«Ich halte es hier nicht mehr aus»

Wie ein Kultbuch Fluchtgedanken in mir hervorrief. Als ich mich in die Welt verliebte – Chronik einer Leidenschaft #23

Im Bild: Jack Kerouac, der legendäre Autor der Beatgeneration (Bild Screenshot)

Mein Reisebericht vom Sommer 1970, der so abgeklärt endete – siehe Folge 22 –, hätte auch ein anderes Fazit haben können. Ich hätte die Stimmung erwähnen können, in der ich mich nach unserer Rückkehr persönlich befand. Denn unterwegs in Schottland las ich ein Buch, das ich, als ich wieder zu Hause war, nicht so leicht los wurde. Es war Jack Kerouacs Reiseroman «On the road». Ein junger Mann reist per Auto mit seinem Kollegen quer durch die USA, lässt sich dahin und dorthin treiben und hämmert sein Abenteuer danach in ganzen drei Wochen auf eine einzige, fortlaufende Rolle Fernschreibepapier.

Das Buch besass 1970, dreizehn Jahre nach seinem Erscheinen immer noch Kultstatus. Es war das literarische Flaggschiff jener aufbrechenden jungen Generation in den USA, die als Beatniks in den Fünfziger Jahren die 68er-Zeit schon vorausfühlten. Und so wie sich Kerouac beim Schreiben von seinen Reiseeindrücken mitreissen liess, so fesselnd war sein Buch auch für mich. Zurück in der Schweiz – die Sommerferien waren vorbei, die Schule hatte mich wieder, das Provisorium dauerte an – las ich die letzten Kapitel von «On the road». Im Tagebuch musste ich meiner Emotion danach Luft verschaffen:

«Auch wenn die Schweiz schön ist und es auch hier nette Leute gibt, will ich weg.»

«Jetzt, wo ich Jack Kerouacs ‹Unterwegs› zu Ende gelesen habe, halte ich es hier nicht mehr aus. Ich könnte auf der Stelle nach Schottland zurück oder sonst wohin flüchten, nur fort aus dem schrecklichen Goldküstendorf mit all seinen Bonzen. Und auch wenn die Schweiz schön ist und es auch hier nette Leute gibt, will ich weg. Ich will fremde Länder sehen, unterwegs sein, und fremde Sprachen sprechen. Ich weiss, ich bin stark beeinflusst von Kerouacs Buch, aber hätte ein Schulkamerad wie Elias die gleiche Gesinnung, ich würde morgen schon mit ihm ausreissen. Die blöde Schule ist mir so sehr verhasst, dass nur eines mein Fernweh zügelt: Bis zur Matura, habe ich ausgerechnet, sind es gerade noch 400 Tage.»

Wie so oft auch in späteren Jahren verhalf mir das Schreiben nicht nur dazu, meine Sehnsucht in Worte zu fassen, ich konnte mich auch – quasi selbsttherapeutisch – gleich wieder beruhigen. 400 Tage, das war zu schaffen. Und ich hätte mich wohl noch mehr beruhigt, wenn ich gewusst hätte, was aus dem jungen Beatnik der 50er Jahre geworden war. Kerouac, damals der Inbegriff eines freien Menschen für mich, war erst 25, als sein verwegener Reisebericht publiziert wurde. Die Berühmtheit, die ihm das Buch bescherte, ertrug er nicht. Er schrieb zwar noch weitere Werke, doch den Erfolg von «On the road» erreichten sie nicht, und die Bewegung der Beatniks wurde danach immer mehr vom Kommerz vereinnahmt.

Kerouac suchte im Alkohol Trost, wohnte bei seiner Mutter und stürzte seelisch und körperlich ab. Im August 1970, als ich sein Buch las, war er schon fast ein Jahr tot. Das Originalmanuskript von «On the road», die legendäre Rolle Fernschreibepapier, wurde Jahrzehnte später von einem amerikanischen Multimillionär für 2´426´000 Dollar ersteigert.
 

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