Manipulation oder Freiheit? Wie wir die Macht der Werbung bannen

Kein Tag ohne Werbung. Überall lauert sie auf uns, verspricht uns märchenhaftes Glück, wir fiebern atemlos danach – und kaufen das genaue Gegenteil davon. Kolumne.

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Was denken eigentlich Konzern-Manager über uns? Ein Spitzenmanager des Tabakkonzerns Brown & Williamson sagte: „Wir müssen sie jung an den Haken kriegen und dann ein Leben lang.“[1] Je früher es gelingt, Menschen süchtig zu machen, desto länger verdient man an ihnen. Christian Kreiß, Professor für Wirtschaftspolitik, mag dieses Raubtier-Marketing nicht – und kämpft dagegen an, etwa in seinem Buch Werbung – Nein Danke,[2] worin er die Unarten der Werbeindustrie entlarft und handfeste Alternativen vorschlägt: ein Leben ohne Werbung. Die Lektüre ist befreiend. Werbe-Tricks durchschauen kann (über-)lebensentscheidend sein, beispielsweise im Falle von Medikamentenwerbung. Eine Übersichts-Studie fragte: 

Welche Wirkung hat Pharmawerbung auf das Verhalten von Ärzten? Ergebnis: Sie führt „zu erhöhten Verschreibungen, höheren Kosten und schlechterer Verschreibungsqualität.“ Durch „gezielte marketingbasierte Fehlinformation seitens der Pharmahersteller wurden und werden schlechte oder schädliche Medikamente verschrieben“ – Nebenwirkungen inklusive, „so dass derzeit in den USA und in Europa Medikamente die dritthäufigste Todesursache … darstellen.“ Ärzten wird daher empfohlen, „sich keinerlei ‚Information‘ von Pharmaunternehmen auszusetzen, da hierdurch das Verschreibungsverhalten nachteilig und zu Lasten der Patienten beeinflusst wird.“ Und das war vor Corona.

Wie und warum funktioniert Werbung? Der Fachbegriff „fundamentaler Attributionsirrtum“ bringt es auf den Punkt: Werbung – wirtschaftliche und politische – fügt Produkten positive Eigenschaften, Emotionen oder Symbole (Attribute) zu, die de facto nichts mit den Produkten zu tun haben: „Dazu gibt es unzählige Beispiele. Klassiker ist der Marlboro-Mann: Was hat Rauchen mit Reiten in der Wildnis zu tun?“ Oder was das Essen von Schokolade der Marke „Mars“ mit einer sportlichen Figur? Ausser dem Attribut „Mars“, dem Kriegsgott der Römer (der zweifellos sportlich war): nichts. Dennoch gelingt es mittels dieses platten Tricks, die Kauflust hochzukochen. „Denkt man den Gedanken des fundamentalen Attributionsirrtums logisch konsequent zu Ende, kommt man zu dem Ergebnis, dass praktisch die gesamte Werbung auf ihm basiert. Fast die gesamte kommerzielle Werbung gewinnorientierter Unternehmen beruht insofern letztlich auf Vorgaukelung falscher Tatsachen oder Konsumentenbetrug.“ 

Viele Studien zeigen, wie leicht wir manipulierbar sind. So gab man „verschiedenen Frauen dasselbe Waschmittel in drei verschiedenen Verpackungen, und zwar gelb, blau, und blau mit gelben Farbtupfen, und bat sie, sie zu testen. Die Frauen kamen zu dem Ergebnis, dass das Waschmittel in der gelben Verpackung zu scharf sei – es habe sogar mehrmals die Wäsche verdorben; dass in der blauen Verpackung habe die Wäsche nicht schön klar gemacht; das Waschmittel in der blau-gelben Verpackung wurde überwiegend günstig beurteilt, die Wäsche wurde hier als ‚schön‘ oder ‚wunderbar‘ bezeichnet. Ähnliche Resultate erbrachten Versuche bei Zigarettenrauchern, Bier- und Whiskytrinkern, die jeweils auf ihre Marke schworen: Es war ihnen unmöglich, in Blindtests ihre Lieblingsmarke zu erkennen. Der wegweisende Werbeprofi David Ogilvy bestätigt diese Einschätzung: ‚Ich habe mal versucht, Konsumenten anhand rationaler Fakten zur Wahl eines bestimmten Whiskys zu überreden – ohne Erfolg.‘“ Werbung zerstört das vernünftige Denken. Das gilt auch für die Wissenschaft. 

Viele Wissenschaftler wurden von der Werbeindustrie dazu verführt, getürkte Studien anzufertigen, beispielsweise im Informationskrieg der Tabakindustrie: „Es liegt ganz und gar nicht im Interesse der Tabakindustrie, objektives Wissen über die gesundheitlichen Folgen des Rauchens zu verbreiten.“ Daher „wurden ja auch die vielen manipulierten wissenschaftlichen Studien veröffentlicht, die Rauchen verharmlosten.“ Die „Liste von Beispielen, wie Konzerne Einfluss auf Hochschulen und Wissenschaft nehmen, wird fast täglich länger“, so Kreiß‘ in seinem, ebenfalls lesenswerten, Buch: „Gekaufte Forschung – Wissenschaft im Dienst der Konzerne“. Ähnliche Verfilzungen existieren zwischen Industrie und Staat: „Die Werbelobby nimmt starken Einfluss auf Politiker.“

Anstatt ihre Zuständigkeiten sauber auseinander zu halten, verknäulen sich Industrie, Wissenschaft und Politik ineinander. Kreiß zieht Konsequenzen daraus und fordert unter anderem Werbeverbote – auf dem Weg zu einer Gesellschaft, die ihre Marketing-Raubtiere im Griff hat, statt sie auf Ahnungslose loszulassen. Unabhängige Informationsdienste, die auch Christian Felber vorschlägt, der ein Vorwort zu Kreiß' Buch schrieb, könnten die nötigen Produkt-Informationen sachlicher, günstiger und verbraucherfreundlicher verbreiten als kommerzielle Werbung.

Kontakt: freieakademie.info


[1] Wenn nicht anders angegeben, alle Zitate aus: Christian Kreiß, Werbung – nein danke.

[2] Christian Kreiß, Werbung – nein danke; Warum wir ohne Werbung viel besser leben könnten, 2016 München.

Ingo Hoppe studierte Philosophie und Geschichte in Basel; seit 1999 als freier Journalist unterwegs. Die Universitätsreform (Bolognaprozess) verarbeitete er in dem Buch: Der freiheitliche Universitätsbegriff Wilhelm von Humboldts (fiu-verlag.com). Desweiteren veröffentlichte er über die Zukunftsvision des russischen Philosophen Wladimir Solowjew: Eine kurze Erzählung vom Antichrist (urachhaus.de). Aktueller Schwerpunkt ist die Erforschung spiritueller Inhalte in Filmen und Computerspielen (siehe ZP 145 Krieg der Götter und ZP 149 Ihr seid Götter). – Ingo Hoppe hält auf Anfrage Vorträge zu zeitgeschichtlichen, philosophischen und spirituellen Themen.