Wird die Welt von Psychopathen regiert?
Nach dem Urteil von Psychologen sind Menschen, die kaum Mitgefühl, Reue und Verantwortungsgefühl empfinden können, in Chefpositionen drei- bis viermal häufiger vertreten. Machtstrukturen in Politik und Wirtschaft, wo es um rationale Zahlen und schnelle Abschlüsse geht, sind für Narzissten und Psychopathen ein ideales Spielfeld.
Die meisten bringen Psychopathie mit Hollywood-Filmen wie «Das Schweigen der Lämmer» oder «Shining» in Verbindung: Brutale, irre gewordene Mörder. Doch dieses Bild ist falsch und unvollständig. Psychopathen sind alles andere als verrückt, sagt Dr. Robert Hare, emeritierter Professor für Kriminalpsychologie an der University of British Columbia in Vancouver. Ihr Verstand ist völlig in Ordnung, sie sind hochintelligent und charmant, aber ohne Empathie, Verantwortungsgefühl oder Reue. Sie spielen Gefühle vor, sind Meister im Lügen und Manipulieren und deshalb auch oft sozial erfolgreich. Sie überschätzen sich, lieben den Nervenkitzel und das Leben ist für sie ein reines Spiel, das sie möglichst gewinnen wollen.
Als junger Psychologe sass Hare im Jahr 1960 seinem ersten Psychopathen gegenüber. Dieser fuchtelte mit einem Messer vor seiner Nase herum und erzählte, er wolle einen Zellengenossen verletzen. Aber sein Lächeln war so einnehmend, seine Art so charmant und sein Blickkontakt so direkt, dass der Sträfling es acht Monate schaffte, Hare zu manipulieren. Er war fasziniert von ihm und gilt heute als erster, der einen Psychopathen systematisch untersucht hat und weltweit als der führende Forscher auf diesem Gebiet.
«Psychopathen sind perfekt angepasste Raubtiere.»
«Weil Psychopathen selbst Gefühle wie Liebe oder Angst vermindert wahrnehmen, ist ihre Fähigkeit, Mitgefühl, Schuldbewusstsein oder Reue zu empfinden, eingeschränkt. Sie wirken zunächst charmant, sind tatsächlich jedoch seltsam kalt. Sie sind perfekt angepasste Raubtiere. Geradezu instinktiv finden sie die Schwächen ihrer Mitmenschen und nutzten sie schamlos aus», schreibt Hare in seinem Buch «Snakes in Suits».
Wie weit würde es ein Psychopath wohl in Wirtschaft und Politik bringen? Eine schauderhafte Vorstellung und doch eine Realität, schreibt der Psychologe Jens Hoffmann, Leiter des Insituts für Psychologie und Bedrohungsmanagement in Darmstadt, in seinem Buch «Menschen entschlüsseln». Gemäss neueren Untersuchungen seien Menschen mit einer narzisstischen oder psychopathischen Persönlichkeit etwa drei- bis viermal häufiger in Machtpositionen vertreten als im Bevölkerungsdurchschnitt. Die Forschung geht davon aus, dass etwa vier Prozent der Bevölkerung Narzissten und etwa ein bis zwei Prozent Psychopathen sind. Narzissmus, also die Selbstbewunderung, gehört in der Regel zum Wesensmerkmal eines Psychopathen.
Dass solche Menschen häufig in Chefpositionen in Wirtschaft und Politik anzutreffen sind, liege daran, dass sie dort ihr Dominanzbedürfnis gut ausleben können: «Je höher die Führungsebene, desto höher auch der Anteil der Menschen mit auffälligen Persönlichkeiten», schreibt Hoffmann. Psychopathen seien gefährlich, auch für den Unternehmenserfolg, weil sie extrem gefühlskalt und hochmanipulativ seien. Sie würden nicht im Interesse des Unternehmens handeln, sondern nur in ihrem eigenen. «Sie haben Spass an Dominanz und Kontrolle. Sie demütigen andere gern und mögen es oftmals auch, wenn andere Angst vor ihnen haben. Sie selbst haben allerdings keine Angst und gerade das macht sie als Führungspersönlichkeiten so gefährlich, denn sie treffen oft hochriskante Entscheidungen, die ein Unternehmen in den Ruin treiben können», schreibt Hoffmann. Er schätzt, dass viele der charismatischen Führer in der Geschichte psychopathisch waren.
«Wer gefühlskalt und angstfrei ist, kommt mit Stress viel besser zurecht.»
Aber auch in der gegenwärtigen Wirtschaft seien sie vor allem in der Banken- und Versicherungbranche und im Vertrieb anzutreffen, wo vieles über Zahlen und schnelle Abschlüsse gesteuert werde, wo es um viel Geld, Status und Macht geht. So auch in der Politik. Der österreichische Politiker Jörg Haider und auch der ehemalige italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi gehören höchstwahrscheinlich dazu. Eine US-amerikanischen Studie zählt ebenso den ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush dazu. Nach Hoffmann erhalten psychopathische Menschen noch immer verstärkt Spitzenpositionen in Unternehmen. «Wer gefühlskalt und angstfrei ist, kommt mit Stress besser zurecht, er kann unpopuläre Entscheidungen besser treffen, weil es ihn gar nicht berührt.»
Die Gründe, wieso Menschen zu Narzissten oder Psychopathen werden, sieht Hoffmann in der kindlichen Entwicklung. Oft werden Kinder später zu Narzissten, die schon früh wie ein kleiner Prinz behandelt wurden. Ihnen wurde das Gefühl vermittelt, etwas ganz Besonderes zu sein und sein zu müssen. Männer seien stärker von Narzissmus betroffen als Frauen.
James Fallon, Professor für Psychiatrie und Verhaltensforschung an der University of California, wertet seit zwanzig Jahren die Hirn-Scans von Mördern für psychiatrische Kliniken aus – etwa siebzig waren es bisher. Vor allem ein bestimmter PET-Scan deutet für ihn auf Psychopathie hin. Fallon stellte sowohl strukturelle Veränderungen im Gehirn fest, als auch die veränderte Aktivierung bestimmter Hirnregionen. Der untere Teil des Frontallappens, der orbitofrontaler Cortex genannt wird, sowie Teile des Schläfenlappens, insbesondere der Amygdala, waren kaum bis gar nicht aktiv. Diese Gehirnareale sind an der Verarbeitung und Generierung von Impulskontrolle, Angst, Mitgefühl, Reue und anderen Emotionen beteiligt. Fallon war bestürzt, als er sah, dass es sich um den Scan seines eigenen Gehirns handelte. Die Familie seines Vaters hatte nicht nur die Universität von Kalifornien gegründet. Es gab auch eine ganze Serie von Mordfällen in der Familie, begangen von nahen Verwandten.
«Es ist egal, wie nahe mir jemand steht, die Menschen bedeuten mir nie mehr als eine Zufallsbekanntschaft», schreibt Fallon in seinem selbstkritischen Buch «The Psychopath Inside». Mehr als oberflächliche Herzlichkeit dürfe man von ihm nicht erwarten. Verantwortungsgefühl und Vorsicht? Fehlanzeige. Psychopathen, das waren für ihn die Mörder, deren PET-Scans er immer wieder auf dem Schreibtisch hatte. Und er selbst war schliesslich nicht kriminell, sondern einfach nur ein lustiger Kerl, «ein pro-sozialer Psychopath», wie er sich selbst nennt.
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