Der Mythos vom Wachstum gegen den Hunger

Damit im Jahre 2050 rund 9 Milliarden Menschen genug zu essen haben, muss die landwirtschaftliche Produktion um mindestens 70 % steigen. Auf Basis dieses Lehrsatzes der Welternährungsorganisation FAO diskutieren heute und morgen 300 geladene Experten in Rom über die Frage „How to feed the world in 2050″ [1]. Dieses Verdikt der FAO ist bei Lichte betrachtet ein Weltuntergangs-Rezept. Jeder weiß das; aber keiner will die Wahrheit als erster aussprechen. Eine Milliarde Hungernde sind dabei die Geiseln in einem makabren Schattenspiel um des Kaisers neue Kleider. Was wir brauchen, sind keine weiteren globalen Produktionssteigerungen (wohl aber lokale), sondern vor allem eine Effizienzrevolution. Die von der FAO geforderten Investitionen in die Landwirtschaft von jährlich 83 Milliarden Dollar [2] sind zwar ein richtiger Anhaltspunkt. Die von ihr genannten Ziele nicht.

Warum, fragt sich Adam Riese zunächst, muss die Produktion um 70 % steigen, um 30 % mehr Menschen zu ernähren? Antwort: Weil die in Zukunft viel mehr Fleisch essen wollen und jedes Kilo Rindfleisch 7 Kilo Getreide (wenn das Rind kein Gras frisst) und jedes Kilo Schweinefleisch, Eier oder Milch etwa 3 Kilo Getreide kostet. Nachfrage: Warum müssen wir denn soviel Fleisch essen? Antwort (leicht verkürzt): Ja, wollen Sie uns denn alle zu Vegetariern machen? Hintergrund: Der übermäßige Fleischkonsum in Industrieländern (Durchschnitt 80 kg pro Jahr und Mensch vom Baby bis zum Greis) und den oberen Schichten der Schwellenländer ist mittlerweile, nach dem Hunger, die wichtigste Krankheitsursache. Die Hälfte wäre besser für alle Beteiligten. Der Weltdurchschnitt liegt auch bei 39 kg pro Person im Jahr. In den ärmsten Ländern sind es gerade mal 9 kg. Die industrielle Fleischproduktion aber ist der profitabelste Sektor der Landwirtschaft.

Wie, fragt Otto Normalgebildet, soll die Milliarde Menschen sich überhaupt ernähren, die weltweit bereits heute hungert? Antwort: Über 70 % dieser Hungernden leben auf dem Lande. Eine vergleichsweise geringe Steigerung der dort verfügbaren Lebensmittel, erwirtschaftet durch etwas bessere Erträge, etwas weniger Ungerechtigkeit bei der Verteilung von Land und Wasser, etwas geringere Verluste nach der Ernte, etwas bessere soziale Absicherung besonders bei Missernten würde ausreichen. Nachfrage: Warum passiert das dann nicht? Antwort: Weil damit kein Geld zu verdienen ist. Geld verdienen dagegen in den am schlimmsten vom Hunger heimgesuchten Ländern dieser Erde Großbauern und internationale Konzerne mit dem Export von Agrarprodukten, vornehmlich Futtermittel, Baumwolle, Kakao, Kaffee, Tee etc. in die überfetteten Industrieländer.

Was, fragt Klima-Klaus, bedeutet eine Steigerung der Agrarproduktion um 70 % denn für die Erderwärmung? Antwort: Beim gegenwärtigen Stand der Technik eine Katastrophe. Etwa 40 % unserer gesamten Klimagas-Emissionen gehen direkt (14 % Landwirtschaft, 18 % Umwandlung der Landnutzung wie Abholzung, fast ausschließlich das Ergebnis landwirtschaftlicher Aktivitäten) oder indirekt (Transport, Kühlung, Verarbeitung, Kochen, Abfall etc.) auf unsere Ernährung zurück. Nach den Berechnungen des Weltklimarates müssen diese Emissionen in den kommenden Jahren aber insgesamt um 50 %, in den Industrieländern um 80 % sinken. Die Wundertechniken, die dieses Kunststück bewerkstelligen könnten, gibt es nicht (und die Gentechnik hat das Problem im letzten Jahrzehnt noch erheblich ver-, nicht entschärft, denn sie führt zu zusätzlichem Pestizidverbrauch und macht klimaschädliche Monokulturen in vielen Teilen der Erde erst möglich).

Wo, fragt nun auch Naturschutz-Emma, bleibt dabei die Artenvielfalt? Antwort: Die geht schon jetzt so schnell wie zuletzt von 60 Millionen Jahren in Zeiten des Dino-Sterbens zurück. Eine weitere Ausweitung und Intensivierung der industriellen Landwirtschaft, die dafür die Hauptverantwortung trägt, wird die momentane Rate, im Verein mit dem Klimawandel, noch einmal verdoppeln.

Hat, fragen Sie sich jetzt vielleicht so langsam, die Menschheit denn dann überhaupt eine realistische Chance, sich ausreichend und gesund zu ernähren, ohne entweder den Planeten zu zerstören oder aber massenhaft zu sterben? Antwort: Ja. Der erste Schritt ist allerdings, die Löcher in dem Eimer „Welternährung” zu flicken, anstatt immer größere Mengen an Wasser hineinzuschütten.

Hier einige Anhaltspunkte jenseits von Fleisch- und Spritproduktion: Mindestens 30 % der in den USA und Europa produzierten Lebensmittel werden heute einfach weggeworfen. Es leiden heute mehr Menschen an krankhaftem Übergewicht und Fehlernährung als an Untergewicht. Die Kleinbauern dieser Welt, die noch immer den größten Teil unserer Lebensmittel produzieren, könnten ihre Lebensmittel-Produktion pro Hektar Fläche bei drastisch sinkendem Einsatz an fossiler Energie, Kunstdünger und Pestiziden mit den vorhandenen Mitteln problemlos verdoppeln und dabei auch noch erheblich gesündere Nahrung als bisher produzieren, allein durch veränderte - allerdings arbeitsintensivere und deshalb existenzsichernde - Anbaumethoden. Vom Agrarsprit und der industriellen Nutzung landwirtschaftlicher Produkte, Tabak-, Faser- und sonstigem Anbau sprechen wir noch nicht, auch nicht von der wachsenden Bedeutung urbaner Landwirtschaft, geschweige denn von Golfplätzen, Rasen- und anderen Flächen.

Von all diesen Optionen wird heute und morgen in Rom wenig die Rede sein. Noch immer herrscht in den meinungsführenden Kreisen der FAO, der Weltbank und anderer internationaler Institutionen das auch von der Agrarindustrie gepflegte Dogma der Produktivitätssteigerung um (fast) jeden Preis vor.

Immerhin machen sich auch hier erste Nachdenklichkeiten bemerkbar. Während noch vor wenigen Jahren Kleinbauern und Selbstversorgung (immerhin 40 % der Weltbevölkerung haben hierin ihre hauptsächliche Existenzgrundlage) als anachronistische Überbleibsel einer vormodernen Zeit galten, sind sie in letzter Zeit ins Blickfeld der Welternährungs-Strategen geraten.

Der Weltagrarbericht [3], der Anfang des Jahres erschien und die bisher umfassendste Bestandsaufnahme der Landwirtschaft dieser Erde darstellt, benannte einige der oben erwähnten Widersprüche und konstatierte: „Weiter wie bisher ist keine Option”. Wohl gerade aus diesem Grunde wollen heute viele seiner Initiatoren (darunter auch die Weltbank und die FAO) von seinen Ergebnissen nicht allzu viel wissen.

Im November werden sich Regierungs-Chefs aus aller Welt zu einem neuen Welternährungsgipfel in Rom versammeln, um die Ergebnisse der Experten-Diskussion in wohlgesetzte Worte und Erklärungen zu verwandeln. Es steht zu befürchten, dass auch hier der Ruf nach weiterer Produktionssteigerung an erster Stelle stehen wird. Die Wahrheit setzt sich wohl nur in kleinsten Dosen durch.

Letzte Frage: Übertreiben Sie, Herr Blogger, nicht etwas? Antwort: Gewiss, die Welt ist nicht schwarz-weiß. An dem Expertenforum der FAO sind beispielsweise auch einige kluge Frauen und Männer beteiligt, die Wege in die richtige Richtung weisen können. Solange aber dieses wichtigste Zukunftsthema überhaupt so wenig Aufmerksamkeit genießt wie heutzutage, kann ein wenig Polemik vielleicht nicht schaden.

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Weshalb für 2000 Kilokalorien auf unserem Teller 4600 Kilokalorien angebaut werden müssen: Ernteverluste, Umwandlung in Fleisch und Verschwendung von Essen “konsumieren” fast 60%
http://maps.grida.no/go/graphic/losses-in-the-food-chain-from-field-to-household-consumption
Quelle UNEP: The Environmental Food crisis
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Benny Haerlin ist Initiator von Save our Seeds, einer europäischen Initiative gegen Gentechnik im Saatgut.
http://www.saveourseeds.org/

[1] http://www.epo.de/?option=com_content&view=article&id=5482
[2] http://www.epo.de/?option=com_content&view=article&id=5476
[3] http://www.weltagrarbericht.de/deutsch.htm