Verdammte Pazifisten! – Interview mit Nico Piro

Maledetti pacifisti - Verdammte Pazifisten ist der Titel des neuesten Buches des Journalisten und Kriegsberichterstatters Nico Piro. Ein provokanter Titel. Er soll unterstreichen, dass eine faire, objektive und freie Information über den Krieg ein grundlegendes Instrument für den Frieden ist. Damit können wir einer kriegstreiberischen Tendenz entgegenwirken, die heute nicht nur auf politischer, sondern auch auf kultureller Ebene zunimmt.

Nico Piro (Image by Italia che Cambia)

Maledetti pacifisti, das mit dem Ilaria Alpi Preis ausgezeichnet wurde, ist ein wichtiges Enthüllungsbuch mit einem provokanten Titel. Kann sich Journalismus wirklich noch in den Dienst des Lesers und nicht der Kriegstreiberei stellen? Der Autor Nico Piro ist ein erfahrener Kriegsberichterstatter. Wir sprachen mit ihm über Konflikte und Frieden – und die Kommunikation über diese beiden zentralen Themen, insbesondere in der heutigen Zeit.

Laura Tussi: Europa und die ganze Welt sind auf der Suche nach Frieden. Ist es möglich, ihn zu erreichen?

Nico Piro: Es gibt immer eine Möglichkeit. Es hängt von uns ab. Teresa Sarti Strada pflegte zu sagen, dass jeder seinen kleinen Beitrag leisten muss. Und dann können diese kleinen Teile zusammengefügt werden und ein Mosaik bilden, das die Welt verändert. Ich glaube aufrichtig, dass jeder von uns dazu aufgerufen ist, etwas zu verändern. Dafür brauchen wir Entschlossenheit und Kraft. Ich glaube, wir müssen mit seriöser, fairer, wahrer Information beginnen, die den Kampf von Gino Strada für die Abschaffung des Krieges aufnehmen muss.

Die Zeit ist mehr als reif dafür, auch wenn einige sagen werden, dass es unmöglich ist, den Krieg abzuschaffen. Doch bis in die 1980er Jahre schien es auch unmöglich, die Apartheid abzuschaffen. In den 1960er Jahren schien es unmöglich, die Rassentrennung in Amerika abzuschaffen. Dann setzte sich irgendwann eine Frau auf den falschen Platz in einem Bus und änderte alles. Wir müssen also daran glauben. Natürlich bedeutet der Glaube auch, dass man bereit ist, einen Preis zu zahlen, aber ich glaube, dass wir es alles in allem schaffen können.

Italien erlebt die längste Friedensperiode seiner Geschichte. Sie fällt mit der Zeit des grössten Wohlstands unseres Landes zusammen.

Was halten Sie von der absoluten Stille um den TPAN, den UN-Vertrag über das Verbot von Atomwaffen, für den das Ican International Network 2017 den Friedensnobelpreis erhalten hat? Das war ein echter Durchbruch für die pazifistische Welt, aber wie kann es sein, dass dieser Vertrag von den NATO-Ländern, einschliesslich unseres eigenen (Italien), nicht ratifiziert wurde?

Leider befinden wir uns in einer Phase, in der die grossen Fortschritte der 1990er Jahre im Bereich der Rüstungskontrolle, insbesondere der nuklearen Rüstungskontrolle, einen grossen Rückschlag erleiden. Wir machen einen Schritt rückwärts. Ich denke, es ist an der Zeit, nicht nur über eine bestimmte Episode nachzudenken, sondern darüber, was insgesamt geschieht. Leider ist das, was früher einen Unwert darstellte – Waffen und Rüstung – jetzt wieder zu einem Wert geworden. Wir erleben einen globalen Wettlauf um den Handel und Transport von Waffen.

Denken wir an den Fall des italienischen Parlaments: In nur wenigen Stunden ist es dem Parlament gelungen, sich auf eine Erhöhung der Militärausgaben auf 2 % des BIP zu einigen, ohne dabei die Frage zu stellen, wie viele Krankenhäuser, Kliniken, Schulen, Kindergärten wir dafür schliessen müssen. Ich denke also, dass es heute darum geht, das Wettrüsten zu stoppen. Denn das nährt den Kreislauf des Krieges, aber nicht nur das: Wir entziehen auch der Zivilgesellschaft Geld, und das ist wirklich sehr beunruhigend.

Manche sagen, es gäbe Kriege, weil Waffen mit entsprechenden Marketingstrategien verkauft werden müssen, sobald sie produziert sind. Haben die Recht?

Nein. Ich denke, man muss das Ganze etwas breiter sehen: Die Waffenindustrie macht ihren Job. So einfach ist das. Das eigentliche Problem ist die Tatsache, dass sich eine «normalisierte Kriegskultur» im Medienbereich durchgesetzt hat. Das eigentliche Problem ist folgendes: Der Frieden hat keine Sponsoren, der Krieg schon. Auch deshalb, weil der Krieg für eine Reihe von Machtzentren monetäre und nicht-monetäre Gewinne abwirft. Ein Beispiel: Boris Johnson ist einer, der den bewaffneten Konflikt in der Ukraine nutzte, um sich zu rehabilitieren. Das gelang ihm ein paar Monate lang. Dann kapitulierte er doch. Aber er konnte damit die Aufmerksamkeit von den Protesten gegen seinen Umgang mit der Pandemie ablenken.

Gibt es also eine eindeutige politische Verantwortung?

Der Frieden hat keine Stimme. Der Frieden hat keine Investoren, und das ist meiner Meinung nach die Schuld der Regierungen. Wenn ein Krieg vorbereitet wird, unterstützen die vorherrschenden Stimmen oft den Konflikt. Die einseitige Kriegstreiberei stigmatisiert alle Andersdenkenden, sie zersetzt die Demokratie. Die Frage, die wir uns also stellen müssen, lautet: Können wir heute über Frieden reden, ohne als Feinde des Vaterlandes behandelt zu werden? Ohne dass behauptet wird, wir stünden im Sold des Feindes?

Glauben Sie, dass nach der verpassten Chance in Italien die Zeit reif ist für eine Friedenspartei, die sich bei den nächsten Europawahlen in allen Mitgliedstaaten präsentiert?

Ich glaube ehrlich gesagt nicht an Parteipolitik. Ich denke, eine Friedenspartei zu haben, würde uns einschränken. Denn was ist Frieden? Vor ein paar Tagen war ich in der Bibliothek von San Matteo degli Armeni in Perugia, wo ich mein Buch Maledetti pacifisti vorgestellt habe. In dieser Bibliothek befinden sich alle Dokumente von Aldo Capitini, einem Propheten des Friedens. Es hat mich beeindruckt, diese Figur zu sehen und zu verstehen, für die der Frieden ein Fortschritt ist, eine schöpferische Kraft.

Was bedeutet Frieden heute in Italien?

Italien erlebt – das sollten wir nie vergessen, auch wenn wir es fast nicht aussprechen können – die längste Friedensperiode seiner Geschichte. Sie fällt mit der Zeit des grössten Wohlstands unseres Landes zusammen. Der schöpferische Frieden bringt Dividenden für alle, der Krieg Profit für einige wenige. Und Frieden schafft sie auf lange Sicht. Aber wir müssen uns um den Frieden kümmern und ihn in allen Bereichen verbreiten – von der Gerechtigkeit bis zum Recht. Ich glaube, das muss alles gemeinsam erreicht werden. Eine aktive Friedenskampagne, die nicht alle diese Aspekte berücksichtigt, halte ich für zu begrenzt.


Übersetzt aus dem Italienischen: Christa Dregger

Der Originalartikel kann hier gefunden werden: https://www.italiachecambia.org/2023/04/maledetti-pacifisti-pace-guerra/

Eine Buchrezension findet sich hier: https://zeitpunkt.ch/krieg-und-frieden-den-medien