Ein kleiner roter Käfer
Ein Marienkäfer ist am Ertrinken und ein paar Ausweise machen sich selbstständig: Eine Parabel über die kleinen Wunder im Alltag. Kolumne.
Unterwegs im Luzerner Seeland entschloss ich mich zu einem kühlenden Bad im Baldeggersee. Den Badeplatz bei der Bahnstation Gelfingen kannte ich schon, also schwamm ich hinaus in den See, fand die Schweiz einmal mehr einzigartig und schön – und entdeckte weit draussen vor mir auf dem Wasser einen Marienkäfer. Er lebte zwar noch, bewegte sich aber mit erlahmender Kraft nur noch schwach und war am Ertrinken. Ich wunderte mich, warum sich ein Käfer so weit vom Ufer entfernt, bis er nicht mehr zurück kann, warum er sich nicht seinem Instinkt anvertraut. Vor allem aber fand ich ihn ärgerlich. Weil ich ihn nicht im Stich lassen konnte. Ich musste ihn retten.
Während ich mit der einen Hand weiterschwamm, schöpfte ich ihn mit der anderen aus dem Wasser und schüttelte dann die Hand vorsichtig über meinem Kopf aus, damit der Käfer – wenn er dies wollte – versuchen konnte, sich in meinem Haar festzuhalten. Auf diese Weise, meinen Kopf über Wasser haltend, hoffte ich, die kostbare Fracht unversehrt über die Wasserfläche ans Ufer bringen zu können.
Natürlich hätte ich gern gewusst, ob der Käfer seine Chance ergriffen hatte und noch an Bord war. Schliesslich soll eine Rettungsaktion nicht umsonst sein. Zwischendurch glaubte ich, ein feines Krabbeln auf meiner Kopfhaut zu spüren, aber das konnte auch Wunschdenken sein. Ich schwamm etwas schneller und sprach dem Käfer gut zu, wir hätten es bald geschafft.
Dann erreichte ich endlich das Ufer und begab mich, sehr aufrecht gehend, an Land. Ich beugte mich über den Boden, um den Käfer aus meinen Haaren herauszuschütteln, doch er fiel nicht heraus. Voller Bedauern dachte ich schon, er habe es nicht geschafft. Als ich meinen Kopf noch einmal schüttelte, glitt er doch noch aus meinem Haar. Offenbar schien er es gar nicht eilig zu haben, mich zu verlassen. Er fiel ins Gras, blieb dort einen Augenblick völlig bewegungslos, bis er zu meiner Freude plötzlich die Flügelchen spreizte und – noch etwas betäubt - zaghaft lostippelte.
Das Gefühl, das mich beim Anblick des geretteten Tierchens erfasste, war nicht nur Befriedigung. In diesem Moment war ich selig, und ich war es auch deshalb, weil Marienkäfer besondere Käfer sind. Dankbar für das Geschenk dieser kleinen Begebenheit verliess ich den See und kehrte zum Auto zurück.
Kurz darauf, als ich Hochdorf erreichte, sah ich eine Gelegenheit, wo ich tanken konnte. Die Tankstelle befand sich mitten im Städtchen, ich parkierte, zahlte mit der Kreditkarte und legte das Ausweisetui, während ich tankte, aufs Autodach. Dann stieg ich ein und fuhr los. Ich fuhr in den sonnigen Abend hinein und erfreute mich, begleitet von sommerlicher Musik, meines Lebens.
Bis die Musik auf einmal verstummte und das Telefon läutete. Eine unbekannte 076er-Nummer. Wer konnte das sein? Ich nahm ab, und eine weibliche Stimme fragte mich, ob ich derjenige sei, der ich bin. «Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Ihr Täschchen mit Ihren Ausweisen hier auf der Strasse verstreut lag. Ich habe die Ausweise eingesammelt.» Und die Frau beschrieb mir den Ort, wo ich das Etui abholen könne. Sie warte dort.
Die Ausweise!, durchzuckte es mich. Ich hatte sie auf dem Autodach liegenlassen. Liegenlassen und einfach vergessen. Und danach war ich losgefahren. Wenn es stimmt, dass auch Gegenstände Empfindungen haben, dann waren die Ausweise bleich geworden. Schreckensbleich. Weil sie vergeblich nach einem Halt suchten. Nach wenigen Metern hatten sie aufgeben müssen. Statt bei mir zu bleiben, wie der Marienkäfer auf meinem Kopf, hatte der Wind sie vom Dach des Autos hinuntergefegt. Etwas verdattert und vor allem erschrocken über die Fahrlässigkeit, die ich mir soeben geleistet hatte, bedankte ich mich bei der Anruferin und versicherte ihr, gleich bei ihr zu sein.
Sie stand an der Ecke neben der Tankstelle, das Fundstück in ihrer Hand, eine junge Frau aus dem Balkan, die mit ihrer Familie dort vorbeispaziert war. Zufällig waren ihr die auf der Strasse verstreuten Ausweise aufgefallen. Sie sagte, sie hoffe, dass keine der Karten fehle. Es fehlte keine. Sogar den Abholzettel der Wäscherei hatte sie nicht übersehen. Die fünf Franken, die ich ihr zum Dank spontan in die Hand drückte, finde ich immer noch schäbig. Ich hätte ihr mehr geben müssen. Denn die Ausweise zu ersetzen, hätte mich viele Franken gekostet.
Erleichtert und innerlich jubelnd liess ich Hochdorf ein zweites Mal hinter mir. Und im Weiterfahren, kurz vor Sins, wurde mir klar, was geschehen war. Das mir zuteil gewordene Glück war kein Zufall gewesen: Jemand hatte sich bei mir bedanken wollen.
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