt und dann gutgeheißen, mit gutem Gewissen verübt.“ Zu diesen Handlungen gehören „Berauben, Überwältigen, Beschimpfen, Gefangennehmen, Foltern, Morden“ – Tätigkeiten, die sich die Strafenden nunmehr merkwürdigerweise in dem Bewusstsein herausnehmen, auf der Seite des „Guten“ zu sein.



Grausamkeit mit gutem Gewissen



Strafen ist für Nietzsche Grausamkeit mit gutem Gewissen. Der Ausgleich für erlittenen Schaden bestehe für den Geschädigten nicht in irgendeiner Form positiven Vergütung (Geld oder Dienstleistungen), sondern in dem „Wohlgefühl, seine Macht an einem Machtlosen unbedenklich auslassen zu dürfen“, in dem Vorzug, „ein Wesen als ein ‚Unter-sich’ verachten und misshandeln zu dürfen – oder wenigstens, im Falle die eigentliche Staatsgewalt, der Strafvollzug schon an die ‚Obrigkeit’ übergegangen ist, es verachtet und misshandelt zu sehen.“ Für die Gesellschaft als Ganzes sei das Bedürfnis zu strafen ein Zeichen von Schwäche. „Wächst die Macht und das Selbstbewusstsein eines Gemeinwesens, so mildert sich immer auch das Strafrecht; jede Schwächung und tiefere Gefährdung von jenem bringt dessen härtere Formen wieder ans Licht.“



Diese Bemerkung von Nietzsche wirkt entlarvend, wenn man an die Rückkehr der Folter in das Verhaltensrepertoire moderner Demokratien, an die Neue Deutsche Welle organisierter Unmenschlichkeit und den jüngsten Verbots-Amoklauf denkt. Unser Non-Forgiving-Society verliert offenbar zunehmend die Kraft zur Menschlichkeit und zur Großzügigkeit. Der Sinn der Strafe besteht immer (unter anderem) in dem Gewinn, den der Strafende daraus zieht. Diese verqueren psychologischen Mechanismen gilt es offen zu legen. Ebenso wie die wirtschaftlichen Zwänge, die zu einer Ökonomie des Anklagens und Strafens führen. Wir müssen das Unsrige dazu beitragen, dass Mitgefühl, Großzügigkeit und das Verzeihen von Fehlern in unserer Gesellschaft wieder als förderungswürdige Tugenden gelten. Es sind Stärken, keine Schwächen.

27. März 2009
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