Die Beschaffenheit der Macht

Die Frage nach dem Bösen, die ihn über die Jahre hinweg beschäftigte, führte Charles Eisenstein zu einem Werk, das deutlicher als kaum ein anderes die Essenz des Bösen darstellt: George Orwells Roman 1984. Teil 2 des sechsteiligen Essays.

Bild von Irene Purcell

(Teil 1 hier lesen)

Ich las es nicht so sehr auf der Suche nach einer Antwort, sondern mit der Absicht, die Quintessenz des Problems zu finden. Denn eine Antwort gibt der Roman nicht: Die Rebellion von Winston und seiner Geliebten Julia gegen die Partei – das Böse in seiner allumfassenden, allmächtigen, konzentrierten Form – ist letztlich eine gescheiterte Rebellion. Orwell stellt sie nicht nur als eine gescheiterte Rebellion, sondern als eine zum Scheitern verurteilte, eine aussichtslose Rebellion dar. Die wasserdichte Darstellung der Verzweiflung in diesem Buch lässt nicht den kleinsten Funken Hoffnung durchschimmern.

Der Roman 1984 hat eine aussergewöhnlich emotionale Wirkung. Dies beruht teils auf seiner hohen literarischen Qualität – vom beunruhigenden Anfang («Es war ein strahlend-kalter Apriltag, und die Uhren schlugen dreizehn») bis hin zum niederschmetternden Schlusssatz («Er liebte den Grossen Bruder»). Orwell ist ein vollkommener Stilist. Wenn ich 1984 lese, ist es, als schaute ich durch eine makellose Glasscheibe; ich vergesse, dass ich lese. Ich befinde mich in seiner Welt.

Normalerweise wird 1984 als prophetische politische Warnung gedeutet, doch der Roman dient gleichzeitig auch als psychologische Allegorie. Zum einen ist die Partei die fiktive Verkörperung jener unpersönlichen Ansammlung von Mächten, Institutionen und Ideologien, die die Welt in ihrem Bann hält. Orwell gibt dem Gestalt, was in der realen Welt keine Form hat: die böse Kabale, eine Verschwörung, die so raffiniert ist, dass selbst die höchsten Eliten ihre Marionetten sind. (Ein weiteres Paradoxon – eine Verschwörung ohne Verschwörer, Marionetten ohne Marionettenspieler.)

Zum anderen ist die Partei eine innere Präsenz in der Psyche. Eine Präsenz, die ich selbst in diesem Moment spüren kann. Die Gedankenpolizei überwacht mich, verfolgt jeden meiner Schritte, beurteilt, bestraft, kontrolliert und verpflichtet mich zu einem gnadenlosen Standard strenger Folgsamkeit.

Der Grosse Bruder, das ist die stets wachsame innere Instanz, die jeden Gedanken, jedes Wort und jede Tat überwacht. Wir sehnen uns nach seiner Anerkennung. Den Grossen Bruder zu bewundern, hinterlässt in uns das befriedigende Gefühl, ein braves Kind zu sein. Er ist die Personifizierung des Guten. «Der Grosse Bruder sieht dich», steht auf den Plakaten in 1984. Der Grosse Bruder, das verinnerlichte Auge der Zivilisation, sieht dich, den Menschen, die ganze Zeit. Mithilfe seiner Spitzel von der Gedankenpolizei überwacht er permanent alles, was du denkst, sagst und tust.

Auch wenn das wachsame Auge verinnerlicht ist, existiert es natürlich nicht nur in unserem Inneren. Das immer allgegenwärtigere Auge der Überwachungstechnologie ist nur die Spitze des Orwell‘schen Eisberges. Der Grosse Bruder steht auch für ein immer häufiger auftretendes gesellschaftliches Phänomen. Der gesellschaftliche Druck, durch den Normen aufrechterhalten werden, die in einer gesunden Gesellschaft als Mitgefühl und Eigenverantwortung in Erscheinung treten, ist für die Umsetzung totalitärer Gesellschaftsformen fundamental. Menschen werden zu Spitzeln des Staates, zeigen sich gegenseitig an, üben Selbstzensur und erwecken durch ihren vorauseilenden Gehorsam den Eindruck bedingungsloser Loyalität, auch wenn sie insgeheim vielleicht rebellieren möchten.

Gut ist, wer in der Eigengruppe akzeptiert wird, wer die Regeln der Gruppe befolgt und zu ihrer Harmonie beiträgt. Der Grosse Bruder ist folglich das, wozu das Gute wird, wenn die normativen Impulse der Gesellschaft vereinnahmt werden. Anders ausgedrückt: Orwell zeigt uns, dass das ultimative Sinnbild des Guten tatsächlich die ultimative Erschaffung des Bösen ist. In unserem Inneren entspricht dies dem inneren Richter, der uns belohnt und bestraft, kontrolliert und korrigiert und mit psychologischen Drohungen und Belohnungen bei Laune hält – und alles nur zu unserem «Besten».

Um diesen Prozess, der aus gut böse macht, besser zu verstehen, nehmen wir die beiden Ziele der Partei doch einmal unter die Lupe. Da gibt es zum einen das öffentlich bekannte Ziel und dann gibt es das wahre Ziel. Das wären 1. das Gemeinwohl und 2. die Macht. Dass diese beiden Ziele einander im Wege stehen, fällt zunächst einmal kaum auf.

Von aussen betrachtet ist Macht doch eine feine Sache, wenn sie zum Wohl der Allgemeinheit angewandt wird, oder? Zensur ist doch okay, wenn wir nur Hassrede und Desinformation zensieren. Militärmacht ist etwas Gutes, wenn sie zum Schutz der Unschuldigen genutzt wird. Bombenangriffe sind in Ordnung, wenn es «humanitäre Bombenangriffe» sind. Konzentrationslager sind gut, wenn sie die Gesellschaft vor entarteten Elementen schützen. Folter ist in Ordnung, wenn sie dazu dient, Terroristen oder Hexen zu entlarven, die sonst grösseren Schaden anrichten würden…

Oh je! Die allgemeine Tendenz, Böses im Namen des Guten zu tun, macht uns auf ein Problem aufmerksam. Das Böse, das uns so wahnsinnig erscheint, die Machtgier, die uns so ungeheuerlich vorkommt und die überhaupt erst dazu anregt, die elementare Bezeichnung «böse» heranzuziehen, all dies ist eigentlich sehr rational. Es ist die unvermeidliche Folge des Feldzuges für das Gute und gegen das Böse. Das Gute als absolutes Konzept rechtfertigt jede Massnahme, die seiner Durchsetzung dient. Das Böse als absolutes Konzept rechtfertigt jede Massnahme, die seiner Auslöschung dient. Je mehr Macht jemand hat, der auf der Seite des Guten steht, desto besser. Macht wird so zum Selbstzweck. Um herauszufinden, warum das so ist und wohin es führt, und um eine Alternative zu diesem Kampf gegen das Böse zu beleuchten, schauen wir uns doch einmal an, was Orwell über die Macht zu sagen hat.

Was ist Macht? O’Brien, der Winston verhört, beantwortet diese Frage mit einer Gegenfrage: «Wie behauptet ein Mensch seine Macht über einen anderen Menschen, Winston?» Winston antwortet darauf: «Indem er ihn leiden lässt.» O`Brien liefert in den berühmten Ausführungen, die kurz darauf folgen, eine ausserordentlich klare Darstellung des Bösen:

Fortschritt in unserer Welt wird ein Fortschritt hin zu mehr Schmerzen sein…. Wir haben die Bande zwischen Menschen und Mensch, zwischen Kind und Eltern, zwischen Mann und Frau durchtrennt…. Es wird nur noch die Loyalität gegenüber der Partei geben und sonst keine. Es wird nur noch die Liebe gegenüber dem Grossen Bruder geben. Es wird nur noch das Lachen des Triumphs über einen besiegten Feind geben und sonst keines. Es wird keine Kunst, keine Literatur, keine Wissenschaft geben. Es wird keinen Unterschied zwischen schön und hässlich geben. Es wird keine Neugier, keinen Lebensgenuss geben.
Ich sehe, Sie beginnen zu begreifen, wie diese Welt aussehen wird. Aber schliesslich werden Sie sie mehr als nur begreifen. Sie werden sie akzeptieren, willkommen heissen, ein Teil von ihr werden.

Was den Kritikern üblicherweise entgeht, ist die rein rationale Quelle dieser offenbar krankhaften Vision. Das Böse, um das es hier geht, ist nicht sinnlos. Wenn die Macht in unseren Händen ist, darf sie keine Grenzen haben – das ist die Idee dahinter. Und erinnere dich an die tiefer liegende Wurzel der Konzepte Gut und Böse: Das Gute sind wir. Das Böse sind die anderen. Folglich kommen wir nicht umhin, sogar die Kunst, den Sex und die Wissenschaft in den Dienst der Macht zu stellen. Wie Mussolini schon sagte: «Alles innerhalb des Staates, nichts ausserhalb des Staates, nichts gegen den Staat.»

Macht ist die Macht, jemand anderen leiden zu lassen. Dies ist eine unvermeidliche Konsequenz der «Geschichte vom Selbst», die unserer Zivilisation zugrunde liegt: das abgesonderte und getrennte Selbst in einem objektiven Universum. In diesem Universum und für dieses Selbst gilt die Regel: Mehr für mich heisst weniger für dich.

Diesem Grundsatz zufolge ist zur Erhaltung des Allgemeinwohls die Unterdrückung des Einzelnen notwendig. Denn der Einzelne verfolgt sein Eigeninteresse, was voraussichtlich auf Kosten aller anderen geht. Zum Wohl der Allgemeinheit muss der Einzelne also leiden.

Dementsprechend hat, wer die Macht hat, jemanden leiden zu lassen, auch die Macht, Gutes zu tun. Was wir das Böse nennen, beruht auf dem tief verankerten Grundprinzip, das ich vorher erwähnt habe: der vollkommenen Verderbtheit des Menschen, der Herrschaft des Egos.

Ich will versuchen, die Logik hinter dieser Idee noch auf eine andere Weise zu erklären. In der Welt des getrennten Selbst, in der alle miteinander konkurrieren und ihr rationales Eigeninteresse verfolgen, bedarf es irgendeiner Autorität, die diesem Bestreben zum Wohl der Allgemeinheit Einhalt gebietet. Das Individuum empfindet die von dieser Autorität auferlegte Disziplin – sei es nun eine Parteidisziplin, wie in den ehemaligen kommunistischen Ländern – eine religiöse oder ethische Disziplin oder aber die Marktdisziplin im Kapitalismus – in gewisser Weise als Qual.

Die Leute müssen dazu gezwungen werden zu tun, was sie nicht tun wollen und zu unterlassen, was sie zu tun wünschen. Im Inneren ist dies ein Krieg gegen das Selbst, ein Kampf gegen Leidenschaft und Genuss, ein Feldzug der Biologie gegen den menschlichen Willen.

Die verinnerlichte Partei und die Partei im Aussen haben also dasselbe Ziel: dich leiden zu lassen. Paradoxerweise soll dieses Ziel unserem eigenen Wohlbefinden dienen. Wir leiden zu unserem eigenen Wohl, genau wie die Partei die Menschen zum Wohl aller leiden lässt. Zumindest ist das die ursprüngliche Begründung oder die ursprüngliche Rechtfertigung.

Zunächst einmal sind Selbstkontrolle oder Selbstdisziplin Mittel zum Zweck, zum Beispiel um abzunehmen, um ein Buch rechtzeitig zum Abgabetermin fertigzustellen oder um eine politische Revolution auf die Beine zu stellen. Da unsere tief verankerten Ideologien aus der Macht jedoch ein universelles Mittel gemacht haben, verselbstständigt sich das Machtprogramm irgendwann: Die Macht selbst wird zum Ziel. Selbstkontrolle wird zur höchsten individuellen Tugend, so wie die Loyalität zur Partei zur höchsten politischen Tugend wird, und das gemeinsame Ideal, das die Partei in ihren Anfängen beseelte, wird zur Nebensache, dann irgendwann ist es bloss noch ein Lippenbekenntnis, eine Reihe leerer Sprüche und gerät schliesslich gänzlich in Vergessenheit.

So kann es dazu kommen, dass gute, anständige Bürger als Mitglieder korrupter Organisationen Böses tun. Auch hier gilt, dass die «Guten» jene sind, die dazu gehören, die der Gruppe treu sind und sich an ihre Normen und Tabus halten. Es wird nur noch die Loyalität gegenüber der Partei geben und sonst keine. In allen Organisationen werden Teamplayer geschätzt und belohnt. Aus diesem Grund wurden zum Beispiel auch die Journalisten, die die Falschmeldungen rund um Iraks Massenvernichtungswaffen verbreiteten, gefördert, während diejenigen, die sie aufzudecken versuchten, in Verruf gerieten oder sogar ihren Job verloren. Man hätte doch eigentlich das Gegenteil erwarten sollen. Doch diejenigen, die die Falschmeldungen mittrugen, waren Teamplayer.

Mit dem Ziel, die Demokratie zu schützen, verhängen heutzutage Regierungen überall auf der Welt repressive, durch und durch antidemokratische Massnahmen. Man vermag fast die Gedanken der Architekten des Überwachungsstaates zu lesen: «Diese Instrumente wären gefährlich, wenn sie in die falschen Hände gerieten. Doch glücklicherweise sind wir es, die Moralischen, die Gebildeten, die Wissenschaftlichen, die Rationalen, die das Sagen haben.» Solange sie das glauben, können sie dem Orwell’schen Weg endlos folgen.

Orwell erklärt, dass das Ziel der Macht die Macht ist: «Macht ist Gott», sagt O’Brien. Vorherige Oligarchien seien scheinheilig gewesen, sagt er, zu schwach, um dieser Wahrheit ins Auge zu blicken. Darum hätten sie sich eingeredet, die Macht nur vorübergehend ergriffen zu haben, bis «alle Menschen frei und gleich sein würden». In Wirklichkeit jedoch verfolgten sie die Macht um ihrer selbst willen.

Der Kern der Partei habe sich von diesem Trugbild endgültig verabschiedet, sagt er. Sie seien sich vollkommen bewusst, die Macht nur um der Macht willen zu wollen, und was sie damit meinten, sei die Macht, anderen grenzenloses Leid zuzufügen. Aber Doppeldenk ermögliche es ihnen, dies in der vollen Überzeugung zu tun, mit ihrem Handeln dem Allgemeinwohl zu dienen.

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Übersetzt von Janet Klünder, korrekturgelesen von Kristina Kanders und Christoph Peterseil. Die englische Originalfassung dieses Textes wurde am 11. Dezember 2022 veröffentlicht und ist hier zu finden. (Teil 1 hier lesen)