Gehet hin und vermehret Euch

1988 hat Udo Jürgens ein Lied (1) mit obigem Titel vorgestellt. Es lohnt sich, diesen Song im Internet anzuhören. Jürgens nimmt Bezug auf Genesis 1.28: «Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet ... « Und siehe da: Wir sind die einzige Spezies auf Erden, welche die eigenen Lebensgrundlagen mutwillig und nachhaltig zerstört. Würde man Kulturschaffende wie Udo Jürgens ernst nehmen, dann könnte sehr, sehr viel unnötiges Leiden verhütet werden!

«Wir investieren jährlich 1 Milliarde US-Dollar in Forschung und Entwicklung, um zur Ernährung einer wachsenden Weltbevölkerung beizutragen.» Dieses kürzlich erschienene Inserat von Syngenta macht deutlich, wie wichtig das Bevölkerungswachstum (exponentiell) ist, um nachhaltiges Wirtschaftswachstum (exponentiell) rechtfertigen zu können. Gemäss FAO (UNO-Organisation für Ernährung) stehen heute nur noch ca. 0.2 ha Landwirtschaftsfläche pro Mensch zur Verfügung. Dies bedeutet, dass momentan eine Fussballfeldfläche durchschnittlich 3 Menschen ernähren muss. Da die Weltbevölkerung und deren Konsum (mehr Fleisch, mehr Energie...) weiter wächst, wird es täglich schwieriger, gesunde Lebensmittel für alle produzieren zu können. Jean Ziegler macht darauf aufmerksam, dass heute genügend Essen für alle vorhanden ist und dass jeder Mensch, der verhungert, ermordet wird. Das Bevölkerungswachstum als Ursache für Hunger bezeichnet Ziegler als «kompletten Blödsinn», da die Weltlandwirtschaft 12 Milliarden Menschen ernähren könne. Diese Aussage – allerdings – ist einseitig und suggeriert, man könne bezüglich Bevölkerungswachstum eh nichts unternehmen.

Familienplanung ist seit 1968 ein Menschenrecht
Für Familien in benachteiligten Lebenssituationen sind Kinder oft eine Art Altersvorsorge. Trotz dieser Tatsache ist heute gemäss UNO jede dritte Schwangerschaft nicht nur ungeplant, sondern auch ungewollt – also ein Unfall. Einer der Gründe dafür ist, dass noch immer über 200 Millionen Frauen keinen Zugang zu Verhütungsmitteln erhalten, obwohl sie verhüten wollen. Fast 7 Milliarden Menschen (über)leben momentan auf dieser Erde. Menschen vermehren sich momentan mit 1.2% 2 pro Jahr. Theoretisch heisst dies, dass in nur 60 Jahren 14 Milliarden und in 120 Jahren 28 Milliarden Menschen die Erde bevölkern werden. Ungewollte Schwangerschaften machen heute etwa einen Drittel des Bevölkerungswachstums aus! Die Menschen dabei zu unterstützen, ungewollte Schwangerschaften zu verhindern, ist gemäss London School of Economics der effizienteste Klimaschutz. Warum war dies in Kopenhagen kein Thema?

Wer sich in eine Mutter hineinfühlen kann, die ungewollt schwanger ist, versteht, was es für ein Verbrechen ist, würdige Sexualaufklärung und Zugang zu Verhütungsmitteln den Menschen vorzuenthalten. Aus Verzweiflung versuchen viele dieser Frauen legal oder illegal das ungewollte Kind abzutreiben. 70'000 Frauen3 sterben jährlich an den Folgen dieser häufig unhygienisch durchgeführten Eingriffe. Dass das Fehlen von Familienplanung in Projekten, Firmen oder Ländern eine Menschenrechtsverletzung darstellt, ist den meisten sozial/ ökologisch engagierten Entscheidungsträgern nicht bewusst. Dass weder Amnesty International noch die UNO auf die Verletzung des Menschenrechts auf Familienplanung aufmerksam macht, ist ein Skandal.


Menschen leben nicht vom Brot allein
Immer mehr Menschen zerstören immer mehr Natur. Auch 2010 – dem Jahr der Biodiversität – werden aus «humanitären Gründen» wieder Tausende von Tier- und Pflanzenarten aussterben. Wenn zum Beispiel die Bienen aussterben, dann wird dies eine markante Reduktion unserer globalen Lebensmittelernte verursachen!

BIP-Wachstum dank Bevölkerungswachstum
In Konferenzen wird immer wieder deklariert, wie wichtig Natur- und Klimaschutz ist. Offenbar darf dies aber nicht auf Kosten des Wachstums-Dogmas gehen – da sonst unser jetziges Finanzsystem Schiffbruch erleidet. Seit Jahren wird von «qualitativem» und «grünem» Wachstum gesprochen. Es wird so getan als ob beides möglich wäre – nachhaltiges Wachstum und nachhaltige Entwicklung. Bevölkerungswachstum ist dabei eine willkommene Rechtfertigung fürs BIP-Wachstum welches nach wie vor mit vermehrtem Ressourcenverbrauch einhergeht.

Familienplanung ist nicht sexy
In einem Email schreibt Hans Herren (Welternährungspreis 1995): In vielen Meetings – sei es für den Weltagrarbericht oder sonst einer Entwicklungsangelegenheit – ist Bevölkerungswachstum der «weisse Elefant» im Raum... alle wissen dass es oft «das» Problem ist, aber niemand will das heikle Thema anfassen!
Vor der Rio Konferenz 1992 hielt Stephan Schmidheiny in der ETH einen Vortrag. Auf die Frage, was bezüglich Bevölkerungswachstum in Rio geplant sei, deklarierte er, dass der kleinste und der mächtigste Staat zusammen es fertig gebracht haben, dieses Thema auszuschliessen.
1994 fand die letzte UNO Bevölkerungskonferenz in Kairo statt. Ziel der Konferenz ist die Stabilisierung der Weltbevölkerung im Kontext von Nachhaltiger Entwicklung. Der Vatikan (einzige Religion, welche als Staatsmacht auftreten kann) will nicht, dass Menschen in Eigenverantwortung wählen können, mit welchem Verhütungsmittel sie die Anzahl Nachkommen regeln wollen. Alle modernen Verhütungsmittel inklusive Kondome und Pillen werden von einigen Männern – die theoretisch zölibatär leben – verteufelt. Im Juni 94 kam es in Rom zu einer beachtlichen Konfrontation zwischen dem Stellvertreter Gottes und der päpstlichen Akademie der Wissenschaften. Die Wissenschaftler haben vor der 94er Bevölkerungskonferenz in einem Report unmissverständlich kommuniziert, dass schnelles und entschiedenes Handeln notwendig ist, um irreversible und seriöse Konsequenzen eventuell noch abwenden zu können.
Als George W. Bush an die Macht kam, war eine seiner ersten Amtshandlungen das Einstellen der Gelder an die UNFPA (UNO Weltbevölkerungsfond) mit der Ausrede, die UNFPA unterstütze Zwangsabtreibungen in China. Wegen Bush und Vatikan fand 2004 keine UNO Bevölkerungskonferenz statt, da man die Errungenschaften von Kairo 1994 nicht gefährden wollte.
Mitte März 2010 verkündete der kanadische Aussenminister Cannon, dass beim nächsten G8-Treffen Familienplanung und Verhütung nicht thematisiert werden…

Babybonus im Konjunkturpaket
Wer legal ein Kind adoptieren will, wird von Kopf bis Fuss geprüft. Nicht nur quantitative Bedingungen müssen erfüllt sein, sondern auch qualitative: Um die Lebens-Qualität muss es doch gehen – oder?
«Fate più figli» (Macht mehr Kinder) verlangen katholische Feudalherren immer wieder. Berlusconi unterstützt dieses Anliegen, indem jede Mutter nach der Geburt einen Babybonus von 1000 Euro erhält. CSU-Politiker wollen dies auch in Deutschland einführen. In Frankreich wird vom Kinderbonus im Rahmen von Konjunkturpaketen gesprochen. Präsident Erdogan fordert wiederholt von den Türkischen Ehefrauen mindestens drei Kinder. In fast allen Ländern wird Bevölkerungswachstum als Freudenmeldung kommuniziert. Sicher ist es wichtig, zu merken, dass diese Boni mit den effektiven Kosten der Elternschaft wenig zu tun haben. Interessant ist aber auch, dass sogar Kritiker des Vatikans sich bezüglich der Bevölkerungsentwicklung sowohl aktiv wie passiv im Sinne der Kurie verhalten.

«Begnüge Dich mit zwei Kindern»
Bereits 1971 hat der WWF Schweiz eine Broschüre veröffentlicht mit dem Titel: Die 44 Punkte des Umweltschutzes – Was der Einzelne tun kann, um der Zerstörung unserer Umwelt Einhalt zu gebieten. Die ersten zwei Punkte befassen sich mit der Bevölkerung und dem Wachstum der Wirtschaft. Erster Punkt: «Begnüge dich mit zwei Kindern. Wenn Du unbedingt mehr als zwei haben willst, so adoptiere die weiteren oder nimm Pflegekinder auf.» Es wird klar darauf hingewiesen, dass wir noch entscheiden können, ob wir den Ausgleich durch freiwillige Senkung der Geburtenrate erreichen wollen, oder ob wir mangels Einsicht warten wollen, bis die Natur mit Gewalt die Balance erzwingt. Der damalige WWF hat es noch gewagt, unbequeme Vorschläge zu machen. Heute ist beim WWF davon nichts mehr zu spüren.
Auch die DEZA4 hat damals zum Beispiel in Jiri/Nepal einzig die vom Papst erlaubte «Natürliche Geburtenregelung» in einem «integrierten Projekt» ausprobiert. Da dies nicht funktionierte, wurde kurzerhand Familienplanung als ganzes vom Programm gestrichen! Wer Nepal kennt, weiss, wie viel unnötige Gewalt hätte verhütet werden können – und wer das Bundesgesetz kennt, weiss, dass sich die DEZA für ökologisches und demographisches Gleichgewicht einzusetzen hat.
Hilfs- und Umweltorganisationen – ja sogar Kirchen – reden über Menschenrechte und ignorieren meistens ausgerechnet dasjenige Menschenrecht mit exponentiellem Leidenspotential. Die Umweltorganisationen lieben es, Beispiele wie Masdar City (CO2-Neutrale Stadt für 50'000 Menschen) zu erwähnen… Das Bewusstsein, dass alle 6 Stunden eine Masdar-Stadt fertig gestellt werden müsste – alleine um die neuen Erdenbewohner würdig willkommen zu heissen – fehlt leider. Täglich wächst die Weltbevölkerung um 200'000 Menschen – das entspricht der Bevölkerung von Genf...

2000 Watt Gesellschaft
In der Schweiz wird seit rund 10 Jahren diese ETH-Idee diskutiert: Jeder Mensch, der in der Schweiz lebt, soll im Durchschnitt nicht mehr als 2000 Watt verbrauchen dürfen. Heute ist die Schweiz eine 6000 Watt Gesellschaft!

E = m x c
Der Effekt (E) auf die Natur wird beeinflusst durch die Anzahl Menschen (m) multipliziert mit deren durchschnittlichen Konsumverhalten (c). Als die 2000 Watt Idee lanciert wurde, wohnten in der Schweiz rund 7 Mio. Menschen. Bis im Jahr 2030 werden voraussichtlich 8.3 Mio. Menschen die Schweiz bevölkern. Um die ursprünglichen ETH Ziele auf unserem Stück Erde erreichen zu können, sollten wir 2030 jedoch eine 1700 Watt Gesellschaft sein! Wir müssen also die schädlichen Energieträger um den Faktor 3.5 vermindern. Ohne Gesundschrumpfung geht das garantiert nicht.


Nachhaltige Entwicklung ohne Familienplanung ist eine Illusion
Seit rund 20 Jahren versuche ich mit Menschen, welche sich ökologisch und sozial engagieren, Wege zu entwickeln, um tabuisierte Themen in Lösungsansätzen integrieren zu können. Immer wieder finden Gespräche mit Politiker/innen, Vertreter/innen von Hilfswerken, Unternehmer/innen und Kirchen statt. Die meisten Organisationen wollen mit Familienplanung nichts zu tun haben.
Dank einer Deklaration5 für Entscheidungsträger/innen konnten einige Akteure den Nutzen von präventivem Handeln (HIV; Familienplanung) erfahren: Switcher Zulieferbetriebe in Indien und China integrieren Familienplanung auf würdige Art zusammen mit lokalen Partnern. Das Eisenbahnministerium von Indien hat in Bahnhöfen von Delhi und Mumbai Kondomboxen installiert. In Togo wird im Park Fazao unter anderem das Togolesische Familienplanungsprogramm den Menschen angeboten.
Nationalrätin Dr. Yvonne Gilli hat im 2009 in einer Interpellation verlangt, dass mindestens 10 % der Entwicklungsgelder für reproduktive Gesundheitsprojekte eingesetzt werden müssen. Es geht hier darum, dass alle Menschen tatsächlich wählen können, wann sie wie viele Nachkommen haben möchten.

Die überbevölkerte Schweiz
Auch die Schweiz hat eine zu hohe Bevölkerungsdichte – ohne Ressourcenzufuhr aus dem Ausland ist würdiges Leben hier unmöglich. Wir leben also auf Kosten von anderen Gebieten und Gemeinschaften. Je mehr Ressourcen ein Volk verbraucht, umso effizienter ist der ökologische Effekt von erfolgreicher Familienplanung. Seit 1945 wird jede Sekunde 1 m2 Schweizer Natur in Beton oder Asphalt umgewandelt. Gegenmassnahmen, wie die Landschaftsinitiative geben Hoffnung für mehr Balance: Die Initiative will, dass Bauzonen in den nächsten 20 Jahren nicht vergrössert werden dürfen. Da die Bevölkerung aber wächst, wird der Druck auf Nutzland verschärft. Dies ist eine Chance fürs Bewusstsein bezüglich Menschenzahl/ Ressourcenverbrauch. Momentan steigt die Bevölkerungszahl in der Schweiz um rund 80'000 Menschen pro Jahr. Dies entspricht etwa der Wohnbevölkerung von Luzern. Da 20% des Wachstums auf Geburtenüberschuss beruht, fokussieren fremdenfeindliche Organisationen einseitig auf Ausländer. Ziel muss es aber sein, völker- und menschenrechtsverträgliche Lösungen zu erarbeiten.

Wie können wir uns für Ursachenbehandlungen engagieren?
In letzter Zeit wird wieder vermehrt über Egoismus und Gier philosophiert. Fokussieren Lösungsansätze auf Lebens-Qualität, dann wird klar, dass wir z.B. weniger nehmen müssen, damit andere nicht zur Flucht gezwungen werden. Eine weltweite AHV (Umlageverfahren) oder ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle sind Visionen, die Gewalt reduzieren helfen. Kinder können dann ohne Kinderzulagen würdig aufwachsen und Verhütungsmittel kann man sich auch leisten. Menschen sollen dort leben können, wo sie ihre Wurzeln haben. Wie schön wäre es, die (heute oft korrupte) Entwicklungshilfe reduzieren zu können, indem die von uns provozierte Not abnimmt und die Balance intelligent angepeilt wird...
Weitsichtige Ideen – was getan werden kann, damit Probleme gar nicht erst entstehen – sind dringend gesucht. Danke, wenn Sie mir Ihre Gedanken mitteilen.

Alec Gagneux (Masch.-Ing.) befasst sich seit rund 20 Jahren als selbständiger Entwicklungs-Dialoger für Nachhaltige Entwicklung wie sie 1992 in Rio und 1994 in Kairo definiert wurde. Seine Arbeit umfasst angepasste Solarprojekte (Kochen und Trocknen mit Solarenergie), würdiger Zugang zu Familienplanung und Engagement für weniger Ausbeutung.
Kontakt: www.fairCH.ch



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1 http://www.clipfish.de/video/2186123/gehet-hin-und-vermehret-euch/
2 Wachstum 1.2% heisst dass alle 60 Jahre eine Verdopplung stattfindet – Formel: 70 geteilt durch 1.2 ≈ 60
3 Gemäss Bericht des in New York ansässigen Guttmacher-Instituts (2009)
4 DEZA Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit
5 Kann beim Verfasser bestellt werden.