Israel-Palästina: Gibt es einen gewaltfreien Weg für gerechten Frieden?

Über 100 Tage Krieg in Gaza … Wenn wir die Gräueltaten sehen, die jeden Tag geschehen, kann es nur eine humane Antwort geben: «Stopp! Ein sofortiger und dauerhafter Waffenstillstand so schnell wie möglich.» Wie könnte gewaltfreie Aktion Erfolg haben?

Gewaltfreier Widerstand
Was hätte Rosa Parks getan? Palästinensische Demonstration angesichts der von ihnen als «Apartheid» bezeichneten Politik Israels getan hätte. (Foto von Abbas Momani/AFP via Ge

Das beispiellose Blutbad der letzten Monaten in Israel und Palästina ist Irrsinn. Für jemanden wie mich, der sich seit vielen Jahren unter anderem zusammen mit israelischen und palästinensischen Friedensaktivisten für den Frieden einsetzt, ist das Ausmass des Schmerzes und des Leids, die scheinbar grenzenlose Grausamkeit sowohl gegen Israelis am 7. Oktober als auch gegen die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens seither unerträglich. Dazu kommt die Explosion einer entmenschlichenden, völkermörderischen Sprache – und, das Schlimmste von allem, das Gefühl, dass man wenig tun kann, um die Situation zu ändern.

Als Deutscher, der mit der kollektiven Nachkriegsidentität des «Nie wieder» gegenüber Faschismus und Antisemitismus aufgewachsen ist, war es erschütternd, das Massengemetzel an Juden am 7. Oktober zu sehen. Wir erfuhren Details eines Grauens, von dem die meisten Menschen dachten, es könne Juden nicht mehr passieren. Ironischerweise tötete die Hamas auch Menschen, die zu der kleinen Minderheit Israels gehören, die sich für einen gerechten Frieden und ein Ende der Besatzung einsetzen. Die israelische Regierung benutzt ihren Tod seither zur Rechtfertigung einer grausamen Kampagne der kollektiven Bestrafung, die viele der Opfer mit allen Mitteln verhindern wollten.

Keiner von uns ist frei, solange wir nicht alle frei sind. Wie auch immer diese Eskalation ausgeht, sie wird uns alle auf die eine oder andere Weise betreffen.

Nach Wochen ungeminderter Brutalität erschien die Hoffnung, die von den Bildern der Familien, die ihre befreiten Angehörigen umarmen, ausgestrahlt wurde, fast surreal – und machte die Rückkehr zur Bombardierung in Verbindung mit dem israelischen Schwur auf den «absoluten Sieg» noch unerträglicher.

Die palästinensische Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Yara Eid, die ursprünglich aus Gaza stammt, schrieb am 1. Dezember:

Ich schreibe und lösche immer wieder, weil ich keine Worte finde, um das Ausmass des Verlustes zu beschreiben, den wir Gazaner im Moment empfinden. Können Sie sich vorstellen, dass Ihre ganze Welt ausgelöscht wurde? Alles. Das Ausmass der Zerstörung, das wir sehen, ist unbeschreiblich. Unsere Häuser, unsere Wahrzeichen, unsere Schulen, unsere Universitäten, unsere Restaurants, buchstäblich alles. Israels Absicht war es immer, Gaza von der Landkarte zu löschen. Sie haben unsere Stadt absichtlich zerstört. Sie haben unsere alten Wahrzeichen bombardiert, um jeden Beweis für die palästinensische Geschichte zu beseitigen... Ich kann einfach nicht erklären, was ich fühle, wenn ich sehe, wie all meine Lieblingsplätze, meine ganze Stadt, alles, womit ich aufgewachsen bin, dem Erdboden gleichgemacht wurde.

Bis jetzt, mehr als drei Monate nach Kriegsbeginn, hat die israelische Armee für jeden von der Hamas am 7. Oktober ermordeten Menschen 20 Palästinenser getötet. Darunter sind mehr als 10.000 Kinder. Mehr als 85 % der Bevölkerung sind vertrieben, die Hälfte der Gebäude ist zerstört, Hunderttausende sind akut von einer Hungersnot bedroht und haben buchstäblich keinen sicheren Ort, an dem sie sich verstecken können. Vor einigen Tagen sagte der UN-Untergeneralsekretär für humanitäre Angelegenheiten: «Der Gazastreifen ist einfach unbewohnbar geworden.»

Unabhängig davon, ob man mit den Absichten der israelischen Regierung übereinstimmt oder nicht, ist klar, dass die militärische Zerstörung der Hamas praktisch zum selben Ergebnis führen würde: Zehntausende weiterer Zivilisten zu töten, diese ganze Region von 2,3 Millionen Menschen dem Erdboden gleichzumache. Aus diesem Grund ist für viele Palästinenser die «Beseitigung der Hamas» gleichbedeutend mit der «Auslöschung des Gazastreifens von der Landkarte». 

Wenn wir die Gräueltaten sehen, die jeden Tag geschehen, kann es nur eine humane Antwort geben: «Stopp! Ein sofortiger und dauerhafter Waffenstillstand so schnell wie möglich.» Diese Haltung ist, wie Greta Thunberg sagte, eine «Frage der grundlegenden Menschlichkeit».

Keiner von uns ist frei, solange wir nicht alle frei sind.

Was in Gaza geschieht, ist nicht nur eine Angelegenheit von Palästinensern und Israelis. Die Idee und die Praxis der Solidarität beruhen auf der Wahrnehmung existenzieller Verbundenheit mit der Situation des anderen. Keiner von uns ist frei, solange wir nicht alle frei sind. Wie auch immer der Ausgang dieser Eskalation sein wird, sie wird uns alle auf die eine oder andere Weise betreffen. Jeder Tag, an dem der Angriff auf Gaza andauert, bedeutet eine weitere Entwürdigung und einen weiteren Verlust unserer gemeinsamen Menschlichkeit. Wenn wir uns nicht für die Palästinenser einsetzen, sollten wir uns nicht wundern, wenn wir selbst von Faschismus und Krieg heimgesucht werden. Dies ist durch die ständig wachsende Gefahr einer zunehmenden regionalen Eskalation noch deutlicher geworden.

Aber diese Haltung ist nicht, wie die Kriegstreiber uns glauben machen wollen, anti-israelisch. Wenn wir etwas aus dem schrecklichen «Krieg gegen den Terror» gelernt haben, dann dass die israelische Strategie sehr wahrscheinlich den Israelis zumindest mittel- und langfristig weniger Sicherheit bringen wird. Denn das Grauen, das die israelische Armee im Gazastreifen anrichtet, schafft genau die Bedingungen für die Angriffe, die die Israelis angeblich in Zukunft verhindern wollen. Es gibt keinen wahren oder dauerhaften Frieden und keine Sicherheit für irgendjemanden ohne Frieden und Sicherheit für alle.

Wie könnte ein Weg aussehen, um dies zu erreichen? Die Situation stellt diejenigen unter uns, die sich der Gewaltlosigkeit verschrieben haben, vor ein schwer zu ertragendes Paradoxon: Während wir vor den Aufrufen zur Gewalt und deren Rechtfertigung erschaudern, wäre es ironisch und zutiefst ignorant, den Palästinensern gewaltlosen Widerstand vorzuschlagen. Beim letzten von vielen Malen, wo die Bewohner des Gazastreifens dies versuchten, dem «Grossen Marsch der Rückkehr» 2018/19, erschossen israelische Scharfschützen kaltblütig Hunderte von unbewaffneten Menschen, darunter Kinder, Frauen, Journalisten und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen. 

Diese systematische Niederschlagung, die den gewaltfreien Widerstand für die Palästinenser unmöglich gemacht hat, geschah mit der breiten öffentlichen Unterstützung in Israel, der militärischen und politischen Hilfe westlicher Länder und – was besonders wichtig ist – dem Schweigen und der Selbstgefälligkeit derjenigen in den privilegierteren Teilen der Welt, die entsetzt sind, aber ihre Stimme nicht erheben.

Ein palästinensischer Führer des gewaltlosen Widerstands, Sami Awad, gab kürzlich in einem Gespräch mit der Buddhist Peace Fellowship zu, dass er keinen Aktionsplan hat, den er unter diesen bedrückenden Umständen vorschlagen könnte. Dennoch war er sich über eine Sache, die die Palästinenser jetzt brauchen, sehr klar: «Eine weltweite gewaltfreie Widerstandsbewegung an jedem Ort, um die Systeme der Unterdrückung abzubauen."

 

Ein gewaltfreier Wandel am Horizont?

So unwahrscheinlich es auch erscheinen mag, aber die palästinensische Befreiungs- und Solidaritätsbewegung könnte an der Schwelle zu einem grossen Durchbruch stehen. Das Ausmass der Brutalität in Gaza hat weltweit eine noch nie dagewesene Aufmerksamkeit und Solidarität mit der palästinensischen Sache hervorgerufen. Trotz der massiven Zensur und Kriminalisierung palästinensischer und pro-palästinensischer Stimmen ist ein grundlegender Wandel in der Darstellung des Konflikts im Gange. Die Klage Südafrikas vor dem Internationalen Gerichtshof stellt einen beispiellosen Meilenstein dar. Vor allem eine wachsende Zahl (vor allem junger) amerikanischer Juden wendet sich vom Zionismus ab und setzt sich für die Palästinenser ein. Die pro-palästinensische Bewegung gewinnt so an Schwung, dass sie ernsthafte Bedenken für Bidens Wiederwahlkampagne aufkommen lässt.

Das Ausmass der Brutalität im Gazastreifen hat weltweit eine noch nie dagewesene Aufmerksamkeit und Solidarität mit der palästinensischen Sache hervorgerufen. 

Wie wir durch Gandhi in Indien und an vielen anderen Orten gesehen haben, können Befreiungsbewegungen tatsächlich Imperien in die Knie zwingen. Der Schlüssel dazu liegt meiner Meinung nach in dem, was Gandhi als «moralische Autorität» bezeichnete: eine unbestechliche, humane Ethik, die die Brutalität des Unterdrückers entlarvt und seine Gewalt letztlich unhaltbar macht. Das ist die Kraft, die wir jetzt nutzen müssen. Angesichts der Tatsache, dass die Palästinenser unter den gegenwärtigen Umständen so gut wie keine Möglichkeit haben, gewaltfrei zu handeln, liegt es an all jenen, die sich für Gerechtigkeit und kollektive Befreiung einsetzen, aufzustehen.

 

Wie könnte das funktionieren? Ein paar mögliche Ansatzpunkte:

1. Die weltweiten Mobilisierungen fortsetzen. Auch wenn der Krieg allmählich von den Titelseiten verschwindet: Wir müssen Palästina weiterhin auf die Tagesordnung setzen und weiterhin Druck ausüben, insbesondere auf Präsident Biden, Bundeskanzler Scholz, Premierminister Sunak und alle anderen Verbündeten Israels, um einen dauerhaften Waffenstillstand, ein Ende der Besatzung und die Rechenschaftspflicht für alle Täter zu fordern. Biden, Scholz, Sunak und andere müssen für ihre Mitschuld am Völkermord zur Rechenschaft gezogen werden. Je mehr sich die öffentliche Meinung zu Gunsten der Palästinenser ändert, desto mehr kann die Bewegung den Druck durch gewaltlosen zivilen Ungehorsam, einschliesslich Boykott, Desinvestition und Sanktionen, erhöhen. Wenn die Bewegung in den Vereinigten Staaten weiter wächst, könnte bald ein Punkt erreicht sein, an dem sich die Demokraten ihre bedingungslose Unterstützung für israelische Kriegsverbrechen, Apartheid und Besatzung nicht mehr leisten können. (Dasselbe könnte für die Labour Party im Vereinigten Königreich oder die SPD und die Grünen in Deutschland gelten).

2. Aufbau eines breiten internationalen Bündnisses. Wir müssen die Solidarität und die Zusammenarbeit zwischen den internationalen Solidaritätsbewegungen mit den palästinensischen gewaltfreien Aktivisten vor Ort und vor allem auch mit den Israelis, die sich für Frieden und ein Ende der Besatzung einsetzen, stärken und ausbauen. Solche Beziehungen und Bemühungen gibt es bereits (wie «Standing Together» und «Combatants for Peace») - die internationalen Solidaritätsbewegungen müssen diese Gruppen unterstützen, ihrer Führung folgen und ihre Botschaften verstärken.

3. Setzen wir uns für die Befreiung aller ein und handeln wir mit Liebe. Anstelle von Narrativen, die Gewalt rechtfertigen, sollten wir Rahmen, Geschichten und Visionen verbreiten, die gewaltfreie Alternativen aufzeigen. Auf einer logischen Ebene können wir immer Gründe finden, die Gewalt rechtfertigen, besonders jetzt, aber die Weisheit kennt die Konsequenzen einer solchen Logik. Fragen wir stattdessen: Wie kann Gewaltlosigkeit jetzt wirksam werden und einen Weg in die Zukunft aufzeigen?

Wir müssen Hass gegen jeden klar zurückweisen, die Menschlichkeit aller Beteiligten, auch der Täter, betonen und die Bedürfnisse aller Beteiligten anerkennen.

Dazu gehört eine klare, unmissverständliche Haltung gegen Hassreden und Gewalt gegen alle Menschen, unabhängig von ihrer Religion oder Nationalität. So wie wir uns gegen die Kriminalisierung pro-palästinensischer Stimmen und die Zunahme der Islamophobie erheben müssen, muss die pro-palästinensische Bewegung auch die (derzeit stattfindende traurige Explosion von) antijüdischen Hassreden und Hassverbrechen klar und laut zurückweisen. Andernfalls wird die pro-palästinensische Solidarität nur die psychologische Dynamik verstärken, die jüdische Israelis und Juden an anderen Orten dazu veranlasst, die brutale Unterdrückung der Palästinenser zu unterstützen oder zu rechtfertigen.

Es muss uns gelingen, jüdischen Menschen in aller Welt zu vermitteln, dass pro Palästina zu sein nicht bedeutet, antijüdisch zu sein, sondern sich gegen Apartheid, Besatzung und Unterdrückung zu stellen. Wir müssen auch zum Ausdruck bringen, dass pro Palästina zu sein, eine Haltung fürs Leben ist. Nur dann können wir die falschen Antisemitismusvorwürfe, mit denen die Kritik an Israel zum Schweigen gebracht werden soll, glaubhaft entlarven.

Gewalt zu verstehen ist nicht gleichbedeutend damit, sie zu billigen; im Gegenteil, es ist eine Voraussetzung, um sie zu überwinden.

Die Unterscheidung zwischen dem Strukturellen und dem Persönlichen ist hier entscheidend. Wie Sami Awad: «Ich habe mich entschieden. Ich habe mich entschieden, mich gegen euren Hass zu stellen und euch nicht zu hassen, mich eurer Verfolgung zu widersetzen und euch nicht zu erniedrigen, eure Unterdrückung zu überwinden und euch nicht zu unterdrücken, auf eure Gewalt mit Gewaltlosigkeit zu antworten. Ich habe mich entschieden, laut und deutlich für Freiheit und Leben zu sprechen und euch nicht zu beleidigen. Ich habe die Liebe als meine Motivation gewählt.»

4. Handeln wir in der Politik trauma-informiert. Im Paradigma der Machtübernahme bedeutet das Verstehen des anderen, seine Handlungen zu billigen oder zu rechtfertigen. Deshalb ist Mitgefühl in der Politik oft ein Tabu. In der Friedensarbeit hingegen fragen wir mitfühlend: «Warum handeln Menschen auf diese Weise?», um tatsächlich Möglichkeiten zur Beendigung von Gewalt zu sehen. Gewalt zu verstehen, ist nicht gleichbedeutend damit, sie zu billigen; im Gegenteil, es ist eine Voraussetzung für ihre Überwindung. Ohne dieses Verständnis werden unsere Versuche, Frieden zu schaffen, nicht fruchten, weil sie an der Oberfläche bleiben.

In der westlichen Welt und darüber hinaus gibt es ein Erwachen darüber, wie Trauma funktioniert und unsere Lebenserfahrung prägt. In The Body Keeps the Score, einem der Bestseller, die dieses Bewusstsein populär gemacht haben, definiert Bessl van der Kolk Trauma «nicht [als] die Geschichte von etwas, das damals passiert ist, sondern als den gegenwärtigen Abdruck dieses Schmerzes, des Schreckens und der Angst, der in [dem Individuum] lebt». Trauma ist die Auswirkung einer (realen oder gefühlten) existenziellen Bedrohung, die der Organismus nicht abbauen konnte und die deshalb in unserem Nervensystem festsitzt.

Die Auswirkungen eines Traumas können tief und weitreichend sein. Solange ein Trauma unverarbeitet in uns lebt, werden wir, wie Van der Kolk schreibt, «[weiterhin] unser Leben so gestalten, als ob das Trauma immer noch andauern würde - unverändert und unveränderlich -, da jede neue Begegnung oder jedes neue Ereignis von der Vergangenheit kontaminiert wird.» Traumata verzerren oft unser Urteilsvermögen und veranlassen uns dazu, unverhältnismässig zu reagieren und Schaden anzurichten, auch wenn wir das nicht beabsichtigen. Wenn wir in Situationen geraten, die uns bewusst oder unbewusst an das Trauma erinnern, fühlen wir uns in der Regel existenziell unsicher, und unser denkendes Gehirn übergibt die Kontrolle an unser Reptiliengehirn mit seinen grundlegenden Überlebensreflexen: Kampf, Flucht, Erstarren und manchmal auch Vernichtung. Solange der Körper glaubt, dass er unsicher ist, wird er alles tun, was er für nötig hält, um sich in Sicherheit zu bringen.

Traumata verzerren oft unser Urteilsvermögen und bringen uns dazu, unverhältnismässig zu reagieren und Schaden anzurichten, selbst wenn wir das nicht beabsichtigen.

Es ist daher verständlich, warum diejenigen, die Brutalität und Unterdrückung erlebt haben, andere oft verletzen und unterdrücken.

Doch bisher hat sich die wachsende Bewegung zur Bewusstwerdung von Traumata meist auf den psychologischen und zwischenmenschlichen Bereich beschränkt und ist unpolitisch geblieben (mit wenigen Ausnahmen, wie der herausragenden Arbeit von Resmaa Menakem).

Mir scheint, dass noch nicht wirklich verstanden wird, wie soziale, politische und wirtschaftliche Systeme die Energie des Traumas in die Unterdrückung ganzer Gruppen von Menschen kanalisieren und wie sie das Trauma durch systemische Gewalt in massivem Ausmass aufrechterhalten. Sie pflanzen beispielsweise Überzeugungen in die Köpfe der Menschen ein, die die Unterdrückung von oder Gewalt gegen andere Gruppen als rational erscheinen lassen – indem sie die Unterdrückung von «ihnen» als eine Bedingung für die Sicherheit von «uns» darstellen.

Menakem schreibt: 

Trauma – aus dem Zusammenhang gerissen in einer Person – sieht aus wie Charakter.
Trauma – aus dem Zusammenhang gerissen in einer Familie – sieht aus wie Familienmerkmale.
Ein in den Menschen aus dem Zusammenhang gerissenes Trauma sieht aus wie eine Kultur.

 

Die Gräueltaten der Hamas am 7. Oktober waren der wahr gewordene schlimmste Albtraum der Israelis und haben ein jahrhundertealtes kollektives Trauma reaktiviert, das schreit: «Wir sind nirgendwo auf der Welt sicher. Letzten Endes sind wir auf uns allein gestellt, und wenn wir unseren Feind nicht ausrotten, wird er uns ausrotten.»

Netanjahu und seine rechtsextremen Verbündeten haben diese Existenzangst kanalisiert, um ihre Kernaufgabe zu erfüllen: die Schaffung eines zusammenhängenden Israels «zwischen dem Fluss und dem Meer» (wie es im Manifest der Likud-Partei heisst), indem sie eine Zweistaatenlösung unwiderruflich sabotieren und die ethnische Säuberung der Palästinenser beschleunigen. Das ist nichts Neues; seit Jahrzehnten wird das jüdische Trauma in die Unterdrückung und Besetzung der Palästinenser kanalisiert.

Mir scheint, dass noch nicht wirklich verstanden wird, wie soziale, politische und wirtschaftliche Systeme die Energie des Traumas in die Unterdrückung ganzer Gruppen von Menschen kanalisieren und wie sie das Trauma durch systemische Gewalt in massivem Ausmass aufrechterhalten.

Damit soll nicht gesagt werden, dass jüdische Israelis die Einzigen sind, die Traumata in Gewalt umwandeln. Zweifelsohne kanalisieren islamistische Ideologien palästinensische Traumata in dschihadistische Rachegedanken. Die politische Ideologie der Hamas basiert auf dem Hass auf Juden und dem Wunsch, mit dem jüdischen Staat gewaltsam Schluss zu machen – eine Umkehrung dessen, was die Palästinenser seit 1948 erlebt haben. Wir können leicht beobachten, wie sich diese beiden kollektiven Traumata und gewalttätigen Ideologien des religiösen Nationalismus gegenseitig nähren und aktivieren. 

Es könnte sein, dass die Hamas tatsächlich Juden ins Meer werfen und Israel gewaltsam stürzen würde, wenn sie könnte. Aber genau das ist der Punkt, sie können es nicht. Sie stehen einer der bestausgerüsteten und effizientesten Armeen der Welt gegenüber, die von den mächtigsten Nationen des Planeten unterstützt wird. Wie grausam das Massaker auch immer war, der 7. Oktober stellte keine existenzielle Gefahr für den Staat Israel dar. Aber Israels Reaktion tut den Menschen im Gazastreifen genau das an, was sie befürchten, dass die Hamas ihnen angetan hat. So ist das mit dem Trauma. Und eine übertriebene Interpretation äusserer Bedrohungen führt auch zu einer Blindheit gegenüber der eigenen Macht und den Auswirkungen dieser Macht.

Der Blickwinkel des Traumas muss mit einer strukturellen Analyse von Macht und Privilegien verbunden werden, sonst besteht die Gefahr, dass er zur Aufrechterhaltung bestehender Macht- und Privilegienstrukturen instrumentalisiert wird. Denn selbst eine unendliche Empathie für das Trauma der Unterdrücker, so unverzichtbar sie auch sein mag, wird deren Handlungen und die Systeme, in denen sie funktionieren, allein kaum aufhalten. Um Unterdrückungssysteme zu überwinden, müssen wir die (individuellen und kollektiven) Traumaerfahrungen und -muster der Menschen unbedingt anerkennen und aufarbeiten, aber wir müssen auch Ungerechtigkeiten ansprechen, Zweifel an den Überzeugungen säen, die Trauma in systemische Gewalt verwandeln, und konkrete strukturelle Veränderungen in Richtung Gleichberechtigung einleiten.

Trauma-informiert zu sein, verändert jedoch die Art und Weise, wie wir mit Gerechtigkeit umgehen. Und das macht einen grossen Unterschied aus.

5. Errichten wir ein Feld durch angewandte Friedensforschung. Stellen Sie sich ein Netzwerk von experimentellen Forschungszentren (z.B. «Heilungsbiotope») vor oder auch nur kleine «Study Action Groups», wie Joanna Macy sie nennt, die erforschen, wie man Frieden schafft – durch Worte und Taten, aber auch durch die Qualität der Gedanken, der Interaktionen und der Präsenz. Solche Gruppen würden sich aus Menschen zusammensetzen, die verstehen, dass wir nur so viel Frieden um uns herum schaffen können, wie wir in uns und unter uns erreicht haben.

Der auf Liebe basierende und traumainformierte Aktivismus, den ich hier vorschlage, erfordert ein tiefes Engagement für Selbsterkenntnis und transformative spirituelle Praxis – was, gelinde gesagt, in einer Umgebung von so intensiver Eskalation und Hass nicht einfach ist. Wir brauchenGemeinschaften, wo Mitgefühl, gegenseitige Unterstützung, verkörpertes Traumabewusstsein und gelebte Gewaltfreiheit kultiviert werden können und gleichzeitig soziale, wirtschaftliche, politische und ökologische Strukturen für eine Gesellschaft nach der Herrschaft aufgebaut werden. Solche Gruppen könnten als Katalysatoren fungieren, um bestehende Gewaltfelder in eine andere Richtung zu lenken. Die tatsächliche Verkörperung von Liebe und Mitgefühl ist entscheidend, um Möglichkeiten für andere Wege zu eröffnen.

Es liegt zwar auf der Hand, dass die Israelis ihre Privilegien aufgeben müssen, wenn die Unterdrückung und Apartheid gegenüber den Palästinensern beendet werden soll. Aber diese Vision muss auch ihre Bedürfnisse einbeziehen, wenn es sich um eine gewaltfreie Transformation handeln soll.

Ein Schlüssel für eine solche Bewegung liegt meiner Meinung nach auf der spirituellen Ebene. In Standing Rock haben wir 2016 die verbindende Kraft einer gewaltfreien Bewegung gesehen, die sich um ein gemeinsames spirituelles Zentrum versammelt. Egal, wie sehr dieses Wort missbraucht wurde, die Erfahrung des Heiligen – oder wie auch immer wir die Kraft des Lebens selbst nennen wollen – verwandelt Menschen, löst Feindseligkeit auf, schafft Beharrlichkeit und lässt Dinge geschehen, die sonst unmöglich erscheinen. Je mehr Gruppen sich in der heiligen Dimension der Existenz verwurzeln, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit für einen gewaltfreien Wandel.

6. Entwickeln wir eine glaubwürdige Friedensvision. Es wird keine Rückkehr zu dem geben, was vor dem 7. Oktober war. Solche Krisenmomente, die mit Kontinuitäten brechen, können Szenarien möglich machen, die vorher undenkbar waren, zum Guten oder zum Schlechten. Ob Netanjahus grausame Vision eines ethnisch gesäuberten Palästinas wahr wird oder ob es tatsächlich zu einem Heilungs- und Friedensprozess kommen könnte, hängt davon ab, welches Bild die kollektive Vorstellungskraft sehen und annehmen kann. Wir müssen einen realistischen Ereignishorizont für die kollektive Befreiung in Israel-Palästina entwickeln.

Die Slogans «Freies Palästina», «Entkolonialisierung» und «Recht auf Rückkehr» spiegeln ein brennendes Bedürfnis nach Gerechtigkeit wider, aber sie müssen mit praktischen, gewaltfreien Ideen gefüllt werden, was genau sie bedeuten und wie wir dorthin gelangen könnten. Es liegt zwar auf der Hand, dass die Israelis ihre Privilegien aufgeben müssen, wenn die Unterdrückung und Apartheid gegen die Palästinenser beendet werden soll. Aber diese Vision muss auch ihre Bedürfnisse einschliessen, wenn es eine gewaltfreie Transformation sein soll. Wenn die Israelis erkennen können, dass Würde, Sicherheit und Autonomie der Palästinenser auch ihr Leben sicherer machen würden, wird ein wesentlicher mythologischer Pfeiler des Apartheidregimes bröckeln. Doch angesichts des Ausmasses von Leid und Trauma werden diese Ideen nur dann überzeugend sein, wenn sie praktisch und bodenständig sind, und nicht, wenn sie als vage, ideologische Bestrebungen bleiben.

Um es klar zu sagen: Eine solche Vision wird radikal sein. Ich glaube, solange unsere politischen «Lösungen» im Rahmen ethnozentrischer Nationalstaaten funktionieren, die zwangsläufig eine brutale «Entweder-Oder»-Logik aufzwingen, wird gewaltsamer Wettbewerb weiterhin unvermeidlich erscheinen. Könnten wir uns anstelle einer ein- oder zweistaatlichen Lösung eine nichtstaatliche Lösung vorstellen? Eine plurinationale Konföderation für die Völker von Israel und Palästina?

Man könnte meinen, das sei einfach zu weit hergeholt. Aber Hannah Arendt, die weithin als die bedeutendste politische Philosophin des 20. Jahrhunderts gilt, hat diesen Gedanken bereits in den 1940er Jahren geäussert. Sie werden vielleicht noch überraschter sein, wenn Sie erfahren, dass das, was ich beschreibe, bereits gelebte Realität in einer der schwierigsten Ecken der Region ist: im Nordosten Syriens. In einem Gebiet, das als Rojava bekannt ist und etwa ein Viertel Syriens ausmacht, experimentieren mehrere Millionen Menschen mit dem Aufbau einer Gesellschaft jenseits von Nationalstaat, Kapitalismus und Patriarchat und arbeiten nach den Grundsätzen von Basisdemokratie, Feminismus, friedlicher Koexistenz verschiedener Ethnien, wiederherstellender Gerechtigkeit und regenerativer Landwirtschaft. Wenn dies in Syrien funktioniert, warum sollte es dann nicht auch in Israel-Palästina funktionieren?

Was wäre, wenn ein «Friedensprozess» diesmal nicht ein weiterer vergeblicher Versuch wäre, einen Kompromiss zwischen zwei korrupten politischen Systemen zu finden, sondern ein Prozess von unten nach oben, der die Bedürfnisse aller Beteiligten berücksichtigt? Gut moderierte Bürgerversammlungen, wie sie in anderen Ländern komplexe Probleme gelöst haben, könnten Menschen aller Identitätsgruppen anhören und ihre Bedürfnisse in einen Vorschlag für die Zukunft dieses Landes integrieren.

Sie mögen darauf bestehen, dass dies unmöglich ist. Aber die Strategen von Krieg und Unterdrückung denken nicht so; sie lassen keine Krise ungenutzt verstreichen. Wie der Haupttheoretiker des Neoliberalismus, Milton Friedman, sagte: «Wenn [eine] Krise eintritt, hängen die Massnahmen, die getroffen werden, von den Ideen ab, die herumliegen. Das ist, glaube ich, unsere grundlegende Aufgabe: Alternativen zur bestehenden Politik zu entwickeln, sie lebendig und verfügbar zu halten, bis das politisch Unmögliche zum politisch Unvermeidlichen wird.» 

Was wäre, wenn wir das gleiche Denken auf die kollektive Befreiung anwenden würden?